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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zugenderinnerungen.

an den Fuß der Oberlcmsitzer Berge heran, ja übersprudelte diese sogar an
mehreren Stellen. So stieß man z. B. schon zwischen Herrnhut und Löbau
auf Ortschaften, in denen ebenso viel Wendisch als Deutsch gesprochen wurde
und beim Tanz in der Dorfschenke (dem Kretscham) neben der deutschen Fiedel
und Klarinette die wendische Taracawa und der quälende Dudelsack zu hören
waren.

Zwischen Löbau und Bautzen dürfte noch heute der wendische Volksstcimm
dem deutschen vollständig die Wage halten. Überall hört man Begegnende nur
Wendisch sprechen, wenn sie auch der deutschen Sprache vollkommen mächtig
sind, da der Schulunterricht meines Wissens ausschließlich in deutscher Sprache
erteilt wird. In Bautzen wird eine ganze Vorstadt (Saida) ausschließlich von
Wenden bewohnt, wie ihnen denn auch eine eigne Kirche zugewiesen ist.

Unser Weg nach Lohsa führte über Bautzen großenteils durch wendische
Dörfer. Wir hatten uns diesmal alle zusammen aufgemacht, um die fern¬
lebenden Verwandten, mit denen wir Kinder nur ein einziges mal bei den
Großeltern in Zittau flüchtig zusammengetroffen waren, in ihrer Häuslichkeit
zu begrüßen.

Auch dieser weitere Ausflug war eine Reise mit Hindernissen. Zittau und
Bautzen waren allerdings durch eine Heerstraße unter einander verbunden, doch
hatte auch diese von Frachtfuhrwerk sehr stark befahrene Straße stundenlange
Strecken aufzuweisen, die kaum zu befahren waren. Schlimmer noch gestalteten
sich die Wege hinter Bautzen. Bald hörte die Landstraße ganz auf oder zersplitterte
sich vielmehr in eine Menge neben einander herlaufender, fußticfer Geleise, in denen
sich auch die leichtesten Wagen nur schrittweise vorwärts bewegen konnten.

Um mit unsrer wackligen Prachtequipage unterwegs nicht etwa schmählich
Schiffbruch zu leiden, war vom Vater ein Korbwagen, überspannt mit grau¬
leinener Plane, irgendwo aufgetrieben worden, und einer unsrer Bauern gab
sein bestes Gespann und sich selbst als Kutscher zur Reise "ins Wendische" her.
Die Eltern, mein Bruder und ich nebst noch zwei jüngern Geschwistern schach¬
telten uns in dem sehr unbequemen Gefährt ein, so gut es ging, und sahen nun
erwartungsvoll den Dingen entgegen, die da kommen sollten.

Als wir in die eigentliche Haide eintraten, sahen wir nur kreuz und quer
von zahllosen Geleisen durchwühlten Sand vor uns. Diese sogenannten Wege
liefen nach allen Richtungen zwischen den bräunlich-roten Stämmen der Kiefern
fort, und es blieb nahezu dem Zufall überlassen, ob einer derselben uns nach
Lohsa führen würde. Ob auf Umwegen oder auf der geradesten Straße die
endlose Haide durchschnitten wurde, kann ich nicht sagen; gleichviel, wir er¬
reichten endlich das im tiefsten Walde eingebettete Haidedorf mit seinen dürf¬
tigen, wenig anziehenden, niedrigen, strohbedeckten Häusern und der unansehn¬
lichen Kirche, gegen welche unser stattliches Gotteshaus ein Dom war. Nur
das im Schutz rauschender Bäume friedlich gelegene Pfarrhaus, das ein enge-


Zugenderinnerungen.

an den Fuß der Oberlcmsitzer Berge heran, ja übersprudelte diese sogar an
mehreren Stellen. So stieß man z. B. schon zwischen Herrnhut und Löbau
auf Ortschaften, in denen ebenso viel Wendisch als Deutsch gesprochen wurde
und beim Tanz in der Dorfschenke (dem Kretscham) neben der deutschen Fiedel
und Klarinette die wendische Taracawa und der quälende Dudelsack zu hören
waren.

Zwischen Löbau und Bautzen dürfte noch heute der wendische Volksstcimm
dem deutschen vollständig die Wage halten. Überall hört man Begegnende nur
Wendisch sprechen, wenn sie auch der deutschen Sprache vollkommen mächtig
sind, da der Schulunterricht meines Wissens ausschließlich in deutscher Sprache
erteilt wird. In Bautzen wird eine ganze Vorstadt (Saida) ausschließlich von
Wenden bewohnt, wie ihnen denn auch eine eigne Kirche zugewiesen ist.

Unser Weg nach Lohsa führte über Bautzen großenteils durch wendische
Dörfer. Wir hatten uns diesmal alle zusammen aufgemacht, um die fern¬
lebenden Verwandten, mit denen wir Kinder nur ein einziges mal bei den
Großeltern in Zittau flüchtig zusammengetroffen waren, in ihrer Häuslichkeit
zu begrüßen.

Auch dieser weitere Ausflug war eine Reise mit Hindernissen. Zittau und
Bautzen waren allerdings durch eine Heerstraße unter einander verbunden, doch
hatte auch diese von Frachtfuhrwerk sehr stark befahrene Straße stundenlange
Strecken aufzuweisen, die kaum zu befahren waren. Schlimmer noch gestalteten
sich die Wege hinter Bautzen. Bald hörte die Landstraße ganz auf oder zersplitterte
sich vielmehr in eine Menge neben einander herlaufender, fußticfer Geleise, in denen
sich auch die leichtesten Wagen nur schrittweise vorwärts bewegen konnten.

Um mit unsrer wackligen Prachtequipage unterwegs nicht etwa schmählich
Schiffbruch zu leiden, war vom Vater ein Korbwagen, überspannt mit grau¬
leinener Plane, irgendwo aufgetrieben worden, und einer unsrer Bauern gab
sein bestes Gespann und sich selbst als Kutscher zur Reise „ins Wendische" her.
Die Eltern, mein Bruder und ich nebst noch zwei jüngern Geschwistern schach¬
telten uns in dem sehr unbequemen Gefährt ein, so gut es ging, und sahen nun
erwartungsvoll den Dingen entgegen, die da kommen sollten.

Als wir in die eigentliche Haide eintraten, sahen wir nur kreuz und quer
von zahllosen Geleisen durchwühlten Sand vor uns. Diese sogenannten Wege
liefen nach allen Richtungen zwischen den bräunlich-roten Stämmen der Kiefern
fort, und es blieb nahezu dem Zufall überlassen, ob einer derselben uns nach
Lohsa führen würde. Ob auf Umwegen oder auf der geradesten Straße die
endlose Haide durchschnitten wurde, kann ich nicht sagen; gleichviel, wir er¬
reichten endlich das im tiefsten Walde eingebettete Haidedorf mit seinen dürf¬
tigen, wenig anziehenden, niedrigen, strohbedeckten Häusern und der unansehn¬
lichen Kirche, gegen welche unser stattliches Gotteshaus ein Dom war. Nur
das im Schutz rauschender Bäume friedlich gelegene Pfarrhaus, das ein enge-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/48>, abgerufen am 17.09.2024.