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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

Religionsstunden hingestellt wurde, es drängte mich, nach dem Warum zu fragen.
Diese Frage aber zu stellen, getraute ich mir nicht, weil ich einen scharfen Ver¬
weis des Vaters fürchtete. Man war damals überhaupt in allen Kreisen be¬
züglich religiöser Dinge sehr konservativ und zog blinde Gläubigkeit forschenden
Denken entschieden vor. Auch der Vater, obwohl nicht orthodox in dem heut¬
zutage üblichen Sinne und Andersgläubigen gegenüber durchaus duldsam, ge¬
stattete doch als Religionslehrer dem Laien keine Auslegung. Er hielt sich
streng an das Vorgeschriebene, prägte dies den Konfirmanden ein, deren Unter¬
weisung er sich mit aufopfernder Pflichttreue angelegen sein ließ, und ruhte
nicht eher, bis alle das Gelehrte wußten, wenn sie es auch schwerlich begriffen,
was von der Mehrzahl nicht zu erwarten war. Zeigte sich der Vater streng
als Lehrer wie als Prediger, so charakterisirte ihn im Leben eine Milde gegen
Andersgläubige, die nur wohlthuend berührte, wenn sie auch bisweilen als
Widerspruch empfunden werden konnte. Ich ahnte diesen Widerspruch mehr,
als ich ihn verstand, wurde aber dadurch in den in mir aufkeimenden Zweifeln
an der unbestreitbaren Wahrheit des Bekenntnisses nur noch bestärkt. Daß auch
der Vater sich oft mit solchen Zweifeln herumschlug und sie gewaltsam nieder¬
kämpfte, schloß ich aus seiner Äußerung, die ich mehrmals von ihm vernahm:
er freue sich auf den Tod, weil ja nach dem Erdenleben die "Rätsel des
Glaubens" gelöst werden müßten.

"Rätsel des Glaubens!" Das Wort wollte mir nicht mehr aus dem
Sinne. Es klang mir im Ohr, wenn ich lernend auf der Fensterbank hockte,
von der aus ich einen Teil des Kirchhofes mit seinen Grabsteinen und morschen
Kreuzen überblickte; es verfolgte mich beim Spiel und machte mich plötzlich still
und unruhig; ja selbst im Traume quälte es mich noch, sodaß ich den Glauben
überhaupt garnicht für einen großen Segen halten konnte. Daß aber der
Vater dennoch Recht hatte, von einem "Rätsel des Glaubens" zu sprechen,
sollte mir alsbald recht deutlich werden.

Die nahe Grenze Böhmens, wo alles Volk katholisch war und die weib¬
liche Landbevölkerung sich durch eine auffallend geformte Kopfbekleidung von
den protestantischen Frauen unterschied, führte nicht selten Katholiken auch in
unsre Kirche. Manche, welche den Vater hier predigen hörten, machten ihm
nach dem Gottesdienste einen Besuch, dankten ihm für die Erbauung, die sie
aus seinen Worten geschöpft haben wollten, und aßen wohl auch mit an unserm
Tische. Das Gespräch drehte sich dann meist um religiöse Dinge, doch vermied
es der Vater stets, einen der widerstreitenden Punkte beider Bekenntnisse zu be¬
rühren. Es blieb aber nicht bloß bei Besuchen katholischer Laien von Welt¬
bildung -- es waren meistenteils reiche Fabrikanten, Bleicher und Wechsler aus
Warnsdorf, Numburg, Schönlinde ze. --, es kamen auch von Zeit zu Zeit ka¬
tholische Geistliche zu uns, und zwar bloß, um mit dem Vater ein paar Stunden
angenehm zu verplaudern. Daß vom Vater Gegenbesuche auf den betreffenden


Jugenderinnerungen.

Religionsstunden hingestellt wurde, es drängte mich, nach dem Warum zu fragen.
Diese Frage aber zu stellen, getraute ich mir nicht, weil ich einen scharfen Ver¬
weis des Vaters fürchtete. Man war damals überhaupt in allen Kreisen be¬
züglich religiöser Dinge sehr konservativ und zog blinde Gläubigkeit forschenden
Denken entschieden vor. Auch der Vater, obwohl nicht orthodox in dem heut¬
zutage üblichen Sinne und Andersgläubigen gegenüber durchaus duldsam, ge¬
stattete doch als Religionslehrer dem Laien keine Auslegung. Er hielt sich
streng an das Vorgeschriebene, prägte dies den Konfirmanden ein, deren Unter¬
weisung er sich mit aufopfernder Pflichttreue angelegen sein ließ, und ruhte
nicht eher, bis alle das Gelehrte wußten, wenn sie es auch schwerlich begriffen,
was von der Mehrzahl nicht zu erwarten war. Zeigte sich der Vater streng
als Lehrer wie als Prediger, so charakterisirte ihn im Leben eine Milde gegen
Andersgläubige, die nur wohlthuend berührte, wenn sie auch bisweilen als
Widerspruch empfunden werden konnte. Ich ahnte diesen Widerspruch mehr,
als ich ihn verstand, wurde aber dadurch in den in mir aufkeimenden Zweifeln
an der unbestreitbaren Wahrheit des Bekenntnisses nur noch bestärkt. Daß auch
der Vater sich oft mit solchen Zweifeln herumschlug und sie gewaltsam nieder¬
kämpfte, schloß ich aus seiner Äußerung, die ich mehrmals von ihm vernahm:
er freue sich auf den Tod, weil ja nach dem Erdenleben die „Rätsel des
Glaubens" gelöst werden müßten.

„Rätsel des Glaubens!" Das Wort wollte mir nicht mehr aus dem
Sinne. Es klang mir im Ohr, wenn ich lernend auf der Fensterbank hockte,
von der aus ich einen Teil des Kirchhofes mit seinen Grabsteinen und morschen
Kreuzen überblickte; es verfolgte mich beim Spiel und machte mich plötzlich still
und unruhig; ja selbst im Traume quälte es mich noch, sodaß ich den Glauben
überhaupt garnicht für einen großen Segen halten konnte. Daß aber der
Vater dennoch Recht hatte, von einem „Rätsel des Glaubens" zu sprechen,
sollte mir alsbald recht deutlich werden.

Die nahe Grenze Böhmens, wo alles Volk katholisch war und die weib¬
liche Landbevölkerung sich durch eine auffallend geformte Kopfbekleidung von
den protestantischen Frauen unterschied, führte nicht selten Katholiken auch in
unsre Kirche. Manche, welche den Vater hier predigen hörten, machten ihm
nach dem Gottesdienste einen Besuch, dankten ihm für die Erbauung, die sie
aus seinen Worten geschöpft haben wollten, und aßen wohl auch mit an unserm
Tische. Das Gespräch drehte sich dann meist um religiöse Dinge, doch vermied
es der Vater stets, einen der widerstreitenden Punkte beider Bekenntnisse zu be¬
rühren. Es blieb aber nicht bloß bei Besuchen katholischer Laien von Welt¬
bildung — es waren meistenteils reiche Fabrikanten, Bleicher und Wechsler aus
Warnsdorf, Numburg, Schönlinde ze. —, es kamen auch von Zeit zu Zeit ka¬
tholische Geistliche zu uns, und zwar bloß, um mit dem Vater ein paar Stunden
angenehm zu verplaudern. Daß vom Vater Gegenbesuche auf den betreffenden


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[0188] Jugenderinnerungen. Religionsstunden hingestellt wurde, es drängte mich, nach dem Warum zu fragen. Diese Frage aber zu stellen, getraute ich mir nicht, weil ich einen scharfen Ver¬ weis des Vaters fürchtete. Man war damals überhaupt in allen Kreisen be¬ züglich religiöser Dinge sehr konservativ und zog blinde Gläubigkeit forschenden Denken entschieden vor. Auch der Vater, obwohl nicht orthodox in dem heut¬ zutage üblichen Sinne und Andersgläubigen gegenüber durchaus duldsam, ge¬ stattete doch als Religionslehrer dem Laien keine Auslegung. Er hielt sich streng an das Vorgeschriebene, prägte dies den Konfirmanden ein, deren Unter¬ weisung er sich mit aufopfernder Pflichttreue angelegen sein ließ, und ruhte nicht eher, bis alle das Gelehrte wußten, wenn sie es auch schwerlich begriffen, was von der Mehrzahl nicht zu erwarten war. Zeigte sich der Vater streng als Lehrer wie als Prediger, so charakterisirte ihn im Leben eine Milde gegen Andersgläubige, die nur wohlthuend berührte, wenn sie auch bisweilen als Widerspruch empfunden werden konnte. Ich ahnte diesen Widerspruch mehr, als ich ihn verstand, wurde aber dadurch in den in mir aufkeimenden Zweifeln an der unbestreitbaren Wahrheit des Bekenntnisses nur noch bestärkt. Daß auch der Vater sich oft mit solchen Zweifeln herumschlug und sie gewaltsam nieder¬ kämpfte, schloß ich aus seiner Äußerung, die ich mehrmals von ihm vernahm: er freue sich auf den Tod, weil ja nach dem Erdenleben die „Rätsel des Glaubens" gelöst werden müßten. „Rätsel des Glaubens!" Das Wort wollte mir nicht mehr aus dem Sinne. Es klang mir im Ohr, wenn ich lernend auf der Fensterbank hockte, von der aus ich einen Teil des Kirchhofes mit seinen Grabsteinen und morschen Kreuzen überblickte; es verfolgte mich beim Spiel und machte mich plötzlich still und unruhig; ja selbst im Traume quälte es mich noch, sodaß ich den Glauben überhaupt garnicht für einen großen Segen halten konnte. Daß aber der Vater dennoch Recht hatte, von einem „Rätsel des Glaubens" zu sprechen, sollte mir alsbald recht deutlich werden. Die nahe Grenze Böhmens, wo alles Volk katholisch war und die weib¬ liche Landbevölkerung sich durch eine auffallend geformte Kopfbekleidung von den protestantischen Frauen unterschied, führte nicht selten Katholiken auch in unsre Kirche. Manche, welche den Vater hier predigen hörten, machten ihm nach dem Gottesdienste einen Besuch, dankten ihm für die Erbauung, die sie aus seinen Worten geschöpft haben wollten, und aßen wohl auch mit an unserm Tische. Das Gespräch drehte sich dann meist um religiöse Dinge, doch vermied es der Vater stets, einen der widerstreitenden Punkte beider Bekenntnisse zu be¬ rühren. Es blieb aber nicht bloß bei Besuchen katholischer Laien von Welt¬ bildung — es waren meistenteils reiche Fabrikanten, Bleicher und Wechsler aus Warnsdorf, Numburg, Schönlinde ze. —, es kamen auch von Zeit zu Zeit ka¬ tholische Geistliche zu uns, und zwar bloß, um mit dem Vater ein paar Stunden angenehm zu verplaudern. Daß vom Vater Gegenbesuche auf den betreffenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/188>, abgerufen am 17.09.2024.