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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Tonleiter im Musikunterricht.

natürliche, jedem angeborne Gefühl (ich möchte sagen Gefühlsbewußtsein) für die
einfachen Grundgesetze des Tonlebens, welches aus seinem schlummernden Zu¬
stande wach zu rufen die Aufgabe des Unterrichts ist, die Hauptaufgabe,
meine ich, der alles überlieferte Gelehrte im Musilwescn sich unterzuordnen hätte,
wird damit gleich zuerst schwer beschädigt, erhält durch den Lehrer einen Bruch,
einen Knick gleichsam, wie eine Pflanze, die eben aus dem Boden aufbrechen
will und vom Gärtner selbst geknickt wird. Ist das zu verantworten?

Es giebt aber eine naheliegende Abhilfe, womit die Tonleiter in ihrem
Aufsteigen klar herausgestellt und zugleich zu einem wirklichen rhythmisch-melo¬
dischen Tongange gestaltet werden kann, ein Tongang, in dem ich mir sie selbst
schon lange unwillkürlich gleichsam still in mir vorsage, wenn die müßigen Ge¬
danken einmal darauf verfallen, besonders beim Gehen, das dadurch, wenn man
sonst nichts zu denken hat, zu einem rhythmischen Genuß wird. Nämlich so:



Damit erhält der Tonraum und Tongehalt der Oktave seine von Natur ihm
innewohnende Gliederung in seinen drei Abstufungen übereinander; die drei
Stufen oder Knotcnstellen der Glieder (wenn man sich's als Pflanze denkt)
werden zugleich für Ohr und Sinn hervorgehoben und genau bezeichnet, indem
die da sitzenden Töne doppelt auftreten, einmal als Schluß des vorigen, einmal
als Ansatz des neuen Gliedes, so wie ja auch der Grundton doppelt auftritt,
als Ansatz und Abschluß, der Abschluß aber, wenn man weiter steigt, zugleich
zu wiederholen als Ansatz einer neuen, der höher steigenden Oktave. Kurz, das
Ganze giebt so dein Schüler zugleich die einfachsten Grundzüge, den Urrahmen
gleichsam aller melodischen Tonbcwegung an die Hand oder ins Ohr, die Ton¬
leiter wird aus einem rhythmisch-melodisch erbärmlichen Nichts zu einer Me¬
lodie, ich möchte sage" zur einfachsten Urmelodie.

Auch das zweite o, das dort in nichts fällt, erhält hier seine über das
erste v erhöhte Geltung zur Genüge, denn es tritt in den Eingang eines ganzen
Taktes und kann auf dem Klavier oder im innern Ohr ausklingen nach Be¬
lieben oder melodischem Bedarf.

So könnte oder kann gleich der erste Schritt des Schülers in das Wunder¬
reich der Töne zu einem Schritt auch in das Reich der da geltenden Grund¬
oder Urgesetzc werden, statt diese gleich zuerst dem Schüler erbärmlich über den
Häuser geworfen zu zeigen, wie die gewöhnliche Tonleiter thut. Gleich die erste
Unterrichtsstunde gönnte dann dem Schüler einen staunend ahnenden Blick von
fern in die Welt der Harmonielehre, am leichtesten eigentlich, wenn dabei die
alte Tonleiter und diese melodisch gegliederte neben einander benutzt würden in
vergleichender Behandlung; an dieser Vergleichung gerade müßte beim Schüler


Grenzboten II. 1887. 55
Die Tonleiter im Musikunterricht.

natürliche, jedem angeborne Gefühl (ich möchte sagen Gefühlsbewußtsein) für die
einfachen Grundgesetze des Tonlebens, welches aus seinem schlummernden Zu¬
stande wach zu rufen die Aufgabe des Unterrichts ist, die Hauptaufgabe,
meine ich, der alles überlieferte Gelehrte im Musilwescn sich unterzuordnen hätte,
wird damit gleich zuerst schwer beschädigt, erhält durch den Lehrer einen Bruch,
einen Knick gleichsam, wie eine Pflanze, die eben aus dem Boden aufbrechen
will und vom Gärtner selbst geknickt wird. Ist das zu verantworten?

Es giebt aber eine naheliegende Abhilfe, womit die Tonleiter in ihrem
Aufsteigen klar herausgestellt und zugleich zu einem wirklichen rhythmisch-melo¬
dischen Tongange gestaltet werden kann, ein Tongang, in dem ich mir sie selbst
schon lange unwillkürlich gleichsam still in mir vorsage, wenn die müßigen Ge¬
danken einmal darauf verfallen, besonders beim Gehen, das dadurch, wenn man
sonst nichts zu denken hat, zu einem rhythmischen Genuß wird. Nämlich so:



Damit erhält der Tonraum und Tongehalt der Oktave seine von Natur ihm
innewohnende Gliederung in seinen drei Abstufungen übereinander; die drei
Stufen oder Knotcnstellen der Glieder (wenn man sich's als Pflanze denkt)
werden zugleich für Ohr und Sinn hervorgehoben und genau bezeichnet, indem
die da sitzenden Töne doppelt auftreten, einmal als Schluß des vorigen, einmal
als Ansatz des neuen Gliedes, so wie ja auch der Grundton doppelt auftritt,
als Ansatz und Abschluß, der Abschluß aber, wenn man weiter steigt, zugleich
zu wiederholen als Ansatz einer neuen, der höher steigenden Oktave. Kurz, das
Ganze giebt so dein Schüler zugleich die einfachsten Grundzüge, den Urrahmen
gleichsam aller melodischen Tonbcwegung an die Hand oder ins Ohr, die Ton¬
leiter wird aus einem rhythmisch-melodisch erbärmlichen Nichts zu einer Me¬
lodie, ich möchte sage» zur einfachsten Urmelodie.

Auch das zweite o, das dort in nichts fällt, erhält hier seine über das
erste v erhöhte Geltung zur Genüge, denn es tritt in den Eingang eines ganzen
Taktes und kann auf dem Klavier oder im innern Ohr ausklingen nach Be¬
lieben oder melodischem Bedarf.

So könnte oder kann gleich der erste Schritt des Schülers in das Wunder¬
reich der Töne zu einem Schritt auch in das Reich der da geltenden Grund¬
oder Urgesetzc werden, statt diese gleich zuerst dem Schüler erbärmlich über den
Häuser geworfen zu zeigen, wie die gewöhnliche Tonleiter thut. Gleich die erste
Unterrichtsstunde gönnte dann dem Schüler einen staunend ahnenden Blick von
fern in die Welt der Harmonielehre, am leichtesten eigentlich, wenn dabei die
alte Tonleiter und diese melodisch gegliederte neben einander benutzt würden in
vergleichender Behandlung; an dieser Vergleichung gerade müßte beim Schüler


Grenzboten II. 1887. 55
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[0441] Die Tonleiter im Musikunterricht. natürliche, jedem angeborne Gefühl (ich möchte sagen Gefühlsbewußtsein) für die einfachen Grundgesetze des Tonlebens, welches aus seinem schlummernden Zu¬ stande wach zu rufen die Aufgabe des Unterrichts ist, die Hauptaufgabe, meine ich, der alles überlieferte Gelehrte im Musilwescn sich unterzuordnen hätte, wird damit gleich zuerst schwer beschädigt, erhält durch den Lehrer einen Bruch, einen Knick gleichsam, wie eine Pflanze, die eben aus dem Boden aufbrechen will und vom Gärtner selbst geknickt wird. Ist das zu verantworten? Es giebt aber eine naheliegende Abhilfe, womit die Tonleiter in ihrem Aufsteigen klar herausgestellt und zugleich zu einem wirklichen rhythmisch-melo¬ dischen Tongange gestaltet werden kann, ein Tongang, in dem ich mir sie selbst schon lange unwillkürlich gleichsam still in mir vorsage, wenn die müßigen Ge¬ danken einmal darauf verfallen, besonders beim Gehen, das dadurch, wenn man sonst nichts zu denken hat, zu einem rhythmischen Genuß wird. Nämlich so: [Abbildung] Damit erhält der Tonraum und Tongehalt der Oktave seine von Natur ihm innewohnende Gliederung in seinen drei Abstufungen übereinander; die drei Stufen oder Knotcnstellen der Glieder (wenn man sich's als Pflanze denkt) werden zugleich für Ohr und Sinn hervorgehoben und genau bezeichnet, indem die da sitzenden Töne doppelt auftreten, einmal als Schluß des vorigen, einmal als Ansatz des neuen Gliedes, so wie ja auch der Grundton doppelt auftritt, als Ansatz und Abschluß, der Abschluß aber, wenn man weiter steigt, zugleich zu wiederholen als Ansatz einer neuen, der höher steigenden Oktave. Kurz, das Ganze giebt so dein Schüler zugleich die einfachsten Grundzüge, den Urrahmen gleichsam aller melodischen Tonbcwegung an die Hand oder ins Ohr, die Ton¬ leiter wird aus einem rhythmisch-melodisch erbärmlichen Nichts zu einer Me¬ lodie, ich möchte sage» zur einfachsten Urmelodie. Auch das zweite o, das dort in nichts fällt, erhält hier seine über das erste v erhöhte Geltung zur Genüge, denn es tritt in den Eingang eines ganzen Taktes und kann auf dem Klavier oder im innern Ohr ausklingen nach Be¬ lieben oder melodischem Bedarf. So könnte oder kann gleich der erste Schritt des Schülers in das Wunder¬ reich der Töne zu einem Schritt auch in das Reich der da geltenden Grund¬ oder Urgesetzc werden, statt diese gleich zuerst dem Schüler erbärmlich über den Häuser geworfen zu zeigen, wie die gewöhnliche Tonleiter thut. Gleich die erste Unterrichtsstunde gönnte dann dem Schüler einen staunend ahnenden Blick von fern in die Welt der Harmonielehre, am leichtesten eigentlich, wenn dabei die alte Tonleiter und diese melodisch gegliederte neben einander benutzt würden in vergleichender Behandlung; an dieser Vergleichung gerade müßte beim Schüler Grenzboten II. 1887. 55

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/441>, abgerufen am 17.09.2024.