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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Iiigendel'inneruiigen.

Eine Anzahl Knaben, von denen man ihrer Größe wegen einige für Er¬
wachsene hätte halten können, eilten geräuschvoll nach ihren Plätzen, wobei es
ohne Stoßen und absichtlichen Drängen nicht abging. Der Lehrer betrat das
Katheder, indem er laut eine Nummer rief und zugleich die Melodie eines
Chorales anstimmte, in welche die ganze Klasse einstimmte oder vielmehr ein¬
stimmen sollte. Ich hatte inzwischen am untern Ende der dritten Bank Platz
genommen und in dem kleinen Liederbuche, dessen Herausgeber unser Lehrer
war, die genannte Nummer aufgeschlagen, als ich diesen selbst plötzlich das
Katheder verlassen und auf einen vor mir sitzenden Knaben zustürzen sah, der
sich noch mit seiner Büchermappe zu schaffen machte. Diesem versetzte der Herr
"Collega V" ein paar Maulschellen, ohne sich selbst im Singen zu unter¬
brechen, worauf er sich höchst gelassen wieder auf das Katheder zurückzog. Der
Geschlagene aber fiel mit überlauter Stimme in den Gesang ein, indem er sein
Buch dicht vor's Gesicht hielt, um Herrn Ratze das spöttische Lächeln nicht
sehen zu lassen, dessen er sich nicht zu enthalten vermochte.

Als Vorbereitung zur Neligionsstunde, die sich dem Gesänge anschloß,
mutete mich diese Bestrafung eines Unachtsamen sonderbar an. Ich mußte mir
sagen, daß man bei diesem Lehrer sehr leicht zu Schläge" kommen konnte, selbst
wenn man sie nicht verdient hatte, und ich nahm mir vor, dem, wie es den
Anschein hatte, sehr heftigen Manne keine Veranlassung dazu zu geben. Nach
wenigen Tagen aber hatte ich bereits die Erfahrung gemacht, daß der von
Charakter höchst brave und gutmütige Mann bei seinem "Klapsen," wie er es
nannte, sich garnichts dachte. Seine grundgütige Natur und sein weiches Gemüt
gestatteten ihm keine strenge Kvmmandoführung, was ein völliges Entgleiten
der Zügel zur Folge hatte bei einer Schar von Knaben, die größtenteils in
das Alter der Flegeljahre getreten waren. Leider muß ich bekennen, daß die
meisten meiner Mitschüler die Schwäche des vortrefflichen Herrn, der es wirklich
mit allen herzlich gut meinte, mißbrauchten und dadurch den Unterricht in der
bedenklichsten Weise störten. Seine Angewöhnung, jede Ausschreitung der
Schüler mit schwapsenden Ohrfeigen zu bestrafen, war für die Leichtsinnigsten
in der Klasse eine willkommene Veranlassung, den Unterricht in jeder Stunde
mutwillig zu stören. Um das Vergnügen zu haben, den starken Mann sich
recht oft ereifern und bei seiner Körperbeschaffenheit sich zwischen den Bänken
so festklemmen zu sehen, daß er zum Gaudium der ganzen Klasse weder vor-
noch rückwärts konnte, trieb sie zu allerhand Streichen an. Die kleine, butter¬
weiche Hand des guten Herrn, der sich recht oft über seine zuchtlose Herde
ärgern mochte, that niemand weh; es unterhielt nur und vergnügte die Mehr¬
zahl, deu Leichterregten seine Klapse austeilen zu sehen. Freilich ging der
Nutzen des Unterrichts dabei stark in die Brüche, und unsre Fortschritte in den
Fächern, welche dieser stets schlagfertige Herr uns vorzutragen hatte, waren
nicht sehr groß.


Iiigendel'inneruiigen.

Eine Anzahl Knaben, von denen man ihrer Größe wegen einige für Er¬
wachsene hätte halten können, eilten geräuschvoll nach ihren Plätzen, wobei es
ohne Stoßen und absichtlichen Drängen nicht abging. Der Lehrer betrat das
Katheder, indem er laut eine Nummer rief und zugleich die Melodie eines
Chorales anstimmte, in welche die ganze Klasse einstimmte oder vielmehr ein¬
stimmen sollte. Ich hatte inzwischen am untern Ende der dritten Bank Platz
genommen und in dem kleinen Liederbuche, dessen Herausgeber unser Lehrer
war, die genannte Nummer aufgeschlagen, als ich diesen selbst plötzlich das
Katheder verlassen und auf einen vor mir sitzenden Knaben zustürzen sah, der
sich noch mit seiner Büchermappe zu schaffen machte. Diesem versetzte der Herr
„Collega V" ein paar Maulschellen, ohne sich selbst im Singen zu unter¬
brechen, worauf er sich höchst gelassen wieder auf das Katheder zurückzog. Der
Geschlagene aber fiel mit überlauter Stimme in den Gesang ein, indem er sein
Buch dicht vor's Gesicht hielt, um Herrn Ratze das spöttische Lächeln nicht
sehen zu lassen, dessen er sich nicht zu enthalten vermochte.

Als Vorbereitung zur Neligionsstunde, die sich dem Gesänge anschloß,
mutete mich diese Bestrafung eines Unachtsamen sonderbar an. Ich mußte mir
sagen, daß man bei diesem Lehrer sehr leicht zu Schläge» kommen konnte, selbst
wenn man sie nicht verdient hatte, und ich nahm mir vor, dem, wie es den
Anschein hatte, sehr heftigen Manne keine Veranlassung dazu zu geben. Nach
wenigen Tagen aber hatte ich bereits die Erfahrung gemacht, daß der von
Charakter höchst brave und gutmütige Mann bei seinem „Klapsen," wie er es
nannte, sich garnichts dachte. Seine grundgütige Natur und sein weiches Gemüt
gestatteten ihm keine strenge Kvmmandoführung, was ein völliges Entgleiten
der Zügel zur Folge hatte bei einer Schar von Knaben, die größtenteils in
das Alter der Flegeljahre getreten waren. Leider muß ich bekennen, daß die
meisten meiner Mitschüler die Schwäche des vortrefflichen Herrn, der es wirklich
mit allen herzlich gut meinte, mißbrauchten und dadurch den Unterricht in der
bedenklichsten Weise störten. Seine Angewöhnung, jede Ausschreitung der
Schüler mit schwapsenden Ohrfeigen zu bestrafen, war für die Leichtsinnigsten
in der Klasse eine willkommene Veranlassung, den Unterricht in jeder Stunde
mutwillig zu stören. Um das Vergnügen zu haben, den starken Mann sich
recht oft ereifern und bei seiner Körperbeschaffenheit sich zwischen den Bänken
so festklemmen zu sehen, daß er zum Gaudium der ganzen Klasse weder vor-
noch rückwärts konnte, trieb sie zu allerhand Streichen an. Die kleine, butter¬
weiche Hand des guten Herrn, der sich recht oft über seine zuchtlose Herde
ärgern mochte, that niemand weh; es unterhielt nur und vergnügte die Mehr¬
zahl, deu Leichterregten seine Klapse austeilen zu sehen. Freilich ging der
Nutzen des Unterrichts dabei stark in die Brüche, und unsre Fortschritte in den
Fächern, welche dieser stets schlagfertige Herr uns vorzutragen hatte, waren
nicht sehr groß.


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[0236] Iiigendel'inneruiigen. Eine Anzahl Knaben, von denen man ihrer Größe wegen einige für Er¬ wachsene hätte halten können, eilten geräuschvoll nach ihren Plätzen, wobei es ohne Stoßen und absichtlichen Drängen nicht abging. Der Lehrer betrat das Katheder, indem er laut eine Nummer rief und zugleich die Melodie eines Chorales anstimmte, in welche die ganze Klasse einstimmte oder vielmehr ein¬ stimmen sollte. Ich hatte inzwischen am untern Ende der dritten Bank Platz genommen und in dem kleinen Liederbuche, dessen Herausgeber unser Lehrer war, die genannte Nummer aufgeschlagen, als ich diesen selbst plötzlich das Katheder verlassen und auf einen vor mir sitzenden Knaben zustürzen sah, der sich noch mit seiner Büchermappe zu schaffen machte. Diesem versetzte der Herr „Collega V" ein paar Maulschellen, ohne sich selbst im Singen zu unter¬ brechen, worauf er sich höchst gelassen wieder auf das Katheder zurückzog. Der Geschlagene aber fiel mit überlauter Stimme in den Gesang ein, indem er sein Buch dicht vor's Gesicht hielt, um Herrn Ratze das spöttische Lächeln nicht sehen zu lassen, dessen er sich nicht zu enthalten vermochte. Als Vorbereitung zur Neligionsstunde, die sich dem Gesänge anschloß, mutete mich diese Bestrafung eines Unachtsamen sonderbar an. Ich mußte mir sagen, daß man bei diesem Lehrer sehr leicht zu Schläge» kommen konnte, selbst wenn man sie nicht verdient hatte, und ich nahm mir vor, dem, wie es den Anschein hatte, sehr heftigen Manne keine Veranlassung dazu zu geben. Nach wenigen Tagen aber hatte ich bereits die Erfahrung gemacht, daß der von Charakter höchst brave und gutmütige Mann bei seinem „Klapsen," wie er es nannte, sich garnichts dachte. Seine grundgütige Natur und sein weiches Gemüt gestatteten ihm keine strenge Kvmmandoführung, was ein völliges Entgleiten der Zügel zur Folge hatte bei einer Schar von Knaben, die größtenteils in das Alter der Flegeljahre getreten waren. Leider muß ich bekennen, daß die meisten meiner Mitschüler die Schwäche des vortrefflichen Herrn, der es wirklich mit allen herzlich gut meinte, mißbrauchten und dadurch den Unterricht in der bedenklichsten Weise störten. Seine Angewöhnung, jede Ausschreitung der Schüler mit schwapsenden Ohrfeigen zu bestrafen, war für die Leichtsinnigsten in der Klasse eine willkommene Veranlassung, den Unterricht in jeder Stunde mutwillig zu stören. Um das Vergnügen zu haben, den starken Mann sich recht oft ereifern und bei seiner Körperbeschaffenheit sich zwischen den Bänken so festklemmen zu sehen, daß er zum Gaudium der ganzen Klasse weder vor- noch rückwärts konnte, trieb sie zu allerhand Streichen an. Die kleine, butter¬ weiche Hand des guten Herrn, der sich recht oft über seine zuchtlose Herde ärgern mochte, that niemand weh; es unterhielt nur und vergnügte die Mehr¬ zahl, deu Leichterregten seine Klapse austeilen zu sehen. Freilich ging der Nutzen des Unterrichts dabei stark in die Brüche, und unsre Fortschritte in den Fächern, welche dieser stets schlagfertige Herr uns vorzutragen hatte, waren nicht sehr groß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/236>, abgerufen am 17.09.2024.