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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Zukunftspoeten.

minder bewußten Streben nach den materiellen Vorteilen aller wirksamen Unter¬
nehmungen, das kann im Hinblick auf ihre unbestreitbare Anziehungskraft für
die Massen und die gerühmte "praktische" Begabung des Zeitalters nicht so
von vornherein abgelehnt werden.

Der Lärm der "Freiheitsdramen" ist verstummt, die Revolutions- und
politische Dichtung hat sich in die Zeitungen geflüchtet, selbst die Akten über
Zola sind geschlossen, die Experimentalromane fangen wirklich an, zu einer
kleinen Sintflut anzuschwellen und haben dadurch an "experimentalem" Interesse
stark eingebüßt. Die experimentale Muse der politischen Zeit macht einen neuen
verzweifelten Versuch, sich die ihr absolut nötige "Geltung bei den Massen"
zu verschaffen und sich die Zukunft zu sichern. Findige Köpfe sind nicht ver¬
legen um große Reformen; sie versuchen es -- welche nicht zu ahnende Neue¬
rung! -- mit dem experimentalen Drama. Da ist garnichts zu lachen. Ist
es nicht schon etwas Großes, wenn ein Dichter Dramen, "nur Dramen" schreibt
und seine Schätzung andrer Mitmenschen darnach richtet, "ob sie auch Dramen
schreiben"? Theaterdirektoren und Intendanten werden vielleicht einwerfen:
Nein! Die Bewunderer des neuesten Zukunftsdichters aber behaupten es. Un¬
parteiische werden am Ende urteilen, daß es jedenfalls etwas Angenehmes
darum sei, weil ein Drama in den meisten Füllen kürzer zu sein Pflege als ein
Roman. In dieser Hinsicht würden sie sogar, da nun einmal experimentirt
werden muß, begeistert für die endliche Entdeckung einer experimentalen Lyrik
eintreten, welche bisher noch immer in den Spalten der Witzblätter ein schnödes,
unentdecktes Dasein fristet. Man bedenke nicht bloß den Zeit-, nein auch den
Kunstgewinn. So ein lyrischer Extrakt aus einem Zolaschen Romane -- welch
ein Parfüm! Aber wir stehen erst beim Drama, und ein Drama kann mit¬
unter furchtbar lang sein, besonders wenn man das Genie hat, "nur Dramen
zu schreiben."

Schlechte Witze bieten im Leben oft die einzige Möglichkeit, unangenehme
Empfindungen los zu werden. Und was im Leben recht ist, sollte gegenwärtig
auch in der Poesie billig sein. Denn in dieser ihrer letzten Periode fängt die
Poesie nachgerade an, einen noch viel unangenehmer zu bedrängen als das
Leben. Aber eben deshalb darf man es nicht bei Witzen bewenden zu lassen.
Launen und Stimmungen, wie die oben gekennzeichnete, haben nicht bloß für
den Einzelnen eine Grenze, wo sie aufhören, Launen und Stimmungen zu sein
und in eine peinliche Erkrankung übergehen. Dann hilft es nichts mehr, den
Kranken zu verlachen und zu bespötteln, dann thut es not, ihn mit vollem Ernste
aufzurütteln und gegebenen Falles zu Radikalmitteln, zu einem kalten Wasser¬
strahl, seine Zuflucht zu nehmen, um ihn zu sich selbst, zur Besinnung zurück¬
zurufen. Ein solcher kalter Wasserstrahl und nicht bloß Witze, wie sie wohl
noch laut wurden, scheint uns am Platze gegenüber einem Stadium dieser elenden
Geistesverfassung, wie es in dem über Nacht bei uns populär gewordenen Nor-


Zukunftspoeten.

minder bewußten Streben nach den materiellen Vorteilen aller wirksamen Unter¬
nehmungen, das kann im Hinblick auf ihre unbestreitbare Anziehungskraft für
die Massen und die gerühmte „praktische" Begabung des Zeitalters nicht so
von vornherein abgelehnt werden.

Der Lärm der „Freiheitsdramen" ist verstummt, die Revolutions- und
politische Dichtung hat sich in die Zeitungen geflüchtet, selbst die Akten über
Zola sind geschlossen, die Experimentalromane fangen wirklich an, zu einer
kleinen Sintflut anzuschwellen und haben dadurch an „experimentalem" Interesse
stark eingebüßt. Die experimentale Muse der politischen Zeit macht einen neuen
verzweifelten Versuch, sich die ihr absolut nötige „Geltung bei den Massen"
zu verschaffen und sich die Zukunft zu sichern. Findige Köpfe sind nicht ver¬
legen um große Reformen; sie versuchen es — welche nicht zu ahnende Neue¬
rung! — mit dem experimentalen Drama. Da ist garnichts zu lachen. Ist
es nicht schon etwas Großes, wenn ein Dichter Dramen, „nur Dramen" schreibt
und seine Schätzung andrer Mitmenschen darnach richtet, „ob sie auch Dramen
schreiben"? Theaterdirektoren und Intendanten werden vielleicht einwerfen:
Nein! Die Bewunderer des neuesten Zukunftsdichters aber behaupten es. Un¬
parteiische werden am Ende urteilen, daß es jedenfalls etwas Angenehmes
darum sei, weil ein Drama in den meisten Füllen kürzer zu sein Pflege als ein
Roman. In dieser Hinsicht würden sie sogar, da nun einmal experimentirt
werden muß, begeistert für die endliche Entdeckung einer experimentalen Lyrik
eintreten, welche bisher noch immer in den Spalten der Witzblätter ein schnödes,
unentdecktes Dasein fristet. Man bedenke nicht bloß den Zeit-, nein auch den
Kunstgewinn. So ein lyrischer Extrakt aus einem Zolaschen Romane — welch
ein Parfüm! Aber wir stehen erst beim Drama, und ein Drama kann mit¬
unter furchtbar lang sein, besonders wenn man das Genie hat, „nur Dramen
zu schreiben."

Schlechte Witze bieten im Leben oft die einzige Möglichkeit, unangenehme
Empfindungen los zu werden. Und was im Leben recht ist, sollte gegenwärtig
auch in der Poesie billig sein. Denn in dieser ihrer letzten Periode fängt die
Poesie nachgerade an, einen noch viel unangenehmer zu bedrängen als das
Leben. Aber eben deshalb darf man es nicht bei Witzen bewenden zu lassen.
Launen und Stimmungen, wie die oben gekennzeichnete, haben nicht bloß für
den Einzelnen eine Grenze, wo sie aufhören, Launen und Stimmungen zu sein
und in eine peinliche Erkrankung übergehen. Dann hilft es nichts mehr, den
Kranken zu verlachen und zu bespötteln, dann thut es not, ihn mit vollem Ernste
aufzurütteln und gegebenen Falles zu Radikalmitteln, zu einem kalten Wasser¬
strahl, seine Zuflucht zu nehmen, um ihn zu sich selbst, zur Besinnung zurück¬
zurufen. Ein solcher kalter Wasserstrahl und nicht bloß Witze, wie sie wohl
noch laut wurden, scheint uns am Platze gegenüber einem Stadium dieser elenden
Geistesverfassung, wie es in dem über Nacht bei uns populär gewordenen Nor-


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[0384] Zukunftspoeten. minder bewußten Streben nach den materiellen Vorteilen aller wirksamen Unter¬ nehmungen, das kann im Hinblick auf ihre unbestreitbare Anziehungskraft für die Massen und die gerühmte „praktische" Begabung des Zeitalters nicht so von vornherein abgelehnt werden. Der Lärm der „Freiheitsdramen" ist verstummt, die Revolutions- und politische Dichtung hat sich in die Zeitungen geflüchtet, selbst die Akten über Zola sind geschlossen, die Experimentalromane fangen wirklich an, zu einer kleinen Sintflut anzuschwellen und haben dadurch an „experimentalem" Interesse stark eingebüßt. Die experimentale Muse der politischen Zeit macht einen neuen verzweifelten Versuch, sich die ihr absolut nötige „Geltung bei den Massen" zu verschaffen und sich die Zukunft zu sichern. Findige Köpfe sind nicht ver¬ legen um große Reformen; sie versuchen es — welche nicht zu ahnende Neue¬ rung! — mit dem experimentalen Drama. Da ist garnichts zu lachen. Ist es nicht schon etwas Großes, wenn ein Dichter Dramen, „nur Dramen" schreibt und seine Schätzung andrer Mitmenschen darnach richtet, „ob sie auch Dramen schreiben"? Theaterdirektoren und Intendanten werden vielleicht einwerfen: Nein! Die Bewunderer des neuesten Zukunftsdichters aber behaupten es. Un¬ parteiische werden am Ende urteilen, daß es jedenfalls etwas Angenehmes darum sei, weil ein Drama in den meisten Füllen kürzer zu sein Pflege als ein Roman. In dieser Hinsicht würden sie sogar, da nun einmal experimentirt werden muß, begeistert für die endliche Entdeckung einer experimentalen Lyrik eintreten, welche bisher noch immer in den Spalten der Witzblätter ein schnödes, unentdecktes Dasein fristet. Man bedenke nicht bloß den Zeit-, nein auch den Kunstgewinn. So ein lyrischer Extrakt aus einem Zolaschen Romane — welch ein Parfüm! Aber wir stehen erst beim Drama, und ein Drama kann mit¬ unter furchtbar lang sein, besonders wenn man das Genie hat, „nur Dramen zu schreiben." Schlechte Witze bieten im Leben oft die einzige Möglichkeit, unangenehme Empfindungen los zu werden. Und was im Leben recht ist, sollte gegenwärtig auch in der Poesie billig sein. Denn in dieser ihrer letzten Periode fängt die Poesie nachgerade an, einen noch viel unangenehmer zu bedrängen als das Leben. Aber eben deshalb darf man es nicht bei Witzen bewenden zu lassen. Launen und Stimmungen, wie die oben gekennzeichnete, haben nicht bloß für den Einzelnen eine Grenze, wo sie aufhören, Launen und Stimmungen zu sein und in eine peinliche Erkrankung übergehen. Dann hilft es nichts mehr, den Kranken zu verlachen und zu bespötteln, dann thut es not, ihn mit vollem Ernste aufzurütteln und gegebenen Falles zu Radikalmitteln, zu einem kalten Wasser¬ strahl, seine Zuflucht zu nehmen, um ihn zu sich selbst, zur Besinnung zurück¬ zurufen. Ein solcher kalter Wasserstrahl und nicht bloß Witze, wie sie wohl noch laut wurden, scheint uns am Platze gegenüber einem Stadium dieser elenden Geistesverfassung, wie es in dem über Nacht bei uns populär gewordenen Nor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/384>, abgerufen am 17.09.2024.