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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr.

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Jugenderinnerungen.

schöne Aussicht auf das nahe Grenzgebirge, die reichbebaute, mit Dörfern über¬
säte Landschaft und in weiterer Feine auf die hochragenden, in violetten Duft
getauchten Jserkämmc zu genießen. Selbst im Spätherbst, wenn die Winde
nicht allzu rauh wehten, bot ein solcher Spaziergang landschaftlichen Genuß,
am meisten bei Soiniennntergang; denn dann glühten die beschneiten kahlen
Häupter des hohen Jeschken und der langgestreckten Tnfclfichte in rosigem Licht
und ließen uns die Pracht des Alpenglühens ahnen.

Alljährlich einmal wurde der Schülerbusch und das daran stoßende breite
Thal der Schauplatz muntern, ja ausgelassenen Treibens und wilden Lebens.
Die Schüler des Gymnasiums in Zitta" veranstalteten nämlich, uraltem Her¬
kommen folgend, am Tage der Ratskür einen solennen Auszug mit Fahnen,
alten Degen, Hellebarden, Pistolen und sonstigem Gewässer, um in freier Natur,
in Busch und Thal einige Stunden lang ein lustiges Zigeunerleben zu fuhren.
Man schlug an den Abhängen des Schülerbuschthales, meistenteils an dessen
Nordabhänge, der mit hohen, alten Kiefern bestanden war und ziemlichen Schatten
gewährte, Zelte auf, lagerte sich darunter singend, johlend und rauchend, putzte
sich räuberartig aussehend oder wenigstens phantastisch heraus und suchte in
solchem Anzüge die nächsten Bauernhöfe auf, um für das zu haltende Fest¬
mahl unter freiem Himmel die nötigen Lebensmittel aufzutreiben. Hatten die
Schüler gefunden, was sie suchten, so ging es an die Zubereitung der zusammen¬
getragenen Lebensmittel, wobei sich die ausgelassene Schaar köstlich vergnügte.
Dies Zigeunerleben dauerte bis Sonnenuntergang. Dann wurden die Feuer
zwischen den Bäumen gelöscht, die Zelte abgebrochen, und unter fröhlichem Ge¬
sänge traten die Gymnasiasten den Heimweg an. Wie es kam, daß dieser
Auszug der Schüler am Ratskürtagc ganz plötzlich nicht mehr gehalten wurde
und für immer verschwand, kann ich nicht sagen. Der uralte Brauch war schon
abgekommen, als ich das Gymnasium bezog. Nur in dem Namen "Schttler-
bnsch," den Berg und Thal von diesem Besuche der Schüler des Zittauer
Gymnasiums erhalte" hatte, lebt die bereits halbvergcsseue Sitte noch fort.

Eines Tages im Sommer hatte der Vater mit meinem Bruder und mir
das ganze Revier dieser Gegend cibgelanfen, um in deu umfangreichen Stein¬
brüchen der Südseite nach Dendriten zu suchen, die sich oft in überraschender
Schönheit in dem zertrümmerten Gestein vorfanden. Bei dieser Beschäftigung
überraschte uns ein Gewitter, das ungewöhnlich rasch vom Gebirge ins Land
hereinzog und sich in heftigen Regen- und Hagelschauern entlud. Wir suchten
in einer Felsspalte Schutz und ließen das Unwetter austoben. Um nun
möglichst bald unser Haus wieder zu erreichen, da bereits ein neues Wetter
hinter uns drohte, schlug der Vater einen wenig betretenen Fußsteig ein, der
über eine steile Höhe, die Katzenstirn genannt, ins Thal hinunterführte. Dieser
Pfad, an sich schon schlecht gangbar und eigentlich bloß zu begehen, wenn man
sich halbrutschend an den überhängenden Büschen fortgriff, war vom Regen


Jugenderinnerungen.

schöne Aussicht auf das nahe Grenzgebirge, die reichbebaute, mit Dörfern über¬
säte Landschaft und in weiterer Feine auf die hochragenden, in violetten Duft
getauchten Jserkämmc zu genießen. Selbst im Spätherbst, wenn die Winde
nicht allzu rauh wehten, bot ein solcher Spaziergang landschaftlichen Genuß,
am meisten bei Soiniennntergang; denn dann glühten die beschneiten kahlen
Häupter des hohen Jeschken und der langgestreckten Tnfclfichte in rosigem Licht
und ließen uns die Pracht des Alpenglühens ahnen.

Alljährlich einmal wurde der Schülerbusch und das daran stoßende breite
Thal der Schauplatz muntern, ja ausgelassenen Treibens und wilden Lebens.
Die Schüler des Gymnasiums in Zitta» veranstalteten nämlich, uraltem Her¬
kommen folgend, am Tage der Ratskür einen solennen Auszug mit Fahnen,
alten Degen, Hellebarden, Pistolen und sonstigem Gewässer, um in freier Natur,
in Busch und Thal einige Stunden lang ein lustiges Zigeunerleben zu fuhren.
Man schlug an den Abhängen des Schülerbuschthales, meistenteils an dessen
Nordabhänge, der mit hohen, alten Kiefern bestanden war und ziemlichen Schatten
gewährte, Zelte auf, lagerte sich darunter singend, johlend und rauchend, putzte
sich räuberartig aussehend oder wenigstens phantastisch heraus und suchte in
solchem Anzüge die nächsten Bauernhöfe auf, um für das zu haltende Fest¬
mahl unter freiem Himmel die nötigen Lebensmittel aufzutreiben. Hatten die
Schüler gefunden, was sie suchten, so ging es an die Zubereitung der zusammen¬
getragenen Lebensmittel, wobei sich die ausgelassene Schaar köstlich vergnügte.
Dies Zigeunerleben dauerte bis Sonnenuntergang. Dann wurden die Feuer
zwischen den Bäumen gelöscht, die Zelte abgebrochen, und unter fröhlichem Ge¬
sänge traten die Gymnasiasten den Heimweg an. Wie es kam, daß dieser
Auszug der Schüler am Ratskürtagc ganz plötzlich nicht mehr gehalten wurde
und für immer verschwand, kann ich nicht sagen. Der uralte Brauch war schon
abgekommen, als ich das Gymnasium bezog. Nur in dem Namen „Schttler-
bnsch," den Berg und Thal von diesem Besuche der Schüler des Zittauer
Gymnasiums erhalte» hatte, lebt die bereits halbvergcsseue Sitte noch fort.

Eines Tages im Sommer hatte der Vater mit meinem Bruder und mir
das ganze Revier dieser Gegend cibgelanfen, um in deu umfangreichen Stein¬
brüchen der Südseite nach Dendriten zu suchen, die sich oft in überraschender
Schönheit in dem zertrümmerten Gestein vorfanden. Bei dieser Beschäftigung
überraschte uns ein Gewitter, das ungewöhnlich rasch vom Gebirge ins Land
hereinzog und sich in heftigen Regen- und Hagelschauern entlud. Wir suchten
in einer Felsspalte Schutz und ließen das Unwetter austoben. Um nun
möglichst bald unser Haus wieder zu erreichen, da bereits ein neues Wetter
hinter uns drohte, schlug der Vater einen wenig betretenen Fußsteig ein, der
über eine steile Höhe, die Katzenstirn genannt, ins Thal hinunterführte. Dieser
Pfad, an sich schon schlecht gangbar und eigentlich bloß zu begehen, wenn man
sich halbrutschend an den überhängenden Büschen fortgriff, war vom Regen


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[0100] Jugenderinnerungen. schöne Aussicht auf das nahe Grenzgebirge, die reichbebaute, mit Dörfern über¬ säte Landschaft und in weiterer Feine auf die hochragenden, in violetten Duft getauchten Jserkämmc zu genießen. Selbst im Spätherbst, wenn die Winde nicht allzu rauh wehten, bot ein solcher Spaziergang landschaftlichen Genuß, am meisten bei Soiniennntergang; denn dann glühten die beschneiten kahlen Häupter des hohen Jeschken und der langgestreckten Tnfclfichte in rosigem Licht und ließen uns die Pracht des Alpenglühens ahnen. Alljährlich einmal wurde der Schülerbusch und das daran stoßende breite Thal der Schauplatz muntern, ja ausgelassenen Treibens und wilden Lebens. Die Schüler des Gymnasiums in Zitta» veranstalteten nämlich, uraltem Her¬ kommen folgend, am Tage der Ratskür einen solennen Auszug mit Fahnen, alten Degen, Hellebarden, Pistolen und sonstigem Gewässer, um in freier Natur, in Busch und Thal einige Stunden lang ein lustiges Zigeunerleben zu fuhren. Man schlug an den Abhängen des Schülerbuschthales, meistenteils an dessen Nordabhänge, der mit hohen, alten Kiefern bestanden war und ziemlichen Schatten gewährte, Zelte auf, lagerte sich darunter singend, johlend und rauchend, putzte sich räuberartig aussehend oder wenigstens phantastisch heraus und suchte in solchem Anzüge die nächsten Bauernhöfe auf, um für das zu haltende Fest¬ mahl unter freiem Himmel die nötigen Lebensmittel aufzutreiben. Hatten die Schüler gefunden, was sie suchten, so ging es an die Zubereitung der zusammen¬ getragenen Lebensmittel, wobei sich die ausgelassene Schaar köstlich vergnügte. Dies Zigeunerleben dauerte bis Sonnenuntergang. Dann wurden die Feuer zwischen den Bäumen gelöscht, die Zelte abgebrochen, und unter fröhlichem Ge¬ sänge traten die Gymnasiasten den Heimweg an. Wie es kam, daß dieser Auszug der Schüler am Ratskürtagc ganz plötzlich nicht mehr gehalten wurde und für immer verschwand, kann ich nicht sagen. Der uralte Brauch war schon abgekommen, als ich das Gymnasium bezog. Nur in dem Namen „Schttler- bnsch," den Berg und Thal von diesem Besuche der Schüler des Zittauer Gymnasiums erhalte» hatte, lebt die bereits halbvergcsseue Sitte noch fort. Eines Tages im Sommer hatte der Vater mit meinem Bruder und mir das ganze Revier dieser Gegend cibgelanfen, um in deu umfangreichen Stein¬ brüchen der Südseite nach Dendriten zu suchen, die sich oft in überraschender Schönheit in dem zertrümmerten Gestein vorfanden. Bei dieser Beschäftigung überraschte uns ein Gewitter, das ungewöhnlich rasch vom Gebirge ins Land hereinzog und sich in heftigen Regen- und Hagelschauern entlud. Wir suchten in einer Felsspalte Schutz und ließen das Unwetter austoben. Um nun möglichst bald unser Haus wieder zu erreichen, da bereits ein neues Wetter hinter uns drohte, schlug der Vater einen wenig betretenen Fußsteig ein, der über eine steile Höhe, die Katzenstirn genannt, ins Thal hinunterführte. Dieser Pfad, an sich schon schlecht gangbar und eigentlich bloß zu begehen, wenn man sich halbrutschend an den überhängenden Büschen fortgriff, war vom Regen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_288451/100>, abgerufen am 17.09.2024.