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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.
von Lrnst Willkomm. (Fortschung.)
9.

ein älterer Bruder verweilte bereits zwei Jahre auf dem Gym¬
nasium. Er hatte bisher mit den beiden Söhnen einer be¬
freundeten Familie, die ein schönes Halts am Marktplatze besaß,
ein nach dem Hofraume hinaus gelegenes Zinne rgeteilt. Für
mehr als drei Personen war leider nicht Raum in diesem Zimmer.
Es mußte deshalb, da wir Brüder doch zusammenbleiben sollten, anderswo
ein passendes Unterkommen für uns gesucht werden. Ein solches fand sich bei
einem Universitcitsfrcunde des Vaters, dem Advokaten Seidemann, welcher
ein eignes Haus allein mit seiner Familie in der Bautzener Gasse bewohnte.
Ein Giebelzimmer nach vorn bot genügenden Raum für drei Personen, denn
der Sohn des Hauses, einige Jahre älter als wir Brüder, sollte unser Stnben-
kamerad, Mentor und Vorbild sein. Es war ein stiller, ungewöhnlich fleißiger
junger Mensch, der jedem zum Muster dienen konnte. Er hatte sich bereits
bis Oberprima hinaufgearbeitet und wollte nächste Ostern die Universität be¬
ziehen.

Am Sonntage nach Ostern 1822 schlug für mich die Abschiedsstunde aus
dem Vaterhause. Ich verließ es, als eben die Sonne zur Rüste ging und
goldiger Duft sich um die waldigen Höhen legte, auf deuen ich so oft glückliche
Stunden verlebt hatte. Die Eltern gaben mir das Geleite bis auf die so¬
genannte Anhöhe, eine kleine Erhebung auf dem pfarrherrlichen Ackergelände,
von der man das weit ausgedehnte Grenzgebirge bis an die fernen Ausläufer
des Riesengebirges erblickte. Mir schwamm es vor den Augen, als ich bei




Jugenderinnerungen.
von Lrnst Willkomm. (Fortschung.)
9.

ein älterer Bruder verweilte bereits zwei Jahre auf dem Gym¬
nasium. Er hatte bisher mit den beiden Söhnen einer be¬
freundeten Familie, die ein schönes Halts am Marktplatze besaß,
ein nach dem Hofraume hinaus gelegenes Zinne rgeteilt. Für
mehr als drei Personen war leider nicht Raum in diesem Zimmer.
Es mußte deshalb, da wir Brüder doch zusammenbleiben sollten, anderswo
ein passendes Unterkommen für uns gesucht werden. Ein solches fand sich bei
einem Universitcitsfrcunde des Vaters, dem Advokaten Seidemann, welcher
ein eignes Haus allein mit seiner Familie in der Bautzener Gasse bewohnte.
Ein Giebelzimmer nach vorn bot genügenden Raum für drei Personen, denn
der Sohn des Hauses, einige Jahre älter als wir Brüder, sollte unser Stnben-
kamerad, Mentor und Vorbild sein. Es war ein stiller, ungewöhnlich fleißiger
junger Mensch, der jedem zum Muster dienen konnte. Er hatte sich bereits
bis Oberprima hinaufgearbeitet und wollte nächste Ostern die Universität be¬
ziehen.

Am Sonntage nach Ostern 1822 schlug für mich die Abschiedsstunde aus
dem Vaterhause. Ich verließ es, als eben die Sonne zur Rüste ging und
goldiger Duft sich um die waldigen Höhen legte, auf deuen ich so oft glückliche
Stunden verlebt hatte. Die Eltern gaben mir das Geleite bis auf die so¬
genannte Anhöhe, eine kleine Erhebung auf dem pfarrherrlichen Ackergelände,
von der man das weit ausgedehnte Grenzgebirge bis an die fernen Ausläufer
des Riesengebirges erblickte. Mir schwamm es vor den Augen, als ich bei


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[0234] [Abbildung] Jugenderinnerungen. von Lrnst Willkomm. (Fortschung.) 9. ein älterer Bruder verweilte bereits zwei Jahre auf dem Gym¬ nasium. Er hatte bisher mit den beiden Söhnen einer be¬ freundeten Familie, die ein schönes Halts am Marktplatze besaß, ein nach dem Hofraume hinaus gelegenes Zinne rgeteilt. Für mehr als drei Personen war leider nicht Raum in diesem Zimmer. Es mußte deshalb, da wir Brüder doch zusammenbleiben sollten, anderswo ein passendes Unterkommen für uns gesucht werden. Ein solches fand sich bei einem Universitcitsfrcunde des Vaters, dem Advokaten Seidemann, welcher ein eignes Haus allein mit seiner Familie in der Bautzener Gasse bewohnte. Ein Giebelzimmer nach vorn bot genügenden Raum für drei Personen, denn der Sohn des Hauses, einige Jahre älter als wir Brüder, sollte unser Stnben- kamerad, Mentor und Vorbild sein. Es war ein stiller, ungewöhnlich fleißiger junger Mensch, der jedem zum Muster dienen konnte. Er hatte sich bereits bis Oberprima hinaufgearbeitet und wollte nächste Ostern die Universität be¬ ziehen. Am Sonntage nach Ostern 1822 schlug für mich die Abschiedsstunde aus dem Vaterhause. Ich verließ es, als eben die Sonne zur Rüste ging und goldiger Duft sich um die waldigen Höhen legte, auf deuen ich so oft glückliche Stunden verlebt hatte. Die Eltern gaben mir das Geleite bis auf die so¬ genannte Anhöhe, eine kleine Erhebung auf dem pfarrherrlichen Ackergelände, von der man das weit ausgedehnte Grenzgebirge bis an die fernen Ausläufer des Riesengebirges erblickte. Mir schwamm es vor den Augen, als ich bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/234>, abgerufen am 17.09.2024.