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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Znkmiftsxoeten.

schießt. Unter solchen Eindrücken denke man einmal an Antigone, an Cordelici,
an Mignon und fühle sich die Haare sträuben, wo wir "moralisch-ästhetisch" in
Gefahr sind, hinzugeraten. Und daß dazu noch immer die Maske des Tugend-
Protzen aufgesetzt wird, wo es sich doch in Wirklichkeit um ganz Wahl- und
zuchtlose Effekthaschereien und Scnsatiousgelüste handelt, das eben ist das Wider¬
lichste an solchen Erscheinungen. Es sollte doch bloß einmal einer ihrer gut¬
willigen Bewunderer uns und sich das Vergnügen machen, zusammenzuzählen,
wie oft die Schlagworte "Sumpf" und "Lüge" in diesen Stücken vorkommen.
Dann vergegenwärtige man sich einmal, was diese Leute berechtigt, von einem
Sumpf in ihrer Umgebung zu reden, die selbst in einem so unsagbar wider¬
wärtigen Sumpf egoistischer Ziele und Wünsche waten, was sie dazu berechtigt,
die großen sittlichen Klammern der Gesellschaft, weil sie sich nicht immer mit
ihren groben Händen greifen lassen, als "Lügen" zu bezeichnen, wo sie doch
mit so handgreiflich gegenstandslosen, von jeher als solche kenntlichen "Lügen-
Idealen" selbst so viel operiren. Aber welchem stumpfsinnigen Hohlkopf sollte
es nicht "kolossal interessant" erscheinen, wenn er für das "fremdländische Wort
Ideale," unter dem er sich nichts Schmeckendes und Kitzelndes, sondern jeden¬
falls nur etwas ihm Unbequemes denken kann, "das gute norwegische Wort
Lügen brauchen" hört! Wenn er hört, wie für alles, was den vollkommensten
Lebensgenuß und die ungetrübteste Erdenseligkeit seit Jahrtausenden hemmt und
beschränkt, die "sogenannten Ideale" verantwortlich gemacht werden, und wie
vor dem einen wirklichen, nicht gelogenen "Ideale," der zügellosen Freiheit des
Individuums, alle übrigen "sogenannten" Ideale, als Achtung der Ehe, der
Eltern, der Obrigkeit, der Kirche und vor allem alle Pflichten, die Pflicht zu
leben voran, in nichts zusammenfallen. Und wenn nun zur Illustration dieser
ebenso geistreichen als erhebenden Weisheit gerade die pikanten Mittel des
Naturalismus in Bewegung gesetzt werden, wenn mit dem sozialistischen Gespenst
geliebäugelt wird, gerade auch nur insoweit es pikant ist, während es bekannt¬
lich nirgends so bedrohlich wirken könnte, so erinnert das zu sehr an ähnliche
Erscheinungen im politischen Leben, wird zu scharf durch das Publikum, welches
es findet, schon charakteristrt, als daß man sich darüber noch deutlicher aus¬
zulassen brauchte.

Welch klägliche Rolle die "Poesie" bei diesem eiteln Geschäft spielt, ist im
Eingang auseinandergesetzt worden. Auf die traurige Lage, in welcher sie sich
solchen besondern Erscheinungen gegenüber vornehmlich befindet, muß aber
hier noch genauer hingewiesen werden. Die Erniedrigung der Poesie zu einer
politischen Magd, die aus allen möglichen Wissenschaften herbeizuschleppen hat,
was zur Erläuterung nötig ist, dies ganze banausische Treiben, welches
die "Dichtkunst" leise in eine Popularisirungs- und Massenbearbeitnngs-
maschinerie herüberführt, das wäre noch nicht das Schlimmste. Zola und dies
und jenes im russischen Naturalismus beweise", daß, wenn man immer uoch


Znkmiftsxoeten.

schießt. Unter solchen Eindrücken denke man einmal an Antigone, an Cordelici,
an Mignon und fühle sich die Haare sträuben, wo wir „moralisch-ästhetisch" in
Gefahr sind, hinzugeraten. Und daß dazu noch immer die Maske des Tugend-
Protzen aufgesetzt wird, wo es sich doch in Wirklichkeit um ganz Wahl- und
zuchtlose Effekthaschereien und Scnsatiousgelüste handelt, das eben ist das Wider¬
lichste an solchen Erscheinungen. Es sollte doch bloß einmal einer ihrer gut¬
willigen Bewunderer uns und sich das Vergnügen machen, zusammenzuzählen,
wie oft die Schlagworte „Sumpf" und „Lüge" in diesen Stücken vorkommen.
Dann vergegenwärtige man sich einmal, was diese Leute berechtigt, von einem
Sumpf in ihrer Umgebung zu reden, die selbst in einem so unsagbar wider¬
wärtigen Sumpf egoistischer Ziele und Wünsche waten, was sie dazu berechtigt,
die großen sittlichen Klammern der Gesellschaft, weil sie sich nicht immer mit
ihren groben Händen greifen lassen, als „Lügen" zu bezeichnen, wo sie doch
mit so handgreiflich gegenstandslosen, von jeher als solche kenntlichen „Lügen-
Idealen" selbst so viel operiren. Aber welchem stumpfsinnigen Hohlkopf sollte
es nicht „kolossal interessant" erscheinen, wenn er für das „fremdländische Wort
Ideale," unter dem er sich nichts Schmeckendes und Kitzelndes, sondern jeden¬
falls nur etwas ihm Unbequemes denken kann, „das gute norwegische Wort
Lügen brauchen" hört! Wenn er hört, wie für alles, was den vollkommensten
Lebensgenuß und die ungetrübteste Erdenseligkeit seit Jahrtausenden hemmt und
beschränkt, die „sogenannten Ideale" verantwortlich gemacht werden, und wie
vor dem einen wirklichen, nicht gelogenen „Ideale," der zügellosen Freiheit des
Individuums, alle übrigen „sogenannten" Ideale, als Achtung der Ehe, der
Eltern, der Obrigkeit, der Kirche und vor allem alle Pflichten, die Pflicht zu
leben voran, in nichts zusammenfallen. Und wenn nun zur Illustration dieser
ebenso geistreichen als erhebenden Weisheit gerade die pikanten Mittel des
Naturalismus in Bewegung gesetzt werden, wenn mit dem sozialistischen Gespenst
geliebäugelt wird, gerade auch nur insoweit es pikant ist, während es bekannt¬
lich nirgends so bedrohlich wirken könnte, so erinnert das zu sehr an ähnliche
Erscheinungen im politischen Leben, wird zu scharf durch das Publikum, welches
es findet, schon charakteristrt, als daß man sich darüber noch deutlicher aus¬
zulassen brauchte.

Welch klägliche Rolle die „Poesie" bei diesem eiteln Geschäft spielt, ist im
Eingang auseinandergesetzt worden. Auf die traurige Lage, in welcher sie sich
solchen besondern Erscheinungen gegenüber vornehmlich befindet, muß aber
hier noch genauer hingewiesen werden. Die Erniedrigung der Poesie zu einer
politischen Magd, die aus allen möglichen Wissenschaften herbeizuschleppen hat,
was zur Erläuterung nötig ist, dies ganze banausische Treiben, welches
die „Dichtkunst" leise in eine Popularisirungs- und Massenbearbeitnngs-
maschinerie herüberführt, das wäre noch nicht das Schlimmste. Zola und dies
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/435>, abgerufen am 29.11.2024.