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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Deutsch-böhmische Briefe.

hinten, besonders aber an der böhmischen Seite, einer der wichtigsten Österreichs,
und zuletzt wird das Haus auf diesem Wege die Gestalt zeigen, die es nach
dem 1871 verworfenen Plane haben sollte. Die Deutschen Böhmens aber ver¬
wahren sich gegen dieses Vorhaben, sie wissen, daß das geplante Gebäude für
sie unbewohnbar, ungesund, unschön sein, daß es bald zusammenstürzen würde,
und wollen für den Bau nicht mit verantwortlich sein.

Thöricht war es, wenn behauptet wurde, die Regierung habe keine Schuld
an diesen Vorfällen, dieselben seien lediglich der Mehrheit im Prager Land¬
tage zur Last zu legen. Es war vielmehr die Art, wie Graf Taaffe "Ver-
söhnnngspolitik" trieb, wenn es zuletzt zur Katastrophe kam. Er führte sich
mit der Erklärung ein, über den Parteien zu stehen und alle zufriedenstellen
zu wollen. Man durfte darnach erwarten, diese Negierung werde weder für
das eine noch für das andre Lager der Streitenden eine Entscheidung treffen,
solange diese sich nicht selbst über die Hauptsachen mit einander nach Grundsätzen
der Billigkeit verständigt hätten -- nach Grundsätzen der Billigkeit, denn volle
Gerechtigkeit ist hier wie auf politischem Gebiete überhaupt nicht am Orte. Eine
solche Enthaltsamkeit allein konnte zu wahrer Versöhnung und Befriedigung
führen. Ihr Gegenteil, Zugeständnisse nach der einen Seite hin, mußte bei
dieser das Gefühl, die stärkere zu sein, steigern und die Neigung zu einem Ver¬
gleiche mit den Gegnern vermindern, bei der andern Seite aber die bittere
Empfindung hervorrufen, zurückgesetzt, verkürzt und vergewaltigt worden zu sein.
Die Regierung des Grafen Taaffe hätte die Parteien in Böhmen die Ver¬
söhnungsarbeit selbst in die Hand nehmen und dabei nur lenken sollen. Sie
zog ein andres Verfahren vor: sie wirkte nicht auf ein Kompromiß hin, sondern
trat als Schiedsrichter auf, der das streitige Feld nach seinem Ermessen ans¬
tellte und die "Gleichberechtigung" der Deutschen und Tschechen nach eigner
Auslegung verwirklichte, wobei ein Zugeständnis fast mit Notwendigkeit das
andre nach sich zog. Der Buchstabe der Verfassung konnte hier nicht Weg¬
weiser sein. Ihr Geist, der nicht in Artikeln und Paragraphen ausgedrückt ist,
der geistige Inhalt, die Lebensbedingungen des Staatswesens, dessen geschicht¬
liche Entwicklung waren zu berücksichtigen und einschneidende Verordnungen
überhaupt zu vermeiden. Die innere deutsche Gerichtssprache, das geschlossene
deutsche Sprachgebiet und vieles andre, was hier in Betracht kommt, sind Er¬
gebnisse der historischen Entwicklung Österreichs, die nicht mit Verordnungen
zu maßregeln sind. Die Ausführung des Artikels XIX der Verfassung ist von
solcher Bedeutung, daß die ausübende Gewalt sich besinnen sollte, sie allein und
auf eigne Verantwortung hin zu versuchen. Graf Taaffe hat sich dieser Her¬
kulesarbeit unterzogen; der Austritt der Deutschen aus dem böhmischen Land¬
tage sollte ihn gewarnt haben, damit fortzufahren. Die deutsche Opposition
erklärte damit, daß sie die "Gleichberechtigung" und ihren Zwist mit den
Tschechen verfassungsmäßig behandelt und das Verordnungsrecht der Negierung


Deutsch-böhmische Briefe.

hinten, besonders aber an der böhmischen Seite, einer der wichtigsten Österreichs,
und zuletzt wird das Haus auf diesem Wege die Gestalt zeigen, die es nach
dem 1871 verworfenen Plane haben sollte. Die Deutschen Böhmens aber ver¬
wahren sich gegen dieses Vorhaben, sie wissen, daß das geplante Gebäude für
sie unbewohnbar, ungesund, unschön sein, daß es bald zusammenstürzen würde,
und wollen für den Bau nicht mit verantwortlich sein.

Thöricht war es, wenn behauptet wurde, die Regierung habe keine Schuld
an diesen Vorfällen, dieselben seien lediglich der Mehrheit im Prager Land¬
tage zur Last zu legen. Es war vielmehr die Art, wie Graf Taaffe „Ver-
söhnnngspolitik" trieb, wenn es zuletzt zur Katastrophe kam. Er führte sich
mit der Erklärung ein, über den Parteien zu stehen und alle zufriedenstellen
zu wollen. Man durfte darnach erwarten, diese Negierung werde weder für
das eine noch für das andre Lager der Streitenden eine Entscheidung treffen,
solange diese sich nicht selbst über die Hauptsachen mit einander nach Grundsätzen
der Billigkeit verständigt hätten — nach Grundsätzen der Billigkeit, denn volle
Gerechtigkeit ist hier wie auf politischem Gebiete überhaupt nicht am Orte. Eine
solche Enthaltsamkeit allein konnte zu wahrer Versöhnung und Befriedigung
führen. Ihr Gegenteil, Zugeständnisse nach der einen Seite hin, mußte bei
dieser das Gefühl, die stärkere zu sein, steigern und die Neigung zu einem Ver¬
gleiche mit den Gegnern vermindern, bei der andern Seite aber die bittere
Empfindung hervorrufen, zurückgesetzt, verkürzt und vergewaltigt worden zu sein.
Die Regierung des Grafen Taaffe hätte die Parteien in Böhmen die Ver¬
söhnungsarbeit selbst in die Hand nehmen und dabei nur lenken sollen. Sie
zog ein andres Verfahren vor: sie wirkte nicht auf ein Kompromiß hin, sondern
trat als Schiedsrichter auf, der das streitige Feld nach seinem Ermessen ans¬
tellte und die „Gleichberechtigung" der Deutschen und Tschechen nach eigner
Auslegung verwirklichte, wobei ein Zugeständnis fast mit Notwendigkeit das
andre nach sich zog. Der Buchstabe der Verfassung konnte hier nicht Weg¬
weiser sein. Ihr Geist, der nicht in Artikeln und Paragraphen ausgedrückt ist,
der geistige Inhalt, die Lebensbedingungen des Staatswesens, dessen geschicht¬
liche Entwicklung waren zu berücksichtigen und einschneidende Verordnungen
überhaupt zu vermeiden. Die innere deutsche Gerichtssprache, das geschlossene
deutsche Sprachgebiet und vieles andre, was hier in Betracht kommt, sind Er¬
gebnisse der historischen Entwicklung Österreichs, die nicht mit Verordnungen
zu maßregeln sind. Die Ausführung des Artikels XIX der Verfassung ist von
solcher Bedeutung, daß die ausübende Gewalt sich besinnen sollte, sie allein und
auf eigne Verantwortung hin zu versuchen. Graf Taaffe hat sich dieser Her¬
kulesarbeit unterzogen; der Austritt der Deutschen aus dem böhmischen Land¬
tage sollte ihn gewarnt haben, damit fortzufahren. Die deutsche Opposition
erklärte damit, daß sie die „Gleichberechtigung" und ihren Zwist mit den
Tschechen verfassungsmäßig behandelt und das Verordnungsrecht der Negierung


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[0316] Deutsch-böhmische Briefe. hinten, besonders aber an der böhmischen Seite, einer der wichtigsten Österreichs, und zuletzt wird das Haus auf diesem Wege die Gestalt zeigen, die es nach dem 1871 verworfenen Plane haben sollte. Die Deutschen Böhmens aber ver¬ wahren sich gegen dieses Vorhaben, sie wissen, daß das geplante Gebäude für sie unbewohnbar, ungesund, unschön sein, daß es bald zusammenstürzen würde, und wollen für den Bau nicht mit verantwortlich sein. Thöricht war es, wenn behauptet wurde, die Regierung habe keine Schuld an diesen Vorfällen, dieselben seien lediglich der Mehrheit im Prager Land¬ tage zur Last zu legen. Es war vielmehr die Art, wie Graf Taaffe „Ver- söhnnngspolitik" trieb, wenn es zuletzt zur Katastrophe kam. Er führte sich mit der Erklärung ein, über den Parteien zu stehen und alle zufriedenstellen zu wollen. Man durfte darnach erwarten, diese Negierung werde weder für das eine noch für das andre Lager der Streitenden eine Entscheidung treffen, solange diese sich nicht selbst über die Hauptsachen mit einander nach Grundsätzen der Billigkeit verständigt hätten — nach Grundsätzen der Billigkeit, denn volle Gerechtigkeit ist hier wie auf politischem Gebiete überhaupt nicht am Orte. Eine solche Enthaltsamkeit allein konnte zu wahrer Versöhnung und Befriedigung führen. Ihr Gegenteil, Zugeständnisse nach der einen Seite hin, mußte bei dieser das Gefühl, die stärkere zu sein, steigern und die Neigung zu einem Ver¬ gleiche mit den Gegnern vermindern, bei der andern Seite aber die bittere Empfindung hervorrufen, zurückgesetzt, verkürzt und vergewaltigt worden zu sein. Die Regierung des Grafen Taaffe hätte die Parteien in Böhmen die Ver¬ söhnungsarbeit selbst in die Hand nehmen und dabei nur lenken sollen. Sie zog ein andres Verfahren vor: sie wirkte nicht auf ein Kompromiß hin, sondern trat als Schiedsrichter auf, der das streitige Feld nach seinem Ermessen ans¬ tellte und die „Gleichberechtigung" der Deutschen und Tschechen nach eigner Auslegung verwirklichte, wobei ein Zugeständnis fast mit Notwendigkeit das andre nach sich zog. Der Buchstabe der Verfassung konnte hier nicht Weg¬ weiser sein. Ihr Geist, der nicht in Artikeln und Paragraphen ausgedrückt ist, der geistige Inhalt, die Lebensbedingungen des Staatswesens, dessen geschicht¬ liche Entwicklung waren zu berücksichtigen und einschneidende Verordnungen überhaupt zu vermeiden. Die innere deutsche Gerichtssprache, das geschlossene deutsche Sprachgebiet und vieles andre, was hier in Betracht kommt, sind Er¬ gebnisse der historischen Entwicklung Österreichs, die nicht mit Verordnungen zu maßregeln sind. Die Ausführung des Artikels XIX der Verfassung ist von solcher Bedeutung, daß die ausübende Gewalt sich besinnen sollte, sie allein und auf eigne Verantwortung hin zu versuchen. Graf Taaffe hat sich dieser Her¬ kulesarbeit unterzogen; der Austritt der Deutschen aus dem böhmischen Land¬ tage sollte ihn gewarnt haben, damit fortzufahren. Die deutsche Opposition erklärte damit, daß sie die „Gleichberechtigung" und ihren Zwist mit den Tschechen verfassungsmäßig behandelt und das Verordnungsrecht der Negierung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/316>, abgerufen am 17.09.2024.