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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Das britische Weltreich und seine Aussichten.

der britischen Waffen. Mit ihrer Flotte, deren Holzschiffe sich in gewaltige
Panzerkvlosse, ausgerüstet mit allen Erfindungen der Seefahrt und des Geschütz¬
wesens, verwandelt haben, beherrscht sie die Ozeane bis zu den fernsten Inseln.
Wo Landengen zu durchbrechen waren, um getrennte Meere zu verbinden und
der Schifffahrt Umwege zu ersparen, fiel der Vorteil vorzüglich dem englischen
Kauffahrer zu. Wo Goldfelder gefunden wurden, floß die Ausbeute zum größten
Teile zuletzt in die Banken und in den Staatsschatz Englands. Sieben Zehntel
der Güterverschiffung der Welt werden von britischen Fahrzeugen und Seeleuten
besorgt u. s. w. Alles das in prächtigen Bildern, mit glühenden Farben, in
hoch sich aufbäumenden Superlativen geschildert, alles Licht, kein Schatten, alles
nicht bloß ein Ruhmeskranz für das stolze Albion, sondern zugleich eine Wohl¬
that für das ganze Menschengeschlecht. Leider verträgt das Bild die Kritik
nicht allenthalben. Zunächst ist dabei vergessen, daß in den letzten fünfzig
Jahren auch andre Staaten und Völker Fortschritte gemacht haben, daß diese
Fortschritte den englischen in vielen Beziehungen gleichkommen, in manchen
größer und wertvoller sind, und daß die Siege der britischen Waffen in der Regie¬
rungszeit der Königin Viktoria, mit Ausnahme des Krimkrieges, wo übrigens die
Franzosen das beste thaten, nur über Wilde und Halbbarbaren erfochten wurden.
Dann ist übersehen, daß die Medaille ihre Kehrseite hat, welche nicht so eitel
Glanz zeigt wie die andre. Wir erinnern zuvörderst an die Demokratisirung
Englands, die in dieser Zeit begonnen und rasch und unaufhaltsam sich über
weite Kreise ausgebreitet hat, an die Unterwühlung der Pfeiler des Staats-
gebäudes, an die heillose Zersetzung der alten Parteien und an die Gefahr für
das Reich, welche von Irland und Amerika her droht. Wie der frühere Schatz¬
kanzler Harcourt vor einigen Wochen in einer Volksversammlung zu Schoreditch
sagte, sind während der funfzigjährigen Regierung der Königin 1^ Million
Isländer Hungers gestorben, während 3 600 000 wegen versäumter Zahlung
ihres Pachts von den Gutsherren aus Haus und Hof vertrieben wurden und
4186000 nach den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien auswanderten.
Gewiß bleibt dem Briten bei alledem noch viel Recht und Grund, stolz zu sein.
In dem Garten der Ackerbaugesellschaft zu Kensington ist ihm eine Rundschau
über das ungeheure Kolonialreich eröffnet, über welches seine Königin gebietet.
Das Hauptportal trägt in goldnen Buchstabe" die Inschrift: "Britisches Reich.
Flächeninhalt 9126 000 Quadratmeilen, Bevölkerung 305 378 000." Nach
Dudley, Baxter und Giffvn belief sich das Vvltsvermögen des Vereinigter
Königreichs 1864/65 auf 6113 Millionen, 1884/85 aber auf 9103 Millionen
Pfund Sterling, während auf Preußen nach Soetbeer nur 8070 Millionen Mark
kommen. Seit 1800 hat sich das Vermögen Englands mehr als verfünffacht.
Von dem gesamten Welthandel kamen 1855 nicht weniger als 31 und 1875
sogar 40 Prozent auf englische Rechnung. Indes hat dieser Anteil seitdem
merklich abgenommen, und zwar zuletzt, in den Jahren von 1882 bis 1884,


Das britische Weltreich und seine Aussichten.

der britischen Waffen. Mit ihrer Flotte, deren Holzschiffe sich in gewaltige
Panzerkvlosse, ausgerüstet mit allen Erfindungen der Seefahrt und des Geschütz¬
wesens, verwandelt haben, beherrscht sie die Ozeane bis zu den fernsten Inseln.
Wo Landengen zu durchbrechen waren, um getrennte Meere zu verbinden und
der Schifffahrt Umwege zu ersparen, fiel der Vorteil vorzüglich dem englischen
Kauffahrer zu. Wo Goldfelder gefunden wurden, floß die Ausbeute zum größten
Teile zuletzt in die Banken und in den Staatsschatz Englands. Sieben Zehntel
der Güterverschiffung der Welt werden von britischen Fahrzeugen und Seeleuten
besorgt u. s. w. Alles das in prächtigen Bildern, mit glühenden Farben, in
hoch sich aufbäumenden Superlativen geschildert, alles Licht, kein Schatten, alles
nicht bloß ein Ruhmeskranz für das stolze Albion, sondern zugleich eine Wohl¬
that für das ganze Menschengeschlecht. Leider verträgt das Bild die Kritik
nicht allenthalben. Zunächst ist dabei vergessen, daß in den letzten fünfzig
Jahren auch andre Staaten und Völker Fortschritte gemacht haben, daß diese
Fortschritte den englischen in vielen Beziehungen gleichkommen, in manchen
größer und wertvoller sind, und daß die Siege der britischen Waffen in der Regie¬
rungszeit der Königin Viktoria, mit Ausnahme des Krimkrieges, wo übrigens die
Franzosen das beste thaten, nur über Wilde und Halbbarbaren erfochten wurden.
Dann ist übersehen, daß die Medaille ihre Kehrseite hat, welche nicht so eitel
Glanz zeigt wie die andre. Wir erinnern zuvörderst an die Demokratisirung
Englands, die in dieser Zeit begonnen und rasch und unaufhaltsam sich über
weite Kreise ausgebreitet hat, an die Unterwühlung der Pfeiler des Staats-
gebäudes, an die heillose Zersetzung der alten Parteien und an die Gefahr für
das Reich, welche von Irland und Amerika her droht. Wie der frühere Schatz¬
kanzler Harcourt vor einigen Wochen in einer Volksversammlung zu Schoreditch
sagte, sind während der funfzigjährigen Regierung der Königin 1^ Million
Isländer Hungers gestorben, während 3 600 000 wegen versäumter Zahlung
ihres Pachts von den Gutsherren aus Haus und Hof vertrieben wurden und
4186000 nach den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien auswanderten.
Gewiß bleibt dem Briten bei alledem noch viel Recht und Grund, stolz zu sein.
In dem Garten der Ackerbaugesellschaft zu Kensington ist ihm eine Rundschau
über das ungeheure Kolonialreich eröffnet, über welches seine Königin gebietet.
Das Hauptportal trägt in goldnen Buchstabe» die Inschrift: „Britisches Reich.
Flächeninhalt 9126 000 Quadratmeilen, Bevölkerung 305 378 000." Nach
Dudley, Baxter und Giffvn belief sich das Vvltsvermögen des Vereinigter
Königreichs 1864/65 auf 6113 Millionen, 1884/85 aber auf 9103 Millionen
Pfund Sterling, während auf Preußen nach Soetbeer nur 8070 Millionen Mark
kommen. Seit 1800 hat sich das Vermögen Englands mehr als verfünffacht.
Von dem gesamten Welthandel kamen 1855 nicht weniger als 31 und 1875
sogar 40 Prozent auf englische Rechnung. Indes hat dieser Anteil seitdem
merklich abgenommen, und zwar zuletzt, in den Jahren von 1882 bis 1884,


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[0458] Das britische Weltreich und seine Aussichten. der britischen Waffen. Mit ihrer Flotte, deren Holzschiffe sich in gewaltige Panzerkvlosse, ausgerüstet mit allen Erfindungen der Seefahrt und des Geschütz¬ wesens, verwandelt haben, beherrscht sie die Ozeane bis zu den fernsten Inseln. Wo Landengen zu durchbrechen waren, um getrennte Meere zu verbinden und der Schifffahrt Umwege zu ersparen, fiel der Vorteil vorzüglich dem englischen Kauffahrer zu. Wo Goldfelder gefunden wurden, floß die Ausbeute zum größten Teile zuletzt in die Banken und in den Staatsschatz Englands. Sieben Zehntel der Güterverschiffung der Welt werden von britischen Fahrzeugen und Seeleuten besorgt u. s. w. Alles das in prächtigen Bildern, mit glühenden Farben, in hoch sich aufbäumenden Superlativen geschildert, alles Licht, kein Schatten, alles nicht bloß ein Ruhmeskranz für das stolze Albion, sondern zugleich eine Wohl¬ that für das ganze Menschengeschlecht. Leider verträgt das Bild die Kritik nicht allenthalben. Zunächst ist dabei vergessen, daß in den letzten fünfzig Jahren auch andre Staaten und Völker Fortschritte gemacht haben, daß diese Fortschritte den englischen in vielen Beziehungen gleichkommen, in manchen größer und wertvoller sind, und daß die Siege der britischen Waffen in der Regie¬ rungszeit der Königin Viktoria, mit Ausnahme des Krimkrieges, wo übrigens die Franzosen das beste thaten, nur über Wilde und Halbbarbaren erfochten wurden. Dann ist übersehen, daß die Medaille ihre Kehrseite hat, welche nicht so eitel Glanz zeigt wie die andre. Wir erinnern zuvörderst an die Demokratisirung Englands, die in dieser Zeit begonnen und rasch und unaufhaltsam sich über weite Kreise ausgebreitet hat, an die Unterwühlung der Pfeiler des Staats- gebäudes, an die heillose Zersetzung der alten Parteien und an die Gefahr für das Reich, welche von Irland und Amerika her droht. Wie der frühere Schatz¬ kanzler Harcourt vor einigen Wochen in einer Volksversammlung zu Schoreditch sagte, sind während der funfzigjährigen Regierung der Königin 1^ Million Isländer Hungers gestorben, während 3 600 000 wegen versäumter Zahlung ihres Pachts von den Gutsherren aus Haus und Hof vertrieben wurden und 4186000 nach den Vereinigten Staaten, Kanada und Australien auswanderten. Gewiß bleibt dem Briten bei alledem noch viel Recht und Grund, stolz zu sein. In dem Garten der Ackerbaugesellschaft zu Kensington ist ihm eine Rundschau über das ungeheure Kolonialreich eröffnet, über welches seine Königin gebietet. Das Hauptportal trägt in goldnen Buchstabe» die Inschrift: „Britisches Reich. Flächeninhalt 9126 000 Quadratmeilen, Bevölkerung 305 378 000." Nach Dudley, Baxter und Giffvn belief sich das Vvltsvermögen des Vereinigter Königreichs 1864/65 auf 6113 Millionen, 1884/85 aber auf 9103 Millionen Pfund Sterling, während auf Preußen nach Soetbeer nur 8070 Millionen Mark kommen. Seit 1800 hat sich das Vermögen Englands mehr als verfünffacht. Von dem gesamten Welthandel kamen 1855 nicht weniger als 31 und 1875 sogar 40 Prozent auf englische Rechnung. Indes hat dieser Anteil seitdem merklich abgenommen, und zwar zuletzt, in den Jahren von 1882 bis 1884,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/458>, abgerufen am 17.09.2024.