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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Vie Entartung des Konstitutionalismus.

Zwecken und Bestrebungen -- überall konstitutionelle Einrichtungen bis in die
letzten Fasern hinab!

Der Konstitutionalismus, dessen wir ja in großen, völkerbewegenden Fragen
nicht mehr entbehren können, er ist -- das Wort muß ausgesprochen werden --
in den Staub gezogen, er ist entartet!

Einen vernünftigen Sinn hat er eben nur im großen. Das Wohl und
Wehe vor allen Dingen der Völker als solcher soll und kann nicht mehr von
den Regierenden allein abhängig sein, das Volk will und muß an der Gestal¬
tung seiner nationalen Geschicke selber mitwirken. Die ideale Voraussetzung
dabei ist, daß die Besten des ganzen Volkes, die Träger der Intelligenz, die
bevorzugten Kopfe, von denen wir oben sprachen, schließlich im brodelnden
Kessel der Wahlbewegungen nach oben streben, gehoben und getragen werden,
steh aufrecht halten und, aus den Wahlen hervorgehend, die würdigen Vertreter
es Volkes darstellen, ein heilsames Gegengewicht zu der regierenden Gewalt,
mögen sie diese mit sich selbst in der Schwebe halten, sie augenblicklich sinken
o er emporschnellen lassen, immer doch geachtet und beachtet, von oben wie
von unten, als berechtigtes Element jederzeit anerkannt.

, Gott sei Dank, daß die Wirklichkeit diesem Ideal im Großen -- ich denke
naturlich zuerst an unsern Reichstag -- bis jetzt immer noch so nahe kommt,
als dies unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt erreichbar erscheint. Es
vollzieht sich dieser Vorgang hier sozusagen mit Naturnotwendigkeit, mit ele¬
mentarer Gewalt, trotz aller zeitweiligen störenden Gegenströmungen.

Wohin sind wir aber mit dem Konstitutionalismus weiterhin gekommen?
Gehen wir auf die thatsächlichen Verhältnisse etwas näher ein und verfolgen
wir die Entwicklung konstitutionellen Wesens einmal unbefangen äserösesnäc".
Wir werden zu dem Ergebnis kommen, daß, je tiefer wir ins Kleine, ins Ein¬
zelne hinabsteigen, desto wertloser und gefährlicher die -- sit vsiüg, vorbo --
Parlamentarische Mitwirkung der Menge bei der Arbeit der berufenen Fach¬
männer wird, nicht als wenn diese die Weisheit in Erbpacht hätten und
andre sich nicht auch zu derselben Sachkenntnis und Geschäftsbewandertheit
emporarbeiten könnten, sondern weil die zu erörternden Fragen nach unten hin
in demselben Grade, wie sie an Massenhaftigkeit wachsen, an Wichtigkeit ver¬
lieren, es deshalb für die bei Seite stehenden endlich zur Zeit- und Kraft¬
verschwendung wird, sich noch in dieselben einzustudiren, dies darum, wie
^die Erfahrung lehrt, zuletzt in der That nicht mehr genügend geschieht und
somit die ganze konstitutionelle Wirtschaft schließlich zur breitspurigen Farce
ausartet.

Ganz das nämliche, nur in geringerem Umfange, was der Konstitutiona¬
lismus für das Reich bei den großen Fragen des Gesamtvaterlandes bedeutet,
das soll er ncichstdem noch bedeuten in den immerhin noch weitgreifenden
Interessenkreisen der Einzelstaaten und der Provinzen größerer Staaten. Hier


Grenzboten II. 1887. 5g
Vie Entartung des Konstitutionalismus.

Zwecken und Bestrebungen — überall konstitutionelle Einrichtungen bis in die
letzten Fasern hinab!

Der Konstitutionalismus, dessen wir ja in großen, völkerbewegenden Fragen
nicht mehr entbehren können, er ist — das Wort muß ausgesprochen werden —
in den Staub gezogen, er ist entartet!

Einen vernünftigen Sinn hat er eben nur im großen. Das Wohl und
Wehe vor allen Dingen der Völker als solcher soll und kann nicht mehr von
den Regierenden allein abhängig sein, das Volk will und muß an der Gestal¬
tung seiner nationalen Geschicke selber mitwirken. Die ideale Voraussetzung
dabei ist, daß die Besten des ganzen Volkes, die Träger der Intelligenz, die
bevorzugten Kopfe, von denen wir oben sprachen, schließlich im brodelnden
Kessel der Wahlbewegungen nach oben streben, gehoben und getragen werden,
steh aufrecht halten und, aus den Wahlen hervorgehend, die würdigen Vertreter
es Volkes darstellen, ein heilsames Gegengewicht zu der regierenden Gewalt,
mögen sie diese mit sich selbst in der Schwebe halten, sie augenblicklich sinken
o er emporschnellen lassen, immer doch geachtet und beachtet, von oben wie
von unten, als berechtigtes Element jederzeit anerkannt.

, Gott sei Dank, daß die Wirklichkeit diesem Ideal im Großen — ich denke
naturlich zuerst an unsern Reichstag — bis jetzt immer noch so nahe kommt,
als dies unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt erreichbar erscheint. Es
vollzieht sich dieser Vorgang hier sozusagen mit Naturnotwendigkeit, mit ele¬
mentarer Gewalt, trotz aller zeitweiligen störenden Gegenströmungen.

Wohin sind wir aber mit dem Konstitutionalismus weiterhin gekommen?
Gehen wir auf die thatsächlichen Verhältnisse etwas näher ein und verfolgen
wir die Entwicklung konstitutionellen Wesens einmal unbefangen äserösesnäc».
Wir werden zu dem Ergebnis kommen, daß, je tiefer wir ins Kleine, ins Ein¬
zelne hinabsteigen, desto wertloser und gefährlicher die — sit vsiüg, vorbo —
Parlamentarische Mitwirkung der Menge bei der Arbeit der berufenen Fach¬
männer wird, nicht als wenn diese die Weisheit in Erbpacht hätten und
andre sich nicht auch zu derselben Sachkenntnis und Geschäftsbewandertheit
emporarbeiten könnten, sondern weil die zu erörternden Fragen nach unten hin
in demselben Grade, wie sie an Massenhaftigkeit wachsen, an Wichtigkeit ver¬
lieren, es deshalb für die bei Seite stehenden endlich zur Zeit- und Kraft¬
verschwendung wird, sich noch in dieselben einzustudiren, dies darum, wie
^die Erfahrung lehrt, zuletzt in der That nicht mehr genügend geschieht und
somit die ganze konstitutionelle Wirtschaft schließlich zur breitspurigen Farce
ausartet.

Ganz das nämliche, nur in geringerem Umfange, was der Konstitutiona¬
lismus für das Reich bei den großen Fragen des Gesamtvaterlandes bedeutet,
das soll er ncichstdem noch bedeuten in den immerhin noch weitgreifenden
Interessenkreisen der Einzelstaaten und der Provinzen größerer Staaten. Hier


Grenzboten II. 1887. 5g
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[0425] Vie Entartung des Konstitutionalismus. Zwecken und Bestrebungen — überall konstitutionelle Einrichtungen bis in die letzten Fasern hinab! Der Konstitutionalismus, dessen wir ja in großen, völkerbewegenden Fragen nicht mehr entbehren können, er ist — das Wort muß ausgesprochen werden — in den Staub gezogen, er ist entartet! Einen vernünftigen Sinn hat er eben nur im großen. Das Wohl und Wehe vor allen Dingen der Völker als solcher soll und kann nicht mehr von den Regierenden allein abhängig sein, das Volk will und muß an der Gestal¬ tung seiner nationalen Geschicke selber mitwirken. Die ideale Voraussetzung dabei ist, daß die Besten des ganzen Volkes, die Träger der Intelligenz, die bevorzugten Kopfe, von denen wir oben sprachen, schließlich im brodelnden Kessel der Wahlbewegungen nach oben streben, gehoben und getragen werden, steh aufrecht halten und, aus den Wahlen hervorgehend, die würdigen Vertreter es Volkes darstellen, ein heilsames Gegengewicht zu der regierenden Gewalt, mögen sie diese mit sich selbst in der Schwebe halten, sie augenblicklich sinken o er emporschnellen lassen, immer doch geachtet und beachtet, von oben wie von unten, als berechtigtes Element jederzeit anerkannt. , Gott sei Dank, daß die Wirklichkeit diesem Ideal im Großen — ich denke naturlich zuerst an unsern Reichstag — bis jetzt immer noch so nahe kommt, als dies unter den gegebenen Verhältnissen überhaupt erreichbar erscheint. Es vollzieht sich dieser Vorgang hier sozusagen mit Naturnotwendigkeit, mit ele¬ mentarer Gewalt, trotz aller zeitweiligen störenden Gegenströmungen. Wohin sind wir aber mit dem Konstitutionalismus weiterhin gekommen? Gehen wir auf die thatsächlichen Verhältnisse etwas näher ein und verfolgen wir die Entwicklung konstitutionellen Wesens einmal unbefangen äserösesnäc». Wir werden zu dem Ergebnis kommen, daß, je tiefer wir ins Kleine, ins Ein¬ zelne hinabsteigen, desto wertloser und gefährlicher die — sit vsiüg, vorbo — Parlamentarische Mitwirkung der Menge bei der Arbeit der berufenen Fach¬ männer wird, nicht als wenn diese die Weisheit in Erbpacht hätten und andre sich nicht auch zu derselben Sachkenntnis und Geschäftsbewandertheit emporarbeiten könnten, sondern weil die zu erörternden Fragen nach unten hin in demselben Grade, wie sie an Massenhaftigkeit wachsen, an Wichtigkeit ver¬ lieren, es deshalb für die bei Seite stehenden endlich zur Zeit- und Kraft¬ verschwendung wird, sich noch in dieselben einzustudiren, dies darum, wie ^die Erfahrung lehrt, zuletzt in der That nicht mehr genügend geschieht und somit die ganze konstitutionelle Wirtschaft schließlich zur breitspurigen Farce ausartet. Ganz das nämliche, nur in geringerem Umfange, was der Konstitutiona¬ lismus für das Reich bei den großen Fragen des Gesamtvaterlandes bedeutet, das soll er ncichstdem noch bedeuten in den immerhin noch weitgreifenden Interessenkreisen der Einzelstaaten und der Provinzen größerer Staaten. Hier Grenzboten II. 1887. 5g

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/425>, abgerufen am 17.09.2024.