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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.

Olearius: "Des Menschen Leben ist kurz, und in einer Generation kommen nicht
alle Casus vor. Und dann ist der Wille und die Meinung der Menschen
schwankend, dem däucht das recht, was der andre morgen mißbilliget; und so
ist Verwirrung und Ungerechtigkeit unvermeidlich. Das alles bestimmen die
Gesetze."

Das Gewohnheitsrecht muß man sich für die allerälteste Zeit als ein ein¬
heitliches denken; der Grund dafür liegt in der einheitlichen Abstammung unsers
in der Urzeit noch nicht in Stämme zerfallenden Volkes. Allein in geschicht¬
licher Zeit besteht kein gemeinsames Recht mehr, sondern es giebt nur noch
Stammesrechte, deren Ähnlichkeit untereinander allerdings auf die frühere
Rechtseinheit zurückweist. Mit der großem Mannichfaltigkeit des Rechtslebens
stellte sich das Bedürfnis, mit dem Aufkommen einer Schriftsprache und der
Schrcibensknnde die Möglichkeit ein, das Gewohnheitsrecht aufzuzeichnen, um
die Rechtssicherheit zu befördern. So entstanden die sogenannten IsAvs dar-
dArorum, die Volksrechte der einzelnen deutschen Stämme, Arbeiten, an welche
man natürlich nicht die Anforderungen neuerer Gesetzgebungskunst stellen darf,
wenn man sie gehörig würdigen will. Sie sind, weil die deutsche Sprache für
solche Verwendung noch zu wenig ausgebildet war, in der damaligen Schrift¬
sprache der Kirche und des Staates, nämlich in der lateinischen Sprache, wenn
auch unter Latinisirung deutscher Ncchtsausdrücke, auf Veranlassung der
Stammesherrscher durch rechtskundige Männer verfaßt und im Laufe der Zeit
umgearbeitet und mit Zusätzen versehen worden. Der Name 1vM8 l^rdarorum,
eine erst später von den Rechtsgelehrten erfundene Bezeichnung, soll sie unter¬
scheiden von denjenigen Gesetzen, welche in den von den Deutschen eroberten
Ländern des römischen Reiches für die römischen Einwohner in Geltung waren.
Barbaren wurden die Deutschen von den Römern genannt, die sich des Besitzes
der feineren Kultur erfreuten, Barbaren nannten sie sich auch wohl selbst im
Gefühl des Stolzes, die verweichlichten Römer besiegt und unterworfen zu
haben. Für das eigentliche Deutschland sind un solchen IsZ'Sö zu erwähnen: die
I^x Kalioa. der salischen Franken, damals in Flandern und Brcibcmt seßhaft;
die Ilsx lÄprmria. oder Rixuarioruw der an dem Ufer des Niederrheins
wohnenden ripuarischen Franken; die I^sx ^liWiannoi-um des schwäbischen
Stammes, am Oberrhein; ferner die I^sx L^uvarioruin der Vaiern, die I^sx
?risiouuin der die Küsten der Nordsee bevölkernden freiheitliebenden Friesen;
die luvx Lgxcmuin der südlich von den Friesen zwischen Rhein und Elbe, nicht
etwa im heutigen Sachsen, sondern hauptsächlich in Westfalen und Hannover
angesessenen, aus dem zähen Widerstande gegen Karls des Großen Christiani-
sirungswerk bekannten großen Vereinigung der drei Unterstämme Westfalen,
Engern und Ostfalen; endlich die I^ox ^uurmAvrum der Thüringer. Wir
sind noch jetzt im Besitze dieser IvFss, da sie infolge der mehrfachen Unigestal¬
tungen, die sie im Laufe der Zeit erfuhren, uns überliefert sind. Um ihre


Die geschichtlichen Grundlagen der deutschen Rechtseinheit.

Olearius: „Des Menschen Leben ist kurz, und in einer Generation kommen nicht
alle Casus vor. Und dann ist der Wille und die Meinung der Menschen
schwankend, dem däucht das recht, was der andre morgen mißbilliget; und so
ist Verwirrung und Ungerechtigkeit unvermeidlich. Das alles bestimmen die
Gesetze."

Das Gewohnheitsrecht muß man sich für die allerälteste Zeit als ein ein¬
heitliches denken; der Grund dafür liegt in der einheitlichen Abstammung unsers
in der Urzeit noch nicht in Stämme zerfallenden Volkes. Allein in geschicht¬
licher Zeit besteht kein gemeinsames Recht mehr, sondern es giebt nur noch
Stammesrechte, deren Ähnlichkeit untereinander allerdings auf die frühere
Rechtseinheit zurückweist. Mit der großem Mannichfaltigkeit des Rechtslebens
stellte sich das Bedürfnis, mit dem Aufkommen einer Schriftsprache und der
Schrcibensknnde die Möglichkeit ein, das Gewohnheitsrecht aufzuzeichnen, um
die Rechtssicherheit zu befördern. So entstanden die sogenannten IsAvs dar-
dArorum, die Volksrechte der einzelnen deutschen Stämme, Arbeiten, an welche
man natürlich nicht die Anforderungen neuerer Gesetzgebungskunst stellen darf,
wenn man sie gehörig würdigen will. Sie sind, weil die deutsche Sprache für
solche Verwendung noch zu wenig ausgebildet war, in der damaligen Schrift¬
sprache der Kirche und des Staates, nämlich in der lateinischen Sprache, wenn
auch unter Latinisirung deutscher Ncchtsausdrücke, auf Veranlassung der
Stammesherrscher durch rechtskundige Männer verfaßt und im Laufe der Zeit
umgearbeitet und mit Zusätzen versehen worden. Der Name 1vM8 l^rdarorum,
eine erst später von den Rechtsgelehrten erfundene Bezeichnung, soll sie unter¬
scheiden von denjenigen Gesetzen, welche in den von den Deutschen eroberten
Ländern des römischen Reiches für die römischen Einwohner in Geltung waren.
Barbaren wurden die Deutschen von den Römern genannt, die sich des Besitzes
der feineren Kultur erfreuten, Barbaren nannten sie sich auch wohl selbst im
Gefühl des Stolzes, die verweichlichten Römer besiegt und unterworfen zu
haben. Für das eigentliche Deutschland sind un solchen IsZ'Sö zu erwähnen: die
I^x Kalioa. der salischen Franken, damals in Flandern und Brcibcmt seßhaft;
die Ilsx lÄprmria. oder Rixuarioruw der an dem Ufer des Niederrheins
wohnenden ripuarischen Franken; die I^sx ^liWiannoi-um des schwäbischen
Stammes, am Oberrhein; ferner die I^sx L^uvarioruin der Vaiern, die I^sx
?risiouuin der die Küsten der Nordsee bevölkernden freiheitliebenden Friesen;
die luvx Lgxcmuin der südlich von den Friesen zwischen Rhein und Elbe, nicht
etwa im heutigen Sachsen, sondern hauptsächlich in Westfalen und Hannover
angesessenen, aus dem zähen Widerstande gegen Karls des Großen Christiani-
sirungswerk bekannten großen Vereinigung der drei Unterstämme Westfalen,
Engern und Ostfalen; endlich die I^ox ^uurmAvrum der Thüringer. Wir
sind noch jetzt im Besitze dieser IvFss, da sie infolge der mehrfachen Unigestal¬
tungen, die sie im Laufe der Zeit erfuhren, uns überliefert sind. Um ihre


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/158>, abgerufen am 17.09.2024.