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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Neues von Anzengruber.

freiem Himmel verehren. Dies sind die merkwürdigen Ideale der Anzengruber-
schen Phantasie, deren pessimistisch herber Grundzug sich bildlich in diesen Ge¬
stalten ausspricht. Ein allzu weiches Gemüt ist untauglich für diese Welt
rücksichtslosen Kampfes. Der Steinklopserhanns hat noch die humoristische
Kraft, unter Menschen zu leben; der Wurzelsevp findet sich erst langsam wieder
durch die erschütternden Erfahrungen am Pfarrer Hell: dessen Charakterfestig¬
keit brachte dem Sepp den Glauben an die Menschheit wieder. Der Einsam
in dem neuesten Stück geht tragisch in seinem Trotz unter. Auch der vom
"G'wisscnswurm" geplagte Bauer Grillhofer gehört in diese Reihe: anch eine
tiefreligiöse Natur, auch ein Mensch, der die Einsamkeit sucht ("Alloau will ich
sein!" ruft er einmal mit packenden Naturlaut). Aber Grillhofer leidet unter
der Hypochondrie des bekümmerten Alters; sein Quälgeist Düsterer -- eine köst¬
liche Figur -- hat nur so lange Macht, als jene Schwermut Grillhofer be¬
herrscht: ein wohl einzig in der Literatur dastehendes Bild, das nur mit
Molieres NiWntnroxs verglichen werden kann. Und der Hauderer im "Doppel¬
selbstmord," der sich in unendlicher Herzensweichheit von einem "Heilands¬
bewußtsein" überraschen läßt, um sich zum Opferlamm der weltklugen Leute
herzugeben, gehört auch in diese Menschenreihe. Für die ganze Art Anzen-
grubers, dieses Leben der Menschen anzuschauen, scheint mir das Geständnis
Grillhofers (im "G'wisscnswurm") sehr bezeichnend: "Sixt, Düsterer, dös is!
Lang net, mer wußt oans in der Höll, is mer so g'straft, als ma weiß oans
af der Welt, dem ma beispnnga möcht, dös vielleicht nach ein'in ruft in Nöten,
in Drangsal, und ein'in menschl, und mer kann net -- weiß koans vom
Andern wo's is!" Das ist die Sprache des praktischen Christentums, die einer
tiefern Menschenliebe entspringt als das zelotische Kirchentum. Grillhofer weiß
sein -- uneheliches -- Kind in der Welt herumlaufen, und nicht die Sünde
im dogmatischen Sinne, sondern diese, wenn man sagen darf, thätige Empfindung
quält ihn. Der Genius der Komödie verhilft ihm zu seinem Kinde, der herr¬
lichen Horlacher-Lies, und Grillhofer ist wieder heil und gesund und schüttelt
den Quälgeist lachend ab. In der Gestalt des Bürgermeisters Eismer in der
neuesten Tragödie tritt dieses Motiv wieder auf. Daß aber Anzengruber im¬
stande ist, diese seine Lieblingshelden auch in andrer als bäuerischer Gestalt,
in einer grundverschiednen Lebensluft darzustellen, beweist -- dies sei beiläufig
bemerkt -- die höchst bemerkenswerte Gestalt des Dr. Knorr in dem übrigens
nicht auf der Höhe seiner Kunst stehenden bürgerlichen Schauspiel "Elfriede."
Ju diesem Stück hat Anzengruber den Versuch gemacht, mit den Franzosen zu
wetteifern. Die moderne Vernunftehe, in der sich erst spät die Gatten zur
Liebe finden, ist hier das dramatische Problem. Der gelehrte Dr. Knorr mit
seiner Vorliebe für die modernen Kanadier -- "Die Wilden sind doch bessere
Menschen," sagte Seume, der Zeitgenosse Rousseaus --, nämlich für das weit
von unserm großstädtischen Leben der Lüge entfernte Hinterindien, der Natur-


Neues von Anzengruber.

freiem Himmel verehren. Dies sind die merkwürdigen Ideale der Anzengruber-
schen Phantasie, deren pessimistisch herber Grundzug sich bildlich in diesen Ge¬
stalten ausspricht. Ein allzu weiches Gemüt ist untauglich für diese Welt
rücksichtslosen Kampfes. Der Steinklopserhanns hat noch die humoristische
Kraft, unter Menschen zu leben; der Wurzelsevp findet sich erst langsam wieder
durch die erschütternden Erfahrungen am Pfarrer Hell: dessen Charakterfestig¬
keit brachte dem Sepp den Glauben an die Menschheit wieder. Der Einsam
in dem neuesten Stück geht tragisch in seinem Trotz unter. Auch der vom
„G'wisscnswurm" geplagte Bauer Grillhofer gehört in diese Reihe: anch eine
tiefreligiöse Natur, auch ein Mensch, der die Einsamkeit sucht („Alloau will ich
sein!" ruft er einmal mit packenden Naturlaut). Aber Grillhofer leidet unter
der Hypochondrie des bekümmerten Alters; sein Quälgeist Düsterer — eine köst¬
liche Figur — hat nur so lange Macht, als jene Schwermut Grillhofer be¬
herrscht: ein wohl einzig in der Literatur dastehendes Bild, das nur mit
Molieres NiWntnroxs verglichen werden kann. Und der Hauderer im „Doppel¬
selbstmord," der sich in unendlicher Herzensweichheit von einem „Heilands¬
bewußtsein" überraschen läßt, um sich zum Opferlamm der weltklugen Leute
herzugeben, gehört auch in diese Menschenreihe. Für die ganze Art Anzen-
grubers, dieses Leben der Menschen anzuschauen, scheint mir das Geständnis
Grillhofers (im „G'wisscnswurm") sehr bezeichnend: „Sixt, Düsterer, dös is!
Lang net, mer wußt oans in der Höll, is mer so g'straft, als ma weiß oans
af der Welt, dem ma beispnnga möcht, dös vielleicht nach ein'in ruft in Nöten,
in Drangsal, und ein'in menschl, und mer kann net — weiß koans vom
Andern wo's is!" Das ist die Sprache des praktischen Christentums, die einer
tiefern Menschenliebe entspringt als das zelotische Kirchentum. Grillhofer weiß
sein — uneheliches — Kind in der Welt herumlaufen, und nicht die Sünde
im dogmatischen Sinne, sondern diese, wenn man sagen darf, thätige Empfindung
quält ihn. Der Genius der Komödie verhilft ihm zu seinem Kinde, der herr¬
lichen Horlacher-Lies, und Grillhofer ist wieder heil und gesund und schüttelt
den Quälgeist lachend ab. In der Gestalt des Bürgermeisters Eismer in der
neuesten Tragödie tritt dieses Motiv wieder auf. Daß aber Anzengruber im¬
stande ist, diese seine Lieblingshelden auch in andrer als bäuerischer Gestalt,
in einer grundverschiednen Lebensluft darzustellen, beweist — dies sei beiläufig
bemerkt — die höchst bemerkenswerte Gestalt des Dr. Knorr in dem übrigens
nicht auf der Höhe seiner Kunst stehenden bürgerlichen Schauspiel „Elfriede."
Ju diesem Stück hat Anzengruber den Versuch gemacht, mit den Franzosen zu
wetteifern. Die moderne Vernunftehe, in der sich erst spät die Gatten zur
Liebe finden, ist hier das dramatische Problem. Der gelehrte Dr. Knorr mit
seiner Vorliebe für die modernen Kanadier — „Die Wilden sind doch bessere
Menschen," sagte Seume, der Zeitgenosse Rousseaus —, nämlich für das weit
von unserm großstädtischen Leben der Lüge entfernte Hinterindien, der Natur-


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[0482] Neues von Anzengruber. freiem Himmel verehren. Dies sind die merkwürdigen Ideale der Anzengruber- schen Phantasie, deren pessimistisch herber Grundzug sich bildlich in diesen Ge¬ stalten ausspricht. Ein allzu weiches Gemüt ist untauglich für diese Welt rücksichtslosen Kampfes. Der Steinklopserhanns hat noch die humoristische Kraft, unter Menschen zu leben; der Wurzelsevp findet sich erst langsam wieder durch die erschütternden Erfahrungen am Pfarrer Hell: dessen Charakterfestig¬ keit brachte dem Sepp den Glauben an die Menschheit wieder. Der Einsam in dem neuesten Stück geht tragisch in seinem Trotz unter. Auch der vom „G'wisscnswurm" geplagte Bauer Grillhofer gehört in diese Reihe: anch eine tiefreligiöse Natur, auch ein Mensch, der die Einsamkeit sucht („Alloau will ich sein!" ruft er einmal mit packenden Naturlaut). Aber Grillhofer leidet unter der Hypochondrie des bekümmerten Alters; sein Quälgeist Düsterer — eine köst¬ liche Figur — hat nur so lange Macht, als jene Schwermut Grillhofer be¬ herrscht: ein wohl einzig in der Literatur dastehendes Bild, das nur mit Molieres NiWntnroxs verglichen werden kann. Und der Hauderer im „Doppel¬ selbstmord," der sich in unendlicher Herzensweichheit von einem „Heilands¬ bewußtsein" überraschen läßt, um sich zum Opferlamm der weltklugen Leute herzugeben, gehört auch in diese Menschenreihe. Für die ganze Art Anzen- grubers, dieses Leben der Menschen anzuschauen, scheint mir das Geständnis Grillhofers (im „G'wisscnswurm") sehr bezeichnend: „Sixt, Düsterer, dös is! Lang net, mer wußt oans in der Höll, is mer so g'straft, als ma weiß oans af der Welt, dem ma beispnnga möcht, dös vielleicht nach ein'in ruft in Nöten, in Drangsal, und ein'in menschl, und mer kann net — weiß koans vom Andern wo's is!" Das ist die Sprache des praktischen Christentums, die einer tiefern Menschenliebe entspringt als das zelotische Kirchentum. Grillhofer weiß sein — uneheliches — Kind in der Welt herumlaufen, und nicht die Sünde im dogmatischen Sinne, sondern diese, wenn man sagen darf, thätige Empfindung quält ihn. Der Genius der Komödie verhilft ihm zu seinem Kinde, der herr¬ lichen Horlacher-Lies, und Grillhofer ist wieder heil und gesund und schüttelt den Quälgeist lachend ab. In der Gestalt des Bürgermeisters Eismer in der neuesten Tragödie tritt dieses Motiv wieder auf. Daß aber Anzengruber im¬ stande ist, diese seine Lieblingshelden auch in andrer als bäuerischer Gestalt, in einer grundverschiednen Lebensluft darzustellen, beweist — dies sei beiläufig bemerkt — die höchst bemerkenswerte Gestalt des Dr. Knorr in dem übrigens nicht auf der Höhe seiner Kunst stehenden bürgerlichen Schauspiel „Elfriede." Ju diesem Stück hat Anzengruber den Versuch gemacht, mit den Franzosen zu wetteifern. Die moderne Vernunftehe, in der sich erst spät die Gatten zur Liebe finden, ist hier das dramatische Problem. Der gelehrte Dr. Knorr mit seiner Vorliebe für die modernen Kanadier — „Die Wilden sind doch bessere Menschen," sagte Seume, der Zeitgenosse Rousseaus —, nämlich für das weit von unserm großstädtischen Leben der Lüge entfernte Hinterindien, der Natur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/482>, abgerufen am 17.09.2024.