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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Entartung des Konstitutionalismus.

sich dann erinnern, daß Bescheidenheit, wie das Sprichwort sagt, noch niemand
gereut hat, und noch Vertrauen walten lassen in die bessere Einsicht desjenigen,
der seine ganze Kraft und sein ganzes Leben daran gesetzt hat, es in einem
andern Berufe zu derjenigen Vollkommenheit zu bringen, welche ein anständiger,
gewissenhafter Mensch überhaupt erreichen kann!

Leider hat aber unser ganzes öffentliches Leben nach und nach eine Ge¬
stalt angenommen, die es mit sich bringt, daß der Einzelne geradezu darauf
gedrillt, dazu erzogen wird, es für seine heilige Pflicht zu halten, vor allen
Dingen nur überall regulirend sich mit zu beteiligen und die Frage, ob er
auch das Zeug dazu habe, als Nebensache zu behandeln.

Das so abgebrauchte, aber eine tiefe praktische Wahrheit enthaltende Sprich¬
wort "Viele Köche verderben den Brei" hat unsre Zeit geradezu verdreht;
jeder Brei soll uur dann dem Mngen bekömmlich sein, wenn der Köche recht
viele ihn zubereitet haben. Einer soll nichts mehr allein herstellen dürfen, ver¬
möchte er auch alle möglichen Bürgschaften dafür zu bieten, daß er in seiner Kunst
Meister sei. Er ist eben nur einer, er muß kontrolirt werden; neben ihm
müssen andre stehen mit einer womöglich "durch Sachkenntnis noch nicht prä-
okkupirten Anschauung" (wie es in einem alten Reskripte hieß). Jedem, der
irgendwo an die Spitze eines Geschäftes gestellt ist, werden auf diese Weise
sogleich Scheuklappen vorgebunden, auf daß er nicht zu hell sehe, wird der
Gurt fester geschnallt, auf daß er langsamer atme, wird der Knittel zwischen
die Beine geworfen, auf daß er nicht zu schnell trabe und der Philister ge¬
mütlich nebenher gehen könne. Überall Mißtrauen, überall Kontrole, überall
Nichtachtung der Autorität -- das ist das Kainszeichen unsrer Zeit -- und
es ist zum guten Teile die faule Frucht des bis ins Kleinste, bis ins Lächer¬
liche hinein getriebenen Konstitutionalismus, der nachgerade fast alle unsre
Lebensverhältnisse ausnahmslos beherrscht.

Oder wo ist heutzutage noch irgend eine Einrichtung zu finden, an deren
Spitze eine Person (beziehentlich ein in sich geschlossenes Kollegium), und wäre
sie mit noch größerer Sachkenntnis ausgerüstet, stehen dürfte, der die Leitung
vertrauensvoll überlassen würde? Reich, Staat und Städchen, Provinz, Kreis,
Gemeinde, Kirche, Schule, Handel und Wandel, alles, alles ist nach konstitu¬
tioneller Schablone eingerichtet. Haben wir nicht neben Reichsregierung und
Reichstag noch Landesregierung und Landtag, Provinzialregierung und Pro-
vinziallandtag, Landrat und Kreistag, Magistrat und Stadtverordnete, Schult¬
heiß und Ausschuß, Superintendent und Synode, Schuldirektor und Schul¬
vorstand, Bank und Aufsichtsrat, Eisenbahndirektor und Verwaltungsrat,
Stiftungen und Verbände jeder Art mit Verwalter und Kuratorium :c. :c.?
Kurz, man blicke hin, wohin man will, bis hinunter in die ganze erdrückende,
alle Schichten der Gesellschaft vom Minister bis zum Nachtwächter in Mit¬
leidenschaft ziehende Masse der "Vereine" mit allen möglichen und unmöglichen


Die Entartung des Konstitutionalismus.

sich dann erinnern, daß Bescheidenheit, wie das Sprichwort sagt, noch niemand
gereut hat, und noch Vertrauen walten lassen in die bessere Einsicht desjenigen,
der seine ganze Kraft und sein ganzes Leben daran gesetzt hat, es in einem
andern Berufe zu derjenigen Vollkommenheit zu bringen, welche ein anständiger,
gewissenhafter Mensch überhaupt erreichen kann!

Leider hat aber unser ganzes öffentliches Leben nach und nach eine Ge¬
stalt angenommen, die es mit sich bringt, daß der Einzelne geradezu darauf
gedrillt, dazu erzogen wird, es für seine heilige Pflicht zu halten, vor allen
Dingen nur überall regulirend sich mit zu beteiligen und die Frage, ob er
auch das Zeug dazu habe, als Nebensache zu behandeln.

Das so abgebrauchte, aber eine tiefe praktische Wahrheit enthaltende Sprich¬
wort „Viele Köche verderben den Brei" hat unsre Zeit geradezu verdreht;
jeder Brei soll uur dann dem Mngen bekömmlich sein, wenn der Köche recht
viele ihn zubereitet haben. Einer soll nichts mehr allein herstellen dürfen, ver¬
möchte er auch alle möglichen Bürgschaften dafür zu bieten, daß er in seiner Kunst
Meister sei. Er ist eben nur einer, er muß kontrolirt werden; neben ihm
müssen andre stehen mit einer womöglich „durch Sachkenntnis noch nicht prä-
okkupirten Anschauung" (wie es in einem alten Reskripte hieß). Jedem, der
irgendwo an die Spitze eines Geschäftes gestellt ist, werden auf diese Weise
sogleich Scheuklappen vorgebunden, auf daß er nicht zu hell sehe, wird der
Gurt fester geschnallt, auf daß er langsamer atme, wird der Knittel zwischen
die Beine geworfen, auf daß er nicht zu schnell trabe und der Philister ge¬
mütlich nebenher gehen könne. Überall Mißtrauen, überall Kontrole, überall
Nichtachtung der Autorität — das ist das Kainszeichen unsrer Zeit — und
es ist zum guten Teile die faule Frucht des bis ins Kleinste, bis ins Lächer¬
liche hinein getriebenen Konstitutionalismus, der nachgerade fast alle unsre
Lebensverhältnisse ausnahmslos beherrscht.

Oder wo ist heutzutage noch irgend eine Einrichtung zu finden, an deren
Spitze eine Person (beziehentlich ein in sich geschlossenes Kollegium), und wäre
sie mit noch größerer Sachkenntnis ausgerüstet, stehen dürfte, der die Leitung
vertrauensvoll überlassen würde? Reich, Staat und Städchen, Provinz, Kreis,
Gemeinde, Kirche, Schule, Handel und Wandel, alles, alles ist nach konstitu¬
tioneller Schablone eingerichtet. Haben wir nicht neben Reichsregierung und
Reichstag noch Landesregierung und Landtag, Provinzialregierung und Pro-
vinziallandtag, Landrat und Kreistag, Magistrat und Stadtverordnete, Schult¬
heiß und Ausschuß, Superintendent und Synode, Schuldirektor und Schul¬
vorstand, Bank und Aufsichtsrat, Eisenbahndirektor und Verwaltungsrat,
Stiftungen und Verbände jeder Art mit Verwalter und Kuratorium :c. :c.?
Kurz, man blicke hin, wohin man will, bis hinunter in die ganze erdrückende,
alle Schichten der Gesellschaft vom Minister bis zum Nachtwächter in Mit¬
leidenschaft ziehende Masse der „Vereine" mit allen möglichen und unmöglichen


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[0424] Die Entartung des Konstitutionalismus. sich dann erinnern, daß Bescheidenheit, wie das Sprichwort sagt, noch niemand gereut hat, und noch Vertrauen walten lassen in die bessere Einsicht desjenigen, der seine ganze Kraft und sein ganzes Leben daran gesetzt hat, es in einem andern Berufe zu derjenigen Vollkommenheit zu bringen, welche ein anständiger, gewissenhafter Mensch überhaupt erreichen kann! Leider hat aber unser ganzes öffentliches Leben nach und nach eine Ge¬ stalt angenommen, die es mit sich bringt, daß der Einzelne geradezu darauf gedrillt, dazu erzogen wird, es für seine heilige Pflicht zu halten, vor allen Dingen nur überall regulirend sich mit zu beteiligen und die Frage, ob er auch das Zeug dazu habe, als Nebensache zu behandeln. Das so abgebrauchte, aber eine tiefe praktische Wahrheit enthaltende Sprich¬ wort „Viele Köche verderben den Brei" hat unsre Zeit geradezu verdreht; jeder Brei soll uur dann dem Mngen bekömmlich sein, wenn der Köche recht viele ihn zubereitet haben. Einer soll nichts mehr allein herstellen dürfen, ver¬ möchte er auch alle möglichen Bürgschaften dafür zu bieten, daß er in seiner Kunst Meister sei. Er ist eben nur einer, er muß kontrolirt werden; neben ihm müssen andre stehen mit einer womöglich „durch Sachkenntnis noch nicht prä- okkupirten Anschauung" (wie es in einem alten Reskripte hieß). Jedem, der irgendwo an die Spitze eines Geschäftes gestellt ist, werden auf diese Weise sogleich Scheuklappen vorgebunden, auf daß er nicht zu hell sehe, wird der Gurt fester geschnallt, auf daß er langsamer atme, wird der Knittel zwischen die Beine geworfen, auf daß er nicht zu schnell trabe und der Philister ge¬ mütlich nebenher gehen könne. Überall Mißtrauen, überall Kontrole, überall Nichtachtung der Autorität — das ist das Kainszeichen unsrer Zeit — und es ist zum guten Teile die faule Frucht des bis ins Kleinste, bis ins Lächer¬ liche hinein getriebenen Konstitutionalismus, der nachgerade fast alle unsre Lebensverhältnisse ausnahmslos beherrscht. Oder wo ist heutzutage noch irgend eine Einrichtung zu finden, an deren Spitze eine Person (beziehentlich ein in sich geschlossenes Kollegium), und wäre sie mit noch größerer Sachkenntnis ausgerüstet, stehen dürfte, der die Leitung vertrauensvoll überlassen würde? Reich, Staat und Städchen, Provinz, Kreis, Gemeinde, Kirche, Schule, Handel und Wandel, alles, alles ist nach konstitu¬ tioneller Schablone eingerichtet. Haben wir nicht neben Reichsregierung und Reichstag noch Landesregierung und Landtag, Provinzialregierung und Pro- vinziallandtag, Landrat und Kreistag, Magistrat und Stadtverordnete, Schult¬ heiß und Ausschuß, Superintendent und Synode, Schuldirektor und Schul¬ vorstand, Bank und Aufsichtsrat, Eisenbahndirektor und Verwaltungsrat, Stiftungen und Verbände jeder Art mit Verwalter und Kuratorium :c. :c.? Kurz, man blicke hin, wohin man will, bis hinunter in die ganze erdrückende, alle Schichten der Gesellschaft vom Minister bis zum Nachtwächter in Mit¬ leidenschaft ziehende Masse der „Vereine" mit allen möglichen und unmöglichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/424>, abgerufen am 17.09.2024.