Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit. suchte der Landesherr die Einrichtungen seiner Staaten möglichst gleichförmig Eine nicht unbedenkliche Erschütterung erlitt der deutsche Rechtszustand, Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit. suchte der Landesherr die Einrichtungen seiner Staaten möglichst gleichförmig Eine nicht unbedenkliche Erschütterung erlitt der deutsche Rechtszustand, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/288665"/> <fw type="header" place="top"> Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.</fw><lb/> <p xml:id="ID_607" prev="#ID_606"> suchte der Landesherr die Einrichtungen seiner Staaten möglichst gleichförmig<lb/> zu gestalten. Dieses Streben beeinflußte auch die Rechtsbildung. Damals er¬<lb/> lahmte auch die Reichsgesetzgebung wieder, zumal da die mächtigeren Fürsten,<lb/> wie die Kurfürsten, es durchsetzten, durch Ausschließung der Appellation von<lb/> ihren Gerichten an das Reichskammergericht, sei es ganz allgemein oder beim<lb/> Vorhandensein gewisser Voraussetzungen, namentlich dadurch, daß die sonst vor¬<lb/> geschriebene humum Äxp6l1g,Mis erhöht wurde, ihre Gerichte von dem Reichs¬<lb/> gericht und damit von der Beeinflussung durch die Reichsjustizpflege überhaupt<lb/> möglichst unabhängig zu machen. Dagegen begann die Partikulargesetzgebung<lb/> eine umso größere Thätigkeit. So entstanden in den einzelnen Territorien viele<lb/> Land- und Stadtrechte, die freilich, was Vollständigkeit des darin verarbeiteten<lb/> Rechtsstoffes betrifft, den alten I>6g6s bardarorum, und den Rechtsbüchern des<lb/> Mittelalters näher standen, als den Gesetzbüchern der Neuzeit. Wie also die<lb/> größte Zersplitterung Deutschlands seit dem Westfälischen Frieden im Verein<lb/> mit dem Absolutismus zur Einigung des Volkes insofern wieder zurückführte,<lb/> als wenigstens innerhalb der einzelnen Gebiete die Einheit der Verfassuugs-<lb/> verhältnisse Fortschritte machte, so wirkten jene Thatsachen auch günstig für die<lb/> Anbahnung größerer Rechtseinheit. Freilich waren ja der einzelnen Sonder¬<lb/> rechte, die, wie bemerkt, den gemeinen deutschen Rechten vorgingen und letzteres<lb/> nur anwendbar werden ließen, wenn das lückenhafte Sonderrecht schwieg,<lb/> immer noch so viele und unzählige, daß größere Staaten sich doch noch aus<lb/> verschiednen Rechtsgebieten mosaikartig zusammengesetzt zeigten, und Voltaire<lb/> sagen konnte: Wenn man in Deutschland seinen Schritt weiter setze, trete man<lb/> gleich wieder in ein andres Rechtsgebiet. Immerhin ändert dies aber nichts<lb/> an der Thatsache, daß die Zustände sich gegen früher gebessert hatten.</p><lb/> <p xml:id="ID_608" next="#ID_609"> Eine nicht unbedenkliche Erschütterung erlitt der deutsche Rechtszustand,<lb/> insofern man die Sicherheit der Anwendung des geltenden Rechts (Rechtssicher¬<lb/> heit) ins Auge faßt, durch die philosophisch-kritische Richtung des vorigen Jahr¬<lb/> hunderts, des Zeitalters der „Aufklärung." Mit dieser Richtung hängt zu¬<lb/> sammen das Aufkommen der sogenannten naturrechtlichen Schule. Anknüpfend<lb/> an Lehren des früher genannten Hugo Grotius, wollte diese Schule, als deren<lb/> Hauptvertreter ich Christian Thomasius, den Kämpfer gegen die Hexenprozesse,<lb/> und den Philosophen Christian Wolf nenne, in Erwägung der materiellen<lb/> Mängel des geltenden Rechts, die oft trotz schreienden Bedürfnisses nach Ände¬<lb/> rung wegen der vielfach einander entgegengesetzten Interessen der eigennützigen<lb/> Menschheit ans ihre Beseitigung länger warten lassen, als vielen erwünscht ist,<lb/> das ganze positive Recht einfach über Bord warfen und aus dem Gedanken<lb/> heraus ein den Menschen von Natur eingebornes natürliches Recht gewissermaßen<lb/> improvisiren. welches durch seine eigne Vernünftigkeit Anspruch auf Geltung<lb/> habe; es ist dies ganz dieselbe Richtung, die auch im Goethischen Faust in den<lb/> von Mephistopheles zu dem Schüler geäußerten Worten ihren Ausdruck fand:</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0212]
Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.
suchte der Landesherr die Einrichtungen seiner Staaten möglichst gleichförmig
zu gestalten. Dieses Streben beeinflußte auch die Rechtsbildung. Damals er¬
lahmte auch die Reichsgesetzgebung wieder, zumal da die mächtigeren Fürsten,
wie die Kurfürsten, es durchsetzten, durch Ausschließung der Appellation von
ihren Gerichten an das Reichskammergericht, sei es ganz allgemein oder beim
Vorhandensein gewisser Voraussetzungen, namentlich dadurch, daß die sonst vor¬
geschriebene humum Äxp6l1g,Mis erhöht wurde, ihre Gerichte von dem Reichs¬
gericht und damit von der Beeinflussung durch die Reichsjustizpflege überhaupt
möglichst unabhängig zu machen. Dagegen begann die Partikulargesetzgebung
eine umso größere Thätigkeit. So entstanden in den einzelnen Territorien viele
Land- und Stadtrechte, die freilich, was Vollständigkeit des darin verarbeiteten
Rechtsstoffes betrifft, den alten I>6g6s bardarorum, und den Rechtsbüchern des
Mittelalters näher standen, als den Gesetzbüchern der Neuzeit. Wie also die
größte Zersplitterung Deutschlands seit dem Westfälischen Frieden im Verein
mit dem Absolutismus zur Einigung des Volkes insofern wieder zurückführte,
als wenigstens innerhalb der einzelnen Gebiete die Einheit der Verfassuugs-
verhältnisse Fortschritte machte, so wirkten jene Thatsachen auch günstig für die
Anbahnung größerer Rechtseinheit. Freilich waren ja der einzelnen Sonder¬
rechte, die, wie bemerkt, den gemeinen deutschen Rechten vorgingen und letzteres
nur anwendbar werden ließen, wenn das lückenhafte Sonderrecht schwieg,
immer noch so viele und unzählige, daß größere Staaten sich doch noch aus
verschiednen Rechtsgebieten mosaikartig zusammengesetzt zeigten, und Voltaire
sagen konnte: Wenn man in Deutschland seinen Schritt weiter setze, trete man
gleich wieder in ein andres Rechtsgebiet. Immerhin ändert dies aber nichts
an der Thatsache, daß die Zustände sich gegen früher gebessert hatten.
Eine nicht unbedenkliche Erschütterung erlitt der deutsche Rechtszustand,
insofern man die Sicherheit der Anwendung des geltenden Rechts (Rechtssicher¬
heit) ins Auge faßt, durch die philosophisch-kritische Richtung des vorigen Jahr¬
hunderts, des Zeitalters der „Aufklärung." Mit dieser Richtung hängt zu¬
sammen das Aufkommen der sogenannten naturrechtlichen Schule. Anknüpfend
an Lehren des früher genannten Hugo Grotius, wollte diese Schule, als deren
Hauptvertreter ich Christian Thomasius, den Kämpfer gegen die Hexenprozesse,
und den Philosophen Christian Wolf nenne, in Erwägung der materiellen
Mängel des geltenden Rechts, die oft trotz schreienden Bedürfnisses nach Ände¬
rung wegen der vielfach einander entgegengesetzten Interessen der eigennützigen
Menschheit ans ihre Beseitigung länger warten lassen, als vielen erwünscht ist,
das ganze positive Recht einfach über Bord warfen und aus dem Gedanken
heraus ein den Menschen von Natur eingebornes natürliches Recht gewissermaßen
improvisiren. welches durch seine eigne Vernünftigkeit Anspruch auf Geltung
habe; es ist dies ganz dieselbe Richtung, die auch im Goethischen Faust in den
von Mephistopheles zu dem Schüler geäußerten Worten ihren Ausdruck fand:
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