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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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cum irgend ein Deutscher die Vorwürfe nicht verdient, welche
uns DuBois-Reymond wegen Vernachlässigung der Muttersprache
und der Redekunst nur zu begründeter Weise macht, so ist er es
selbst. Seit 1852 Mitglied, seit 1867 beständiger Sekretär der
Akademie der Wissenschaften, wiederholt Rektor der Universität,
ist er ungewöhnlich oft in die Lage gekommen, eine Festversammlung für ein
wissenschaftliches Thema zu gewinnen und dabei meistens noch dieses Thema
in Beziehung zum Tage zu bringen; der Anforderung, gehaltvollen Inhalt in
der ansprechendsten Form, geschmackvoll von Pathos umrahmt, vorzutragen,
brachte er, von Abstammung französischer Schweizer, offenbar ein reicheres
Maß natürlicher Begabung zu; er hat sich aber ebenso unverkennbar Zeit und
Mühe nicht verdrießen lassen, das angeborne Talent bis zur Virtuosität aus¬
zubilden. Was uns bei deutschen Rednern so selten begegnet: ihn zu hören
bereitet einen künstlerischen Genuß, über den wir außer Acht lassen können,
ob der Gegenstand uns anzieht oder nicht, ob wir die Ansichten des Redners
teilen oder nicht, einen Genuß, in welchem es uns auch nicht stört, daß der
Künstler selbst mit so viel Wohlgefallen seinen sorgfältig abgewogenen, abge¬
rundeten und abgeschliffenen Perioden zu lauschen scheint. Seine Verehrer
werden deshalb gewiß mit Befriedigung nach der Sammlung der Reden von
Emil DuBois-Reymond greifen, welche kürzlich in zwei stattlichen Bünden
bei Veit und Comp. in Leipzig erschienen sind. Nicht um die fünfundvierzig
Reden und Vorreden, von denen die Gedächtnisrede auf den Physiologen
Johannes Müller allein zwölf Druckbogen füllt, hinter einander zu lesen
das versteht sich von selbst, und deshalb scheinen die dahin zielenden Besorg¬
nisse des Verfassers im Vorwort übertrieben zu sein. Jeder wird, wie wir es
selbst gethan haben, von Zeit zu Zeit eins der Bücher aufschlagen, um die
Erinnerung an früher bereits gelesenes aufzufrischen.

Der Verfasser hat die erste Folge, welche mit der Kopie einer Nadirung
Chodowieckis (Voltaire vor einem Tische mit physikalischen Geräten und der
Unterschrift: ^'al 6t6 1s xreiuisr Z, taire eonnaitrö vn I^nes ig. xl^ilosoxbio
Ä<z Newton) geschmückt ist, mit dem Untertitel versehen: Literatur, Philosophie,
Zeitgeschichte; die zweite, deren Titelblatt Galvani auf dem flachen Dache vor
seiner Wohnung in Bologna, Strada Ugo Bassi, mit Froschexperimenten be¬
schäftigt zeigt, soll Biographie, Wissenschaft, Ansprachen enthalten. Diese
Kategorien erinnern etwas an die in Blutenlesen üblichen: Natur, Herz und Welt
u. s. w., und in dem einen wie in dem andern Falle wird sich öfter ein Zweifel
einstellen, weshalb ein Stück in dieser und nicht in einer andern Abteilung


cum irgend ein Deutscher die Vorwürfe nicht verdient, welche
uns DuBois-Reymond wegen Vernachlässigung der Muttersprache
und der Redekunst nur zu begründeter Weise macht, so ist er es
selbst. Seit 1852 Mitglied, seit 1867 beständiger Sekretär der
Akademie der Wissenschaften, wiederholt Rektor der Universität,
ist er ungewöhnlich oft in die Lage gekommen, eine Festversammlung für ein
wissenschaftliches Thema zu gewinnen und dabei meistens noch dieses Thema
in Beziehung zum Tage zu bringen; der Anforderung, gehaltvollen Inhalt in
der ansprechendsten Form, geschmackvoll von Pathos umrahmt, vorzutragen,
brachte er, von Abstammung französischer Schweizer, offenbar ein reicheres
Maß natürlicher Begabung zu; er hat sich aber ebenso unverkennbar Zeit und
Mühe nicht verdrießen lassen, das angeborne Talent bis zur Virtuosität aus¬
zubilden. Was uns bei deutschen Rednern so selten begegnet: ihn zu hören
bereitet einen künstlerischen Genuß, über den wir außer Acht lassen können,
ob der Gegenstand uns anzieht oder nicht, ob wir die Ansichten des Redners
teilen oder nicht, einen Genuß, in welchem es uns auch nicht stört, daß der
Künstler selbst mit so viel Wohlgefallen seinen sorgfältig abgewogenen, abge¬
rundeten und abgeschliffenen Perioden zu lauschen scheint. Seine Verehrer
werden deshalb gewiß mit Befriedigung nach der Sammlung der Reden von
Emil DuBois-Reymond greifen, welche kürzlich in zwei stattlichen Bünden
bei Veit und Comp. in Leipzig erschienen sind. Nicht um die fünfundvierzig
Reden und Vorreden, von denen die Gedächtnisrede auf den Physiologen
Johannes Müller allein zwölf Druckbogen füllt, hinter einander zu lesen
das versteht sich von selbst, und deshalb scheinen die dahin zielenden Besorg¬
nisse des Verfassers im Vorwort übertrieben zu sein. Jeder wird, wie wir es
selbst gethan haben, von Zeit zu Zeit eins der Bücher aufschlagen, um die
Erinnerung an früher bereits gelesenes aufzufrischen.

Der Verfasser hat die erste Folge, welche mit der Kopie einer Nadirung
Chodowieckis (Voltaire vor einem Tische mit physikalischen Geräten und der
Unterschrift: ^'al 6t6 1s xreiuisr Z, taire eonnaitrö vn I^nes ig. xl^ilosoxbio
Ä<z Newton) geschmückt ist, mit dem Untertitel versehen: Literatur, Philosophie,
Zeitgeschichte; die zweite, deren Titelblatt Galvani auf dem flachen Dache vor
seiner Wohnung in Bologna, Strada Ugo Bassi, mit Froschexperimenten be¬
schäftigt zeigt, soll Biographie, Wissenschaft, Ansprachen enthalten. Diese
Kategorien erinnern etwas an die in Blutenlesen üblichen: Natur, Herz und Welt
u. s. w., und in dem einen wie in dem andern Falle wird sich öfter ein Zweifel
einstellen, weshalb ein Stück in dieser und nicht in einer andern Abteilung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/178>, abgerufen am 17.09.2024.