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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Das britische Weltreich und seine Aussichten.

um rund 600 Millionen Mark, und zu gleicher Zeit fand, wie aus den Blau-
büchern des Parlaments zu ersehen ist, ein sehr bedeutender Rückgang in der
Eisen- und Textilindustrie wie in der Landwirtschaft statt. Wie das politische
Ansehen Großbritanniens unter Gladstone gelitten hat, ist von uns wiederholt
und, wie wir denken, überzeugend dargethan worden, und in den folgenden Auf¬
sätzen werden wir unter Anleitung von Sachverständigen, untersuchen, wie weit
seine militärischen Einrichtungen ihm für die Zukunft Sicherheit seines Lcindcr-
besitzes, seines Einflusses und seiner Macht verbürgen. Wir werden dabei auch
die Frage zu erörtern haben, ob das britische Weltreich wirklich, wie seine
Zeitungsschreiber behaupten, sich so fest auf seine "Hunderttausende bewaffneter
Bürger," will sagen auf seine Freiwilligen verlassen kann, daß es sich mit
einer kleinen gewordenen Armee begnügen und von der "verhaßten Konskription"
auch weiterhin absehen darf.

Wir folgen bei unsrer ferneren Betrachtung zunächst der vor kurzem er¬
schienenen Schrift: "Die Weltstellung Englands militärisch-politisch beleuchtet
Von Otto Wachs, königl. preußischem Major ni. D. Mit 7 Karten." (Kassel,
Th. Fischer.) Der Stil des Verfassers ist für unsern Geschmack hin und wieder
ein wenig zu blühend, auch hätte sich vieles von seinen Betrachtungen ohne
Schaden kürzer sagen lassen; was er aber sagt, besonders wo er als Soldat
schildert und urteilt, ist lehrreich und beherzigenswert, weshalb wir die Arbeit,
von der hier nur die Hauptsachen im Auszuge mitgeteilt werden, dem Studium
der Leser dieser Blätter bestens empfehlen.

Die gewaltige Ausdehnung des britischen Reiches imponirt zwar, schwächt
aber das Reich für die Verteidigung; es ist IsnZtli vitnmit strsoMr, es umspannt
die Welt mehr, als es ihr gebietet. Vergleichen wir es mit einem Gewebe, so
büßten seine Fäden in dem Maße an Festigkeit und Dichtheit ein, als es sich
weiter ausspannte. Erscheint es uns als organischer Körper, so sehen wir die
Kraft des Zentralorgans sich mit jedem neuen Gliede schwächen, das dieser an¬
setzte und dem das Herz oder Hirn Leben mitzuteilen hatte. Dazu kam, daß
sich in den letzten Jahrzehnten bei den Nachbarn sowohl als innerhalb großer
Kreise des Bereichs der britischen Erwerbungen mehr und mehr die Erkenntnis
verbreitete, welche einst ein französischer Schriftsteller mit den Worten aus¬
drückte, die britische Großmacht sei "ein Polyp mit einem Zwergenleibe und
riesigen Fangcmnen, mit denen er den Erdball einschnüre, um ihn aufzusaugen,"
und daß sich mit dieser Erkenntnis das Bewußtsein verband, man brauche diese
Rolle nicht länger zu dulden. Es verfängt nicht mehr, wenn der Polyp mit
der Heuchelei, die ihm nicht bloß in politischen Dingen zur zweiten Natur ge¬
worden ist, der Welt versichert, er sei ein Segen für sie; denn sein Weiter¬
greifen beabsichtige nur Verbreitung der Gesittung, des Christentums und der
Freiheit. Man ist durch die Erfahrung belehrt, daß sich hinter diesem Vor¬
geben nnr die eigentliche Haupttriebkraft, rücksichtslosester Eigennutz, verbirgt,


Das britische Weltreich und seine Aussichten.

um rund 600 Millionen Mark, und zu gleicher Zeit fand, wie aus den Blau-
büchern des Parlaments zu ersehen ist, ein sehr bedeutender Rückgang in der
Eisen- und Textilindustrie wie in der Landwirtschaft statt. Wie das politische
Ansehen Großbritanniens unter Gladstone gelitten hat, ist von uns wiederholt
und, wie wir denken, überzeugend dargethan worden, und in den folgenden Auf¬
sätzen werden wir unter Anleitung von Sachverständigen, untersuchen, wie weit
seine militärischen Einrichtungen ihm für die Zukunft Sicherheit seines Lcindcr-
besitzes, seines Einflusses und seiner Macht verbürgen. Wir werden dabei auch
die Frage zu erörtern haben, ob das britische Weltreich wirklich, wie seine
Zeitungsschreiber behaupten, sich so fest auf seine „Hunderttausende bewaffneter
Bürger," will sagen auf seine Freiwilligen verlassen kann, daß es sich mit
einer kleinen gewordenen Armee begnügen und von der „verhaßten Konskription"
auch weiterhin absehen darf.

Wir folgen bei unsrer ferneren Betrachtung zunächst der vor kurzem er¬
schienenen Schrift: „Die Weltstellung Englands militärisch-politisch beleuchtet
Von Otto Wachs, königl. preußischem Major ni. D. Mit 7 Karten." (Kassel,
Th. Fischer.) Der Stil des Verfassers ist für unsern Geschmack hin und wieder
ein wenig zu blühend, auch hätte sich vieles von seinen Betrachtungen ohne
Schaden kürzer sagen lassen; was er aber sagt, besonders wo er als Soldat
schildert und urteilt, ist lehrreich und beherzigenswert, weshalb wir die Arbeit,
von der hier nur die Hauptsachen im Auszuge mitgeteilt werden, dem Studium
der Leser dieser Blätter bestens empfehlen.

Die gewaltige Ausdehnung des britischen Reiches imponirt zwar, schwächt
aber das Reich für die Verteidigung; es ist IsnZtli vitnmit strsoMr, es umspannt
die Welt mehr, als es ihr gebietet. Vergleichen wir es mit einem Gewebe, so
büßten seine Fäden in dem Maße an Festigkeit und Dichtheit ein, als es sich
weiter ausspannte. Erscheint es uns als organischer Körper, so sehen wir die
Kraft des Zentralorgans sich mit jedem neuen Gliede schwächen, das dieser an¬
setzte und dem das Herz oder Hirn Leben mitzuteilen hatte. Dazu kam, daß
sich in den letzten Jahrzehnten bei den Nachbarn sowohl als innerhalb großer
Kreise des Bereichs der britischen Erwerbungen mehr und mehr die Erkenntnis
verbreitete, welche einst ein französischer Schriftsteller mit den Worten aus¬
drückte, die britische Großmacht sei „ein Polyp mit einem Zwergenleibe und
riesigen Fangcmnen, mit denen er den Erdball einschnüre, um ihn aufzusaugen,"
und daß sich mit dieser Erkenntnis das Bewußtsein verband, man brauche diese
Rolle nicht länger zu dulden. Es verfängt nicht mehr, wenn der Polyp mit
der Heuchelei, die ihm nicht bloß in politischen Dingen zur zweiten Natur ge¬
worden ist, der Welt versichert, er sei ein Segen für sie; denn sein Weiter¬
greifen beabsichtige nur Verbreitung der Gesittung, des Christentums und der
Freiheit. Man ist durch die Erfahrung belehrt, daß sich hinter diesem Vor¬
geben nnr die eigentliche Haupttriebkraft, rücksichtslosester Eigennutz, verbirgt,


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[0459] Das britische Weltreich und seine Aussichten. um rund 600 Millionen Mark, und zu gleicher Zeit fand, wie aus den Blau- büchern des Parlaments zu ersehen ist, ein sehr bedeutender Rückgang in der Eisen- und Textilindustrie wie in der Landwirtschaft statt. Wie das politische Ansehen Großbritanniens unter Gladstone gelitten hat, ist von uns wiederholt und, wie wir denken, überzeugend dargethan worden, und in den folgenden Auf¬ sätzen werden wir unter Anleitung von Sachverständigen, untersuchen, wie weit seine militärischen Einrichtungen ihm für die Zukunft Sicherheit seines Lcindcr- besitzes, seines Einflusses und seiner Macht verbürgen. Wir werden dabei auch die Frage zu erörtern haben, ob das britische Weltreich wirklich, wie seine Zeitungsschreiber behaupten, sich so fest auf seine „Hunderttausende bewaffneter Bürger," will sagen auf seine Freiwilligen verlassen kann, daß es sich mit einer kleinen gewordenen Armee begnügen und von der „verhaßten Konskription" auch weiterhin absehen darf. Wir folgen bei unsrer ferneren Betrachtung zunächst der vor kurzem er¬ schienenen Schrift: „Die Weltstellung Englands militärisch-politisch beleuchtet Von Otto Wachs, königl. preußischem Major ni. D. Mit 7 Karten." (Kassel, Th. Fischer.) Der Stil des Verfassers ist für unsern Geschmack hin und wieder ein wenig zu blühend, auch hätte sich vieles von seinen Betrachtungen ohne Schaden kürzer sagen lassen; was er aber sagt, besonders wo er als Soldat schildert und urteilt, ist lehrreich und beherzigenswert, weshalb wir die Arbeit, von der hier nur die Hauptsachen im Auszuge mitgeteilt werden, dem Studium der Leser dieser Blätter bestens empfehlen. Die gewaltige Ausdehnung des britischen Reiches imponirt zwar, schwächt aber das Reich für die Verteidigung; es ist IsnZtli vitnmit strsoMr, es umspannt die Welt mehr, als es ihr gebietet. Vergleichen wir es mit einem Gewebe, so büßten seine Fäden in dem Maße an Festigkeit und Dichtheit ein, als es sich weiter ausspannte. Erscheint es uns als organischer Körper, so sehen wir die Kraft des Zentralorgans sich mit jedem neuen Gliede schwächen, das dieser an¬ setzte und dem das Herz oder Hirn Leben mitzuteilen hatte. Dazu kam, daß sich in den letzten Jahrzehnten bei den Nachbarn sowohl als innerhalb großer Kreise des Bereichs der britischen Erwerbungen mehr und mehr die Erkenntnis verbreitete, welche einst ein französischer Schriftsteller mit den Worten aus¬ drückte, die britische Großmacht sei „ein Polyp mit einem Zwergenleibe und riesigen Fangcmnen, mit denen er den Erdball einschnüre, um ihn aufzusaugen," und daß sich mit dieser Erkenntnis das Bewußtsein verband, man brauche diese Rolle nicht länger zu dulden. Es verfängt nicht mehr, wenn der Polyp mit der Heuchelei, die ihm nicht bloß in politischen Dingen zur zweiten Natur ge¬ worden ist, der Welt versichert, er sei ein Segen für sie; denn sein Weiter¬ greifen beabsichtige nur Verbreitung der Gesittung, des Christentums und der Freiheit. Man ist durch die Erfahrung belehrt, daß sich hinter diesem Vor¬ geben nnr die eigentliche Haupttriebkraft, rücksichtslosester Eigennutz, verbirgt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/459>, abgerufen am 17.09.2024.