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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die Ariegsbefürchtungen und die Kevue -Zeh 6eux monäss.

So schließt der Aussatz. Ist nun dies rührende Plaidoyer für die eigne
Unschuld und Friedfertigkeit, diese flehentliche Bitte an Europa: Helft uns!
der Oger Deutschland will den kleinen Däumling Frankreich verschlingen! helft
uns, schützt uns, sonst kommt auch an euch die Reihe, gefressen zu werden -- ist
das Ernst oder Heuchelei? Der Franzose kreuzige die sonst so rege Eitelkeit,
nur um sein Vaterland dem übermächtigen Nachbar gegenüber, der ganz Europa
tyrannisirt, recht harmlos und zugleich schwer gefährdet darzustellen. Er läßt
uns 73000 auf unbestimmte Zeit einberufene Reservisten in die an der Grenze
-- natürlich der französischen -- liegenden Regimenter stecken, läßt heimlich
verschiedne Armeekorps auf die Kriegsstärke bringen, kurz, Maßregeln ergreifen,
die nur in der Voraussicht eines nahe bevorstehenden Krieges erklärlich sein
würden. Und was thut Frankreich indessen? Nichts -- es schwärmt nur für
die Abkürzung der Dienstzeit, die sein schmählich als Chauvinist verleumdeter
Kriegsminister durchsetzen will. Daß seit 1871 die Zahl der Linientruppen ver¬
doppelt, die der Reserven verdreifacht worden, daß dadurch thatsächlich die franzö¬
sische Armee der unsrigen an Zahl überlegen ist; die fortwährenden Verstärkungen
der Grenztruppen, die Barackenlager, die anstandslose Bewilligung der außer¬
ordentlichen Aufwendungen des Militärbudgets: alles das wird ebenso einfach
ignorirt wie die Hetzereien der Patriotenliga, das Treiben der sogenannten elsäs-
sischen Vereine, die Speichelleckereien der französischen Republikaner den russischen
Autokraten und der panslawistischen Partei gegenüber, das ganze Buhlen um
das russische Bündnis, die Haltung der meisten Organe der öffentlichen Mei¬
nung, die der Gerichte und Verwaltungsbehörden bis zu Mitgliedern des Mi¬
nisteriums hinauf, ebenso wie die sechzehn Jahre hindurch ununterbrochen be¬
währte Friedensliebe unsers greisen Kaisers und seiner Negierung, die neben
der erworbenen Machtstellung der wahre Grund ist, daß man dem deutschen
Reiche, wenn auch nicht die Hegemonie, doch gewissermaßen den Vorsitz im
europäischen Völkerrate zugestanden hat. Charakteristisch sind die Sophismen
und logischen Bockssprünge, durch welche der Verfasser, wenn er durchaus nicht
umhin kann, anzuerkennen, daß das deutsche Volk den Krieg nicht will, daß die
deutsche Regierung wiederholt und entschieden erklärt hat, Frankreich unter
keinen Umständen angreifen zu wollen, im nächsten Augenblick die Volte schlägt,
um deu Beweis zu führen, daß nur Deutschland allein schuld an der ganzen
Kriegsfurcht, daß es allein dabei interessirt sei, weil es "den Kultus der Ge¬
walt" habe, was hier offenbar heißen soll, daß es ganz Europa seine unbe¬
dingte Hegemonie aufzwingen wollte, und daß zugleich -- risuiri tengatis,
Ainivi! -- die deutsche Regierung durch ihre innern Schwierigkeiten genötigt
sei, eine Ablenkung nach außen zu suchen.

Daß es uns die tief verletzte Eitelkeit und die dadurch gestachelte Revanche¬
lust unsrer Nachbarn im Westen nicht verzeihen kann, daß wir 1871 nicht auf
unsern Lorberen eingeschlafen sind, um uns beim Erwachen plötzlich einem


Die Ariegsbefürchtungen und die Kevue -Zeh 6eux monäss.

So schließt der Aussatz. Ist nun dies rührende Plaidoyer für die eigne
Unschuld und Friedfertigkeit, diese flehentliche Bitte an Europa: Helft uns!
der Oger Deutschland will den kleinen Däumling Frankreich verschlingen! helft
uns, schützt uns, sonst kommt auch an euch die Reihe, gefressen zu werden — ist
das Ernst oder Heuchelei? Der Franzose kreuzige die sonst so rege Eitelkeit,
nur um sein Vaterland dem übermächtigen Nachbar gegenüber, der ganz Europa
tyrannisirt, recht harmlos und zugleich schwer gefährdet darzustellen. Er läßt
uns 73000 auf unbestimmte Zeit einberufene Reservisten in die an der Grenze
— natürlich der französischen — liegenden Regimenter stecken, läßt heimlich
verschiedne Armeekorps auf die Kriegsstärke bringen, kurz, Maßregeln ergreifen,
die nur in der Voraussicht eines nahe bevorstehenden Krieges erklärlich sein
würden. Und was thut Frankreich indessen? Nichts — es schwärmt nur für
die Abkürzung der Dienstzeit, die sein schmählich als Chauvinist verleumdeter
Kriegsminister durchsetzen will. Daß seit 1871 die Zahl der Linientruppen ver¬
doppelt, die der Reserven verdreifacht worden, daß dadurch thatsächlich die franzö¬
sische Armee der unsrigen an Zahl überlegen ist; die fortwährenden Verstärkungen
der Grenztruppen, die Barackenlager, die anstandslose Bewilligung der außer¬
ordentlichen Aufwendungen des Militärbudgets: alles das wird ebenso einfach
ignorirt wie die Hetzereien der Patriotenliga, das Treiben der sogenannten elsäs-
sischen Vereine, die Speichelleckereien der französischen Republikaner den russischen
Autokraten und der panslawistischen Partei gegenüber, das ganze Buhlen um
das russische Bündnis, die Haltung der meisten Organe der öffentlichen Mei¬
nung, die der Gerichte und Verwaltungsbehörden bis zu Mitgliedern des Mi¬
nisteriums hinauf, ebenso wie die sechzehn Jahre hindurch ununterbrochen be¬
währte Friedensliebe unsers greisen Kaisers und seiner Negierung, die neben
der erworbenen Machtstellung der wahre Grund ist, daß man dem deutschen
Reiche, wenn auch nicht die Hegemonie, doch gewissermaßen den Vorsitz im
europäischen Völkerrate zugestanden hat. Charakteristisch sind die Sophismen
und logischen Bockssprünge, durch welche der Verfasser, wenn er durchaus nicht
umhin kann, anzuerkennen, daß das deutsche Volk den Krieg nicht will, daß die
deutsche Regierung wiederholt und entschieden erklärt hat, Frankreich unter
keinen Umständen angreifen zu wollen, im nächsten Augenblick die Volte schlägt,
um deu Beweis zu führen, daß nur Deutschland allein schuld an der ganzen
Kriegsfurcht, daß es allein dabei interessirt sei, weil es „den Kultus der Ge¬
walt" habe, was hier offenbar heißen soll, daß es ganz Europa seine unbe¬
dingte Hegemonie aufzwingen wollte, und daß zugleich — risuiri tengatis,
Ainivi! — die deutsche Regierung durch ihre innern Schwierigkeiten genötigt
sei, eine Ablenkung nach außen zu suchen.

Daß es uns die tief verletzte Eitelkeit und die dadurch gestachelte Revanche¬
lust unsrer Nachbarn im Westen nicht verzeihen kann, daß wir 1871 nicht auf
unsern Lorberen eingeschlafen sind, um uns beim Erwachen plötzlich einem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/18>, abgerufen am 17.09.2024.