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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums.

Diese Theologie hatte einmal ihr Gutes, so lange es galt, dogmatische An¬
schauungen zu vermitteln. Das war die Zeit, wo die Konsensusunion ihre
glänzenden Vertreter in Männern wie Jenen. Nitzsch, Julius Müller ze. hatte.
Bei den Dogmen vermitteln, heißt ihnen die Härten nehmen und dadurch ver¬
söhnlich auf die Geister wirken. Nun aber ist seit länger als einer Generation
der Nachdruck des theologischen Studiums auf die Kritik der biblischen Schriften
gelegt worden, und hier vermitteln wollen, wo es sich um den historischen Be¬
stand der Dinge handelt, ist falsch. Wie es den Sinn für die Wahrheit schwächt,
so führt es zu unhaltbaren Ergebnissen. Oder was sind das für Ergebnisse,
wenn mau z. B., um die Echtheit des Johannesevangelinms zu halten, an¬
nimmt, wie das von einem Hauptvertreter der Vermittlungstheologie und posi¬
tiven Union geschieht, daß sich in diesem Evangelium besonders bei der Wieder¬
gabe der Reden Jesu die Individualität des Apostels stark reflektirt habe? Diese
Reflexion ist so stark, daß man garnicht weiß, was Rede Jesu und was aposto¬
lische Zuthat ist, wie mau auch in den Erzählungen nicht weiß, was echt ist
und was nicht. Was ist das nun für ein apostolisches Dokument, das solche
Reflexionen sich zu schulden kommen läßt und wo das Thatsächliche vom Er¬
dichteten überall nur mit der größten Willkür geschieden werden kann? Und
dabei soll die Methode dieser heiligen Geschichtschreibung sich nicht von der der
profanen Geschichte unterscheiden? Bei einem andern berühmten Namen ist es
nicht viel anders, wenn auch ihm im Johannesevangelium "Jesustexte und
johanneische Auslegung unzertrennlich verwoben" erscheinen. Es ist ja viel
Vortreffliches, was die jungen Leute in Büchern und Kollegien bei den Ver¬
tretern dieser Richtung lernen, aber es fehlt das kühne, sichere und konsequente
Anfassen der Probleme, und die jungen Theologen kommen aus den Studien
zurück ohne die Festigkeit der Grundlagen und ohne die Freudigkeit, welche die
erkannte Wahrheit giebt. Treten sie nun, wie es jetzt vielfach geschieht, sofort
oder doch bald nach dem Examen ins Amt, so lehnen sie sich an die an, die
diese Festigkeit zu haben scheinen, weil sie entschieden sind, und werden bald
dieselben Fanatiker, wie die Dressirten es von vornherein sind. So geht es
zwar nicht immer, aber oft.

Wollen wir über diesen Zustand der Dressur und des Fanatismus, der
jetzt wieder beinahe derselbe ist, wie zu Hengstenbergs und Stahls Zeiten und
den die Vermittlungstheologie nicht heben kann, auch bisweilen, in manchen
ihrer Vertreter, nicht heben will, wollen wir darüber hinauskommen, so bleibt
garnichts übrig, als daß wir die Kritik ihre Pflicht thun und sie überall, nicht
bloß in gewissen Punkten, in voraussetzungsloser Weise unerschrocken arbeiten
lassen. Denn wie die Dinge heutzutage stehen, bleibt für die protestantische
Kirche nichts andres übrig, als daß auch der Geistliche gegenüber der Bibel
eine freie Betrachtung gewinnt und aus ihr für die Predigt das als Nährstoff
nimmt, was sich dem religiösen Bewußtsein des modernen Menschen angleichen


Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums.

Diese Theologie hatte einmal ihr Gutes, so lange es galt, dogmatische An¬
schauungen zu vermitteln. Das war die Zeit, wo die Konsensusunion ihre
glänzenden Vertreter in Männern wie Jenen. Nitzsch, Julius Müller ze. hatte.
Bei den Dogmen vermitteln, heißt ihnen die Härten nehmen und dadurch ver¬
söhnlich auf die Geister wirken. Nun aber ist seit länger als einer Generation
der Nachdruck des theologischen Studiums auf die Kritik der biblischen Schriften
gelegt worden, und hier vermitteln wollen, wo es sich um den historischen Be¬
stand der Dinge handelt, ist falsch. Wie es den Sinn für die Wahrheit schwächt,
so führt es zu unhaltbaren Ergebnissen. Oder was sind das für Ergebnisse,
wenn mau z. B., um die Echtheit des Johannesevangelinms zu halten, an¬
nimmt, wie das von einem Hauptvertreter der Vermittlungstheologie und posi¬
tiven Union geschieht, daß sich in diesem Evangelium besonders bei der Wieder¬
gabe der Reden Jesu die Individualität des Apostels stark reflektirt habe? Diese
Reflexion ist so stark, daß man garnicht weiß, was Rede Jesu und was aposto¬
lische Zuthat ist, wie mau auch in den Erzählungen nicht weiß, was echt ist
und was nicht. Was ist das nun für ein apostolisches Dokument, das solche
Reflexionen sich zu schulden kommen läßt und wo das Thatsächliche vom Er¬
dichteten überall nur mit der größten Willkür geschieden werden kann? Und
dabei soll die Methode dieser heiligen Geschichtschreibung sich nicht von der der
profanen Geschichte unterscheiden? Bei einem andern berühmten Namen ist es
nicht viel anders, wenn auch ihm im Johannesevangelium „Jesustexte und
johanneische Auslegung unzertrennlich verwoben" erscheinen. Es ist ja viel
Vortreffliches, was die jungen Leute in Büchern und Kollegien bei den Ver¬
tretern dieser Richtung lernen, aber es fehlt das kühne, sichere und konsequente
Anfassen der Probleme, und die jungen Theologen kommen aus den Studien
zurück ohne die Festigkeit der Grundlagen und ohne die Freudigkeit, welche die
erkannte Wahrheit giebt. Treten sie nun, wie es jetzt vielfach geschieht, sofort
oder doch bald nach dem Examen ins Amt, so lehnen sie sich an die an, die
diese Festigkeit zu haben scheinen, weil sie entschieden sind, und werden bald
dieselben Fanatiker, wie die Dressirten es von vornherein sind. So geht es
zwar nicht immer, aber oft.

Wollen wir über diesen Zustand der Dressur und des Fanatismus, der
jetzt wieder beinahe derselbe ist, wie zu Hengstenbergs und Stahls Zeiten und
den die Vermittlungstheologie nicht heben kann, auch bisweilen, in manchen
ihrer Vertreter, nicht heben will, wollen wir darüber hinauskommen, so bleibt
garnichts übrig, als daß wir die Kritik ihre Pflicht thun und sie überall, nicht
bloß in gewissen Punkten, in voraussetzungsloser Weise unerschrocken arbeiten
lassen. Denn wie die Dinge heutzutage stehen, bleibt für die protestantische
Kirche nichts andres übrig, als daß auch der Geistliche gegenüber der Bibel
eine freie Betrachtung gewinnt und aus ihr für die Predigt das als Nährstoff
nimmt, was sich dem religiösen Bewußtsein des modernen Menschen angleichen


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[0260] Noch einmal die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums. Diese Theologie hatte einmal ihr Gutes, so lange es galt, dogmatische An¬ schauungen zu vermitteln. Das war die Zeit, wo die Konsensusunion ihre glänzenden Vertreter in Männern wie Jenen. Nitzsch, Julius Müller ze. hatte. Bei den Dogmen vermitteln, heißt ihnen die Härten nehmen und dadurch ver¬ söhnlich auf die Geister wirken. Nun aber ist seit länger als einer Generation der Nachdruck des theologischen Studiums auf die Kritik der biblischen Schriften gelegt worden, und hier vermitteln wollen, wo es sich um den historischen Be¬ stand der Dinge handelt, ist falsch. Wie es den Sinn für die Wahrheit schwächt, so führt es zu unhaltbaren Ergebnissen. Oder was sind das für Ergebnisse, wenn mau z. B., um die Echtheit des Johannesevangelinms zu halten, an¬ nimmt, wie das von einem Hauptvertreter der Vermittlungstheologie und posi¬ tiven Union geschieht, daß sich in diesem Evangelium besonders bei der Wieder¬ gabe der Reden Jesu die Individualität des Apostels stark reflektirt habe? Diese Reflexion ist so stark, daß man garnicht weiß, was Rede Jesu und was aposto¬ lische Zuthat ist, wie mau auch in den Erzählungen nicht weiß, was echt ist und was nicht. Was ist das nun für ein apostolisches Dokument, das solche Reflexionen sich zu schulden kommen läßt und wo das Thatsächliche vom Er¬ dichteten überall nur mit der größten Willkür geschieden werden kann? Und dabei soll die Methode dieser heiligen Geschichtschreibung sich nicht von der der profanen Geschichte unterscheiden? Bei einem andern berühmten Namen ist es nicht viel anders, wenn auch ihm im Johannesevangelium „Jesustexte und johanneische Auslegung unzertrennlich verwoben" erscheinen. Es ist ja viel Vortreffliches, was die jungen Leute in Büchern und Kollegien bei den Ver¬ tretern dieser Richtung lernen, aber es fehlt das kühne, sichere und konsequente Anfassen der Probleme, und die jungen Theologen kommen aus den Studien zurück ohne die Festigkeit der Grundlagen und ohne die Freudigkeit, welche die erkannte Wahrheit giebt. Treten sie nun, wie es jetzt vielfach geschieht, sofort oder doch bald nach dem Examen ins Amt, so lehnen sie sich an die an, die diese Festigkeit zu haben scheinen, weil sie entschieden sind, und werden bald dieselben Fanatiker, wie die Dressirten es von vornherein sind. So geht es zwar nicht immer, aber oft. Wollen wir über diesen Zustand der Dressur und des Fanatismus, der jetzt wieder beinahe derselbe ist, wie zu Hengstenbergs und Stahls Zeiten und den die Vermittlungstheologie nicht heben kann, auch bisweilen, in manchen ihrer Vertreter, nicht heben will, wollen wir darüber hinauskommen, so bleibt garnichts übrig, als daß wir die Kritik ihre Pflicht thun und sie überall, nicht bloß in gewissen Punkten, in voraussetzungsloser Weise unerschrocken arbeiten lassen. Denn wie die Dinge heutzutage stehen, bleibt für die protestantische Kirche nichts andres übrig, als daß auch der Geistliche gegenüber der Bibel eine freie Betrachtung gewinnt und aus ihr für die Predigt das als Nährstoff nimmt, was sich dem religiösen Bewußtsein des modernen Menschen angleichen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/260>, abgerufen am 17.09.2024.