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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Stimme von gelehrtesten Klänge. Doch hatte ich dabei den Eindruck, daß das
nicht aus wirklicher Prüfung kam, sondern aus ganz flüchtiger Kenntnis bei
abgeneigter Gesinnung gegen den Inhalt, der zu ungocthisch erschien. So lies
die Frage auf das Verhältnis Goethes zu christlichen Gedanken hinaus, genauer
zunächst darauf, was man in der sogenannten Goethegemeinde, die doch den
Schatz goethischer Gedanken am reinsten und tiefsten heben und verwalten soll,
darüber dachte, und gerade das beschäftigte mich ohnehin schon ans das lebhafteste.

Da kam eine neue Wendung hinein, als ich einem theologischen Freunde,
einem feinen Gocthekeuner, davon sagte, der die Verse gar wohl kannte, zwar
uicht aus jener Mühle, aber aus zwei theologischen Werken. Sie stehen schon
in den dreißiger Jahren gedruckt bei K. A. Nüteuick, der christliche Glaube u. s. w.
(Berlin, 1834), S. 197, und bei Leonhard Usteri, Entwicklung des paulinischen
Lehrbegriffes, vierte Auflage (Zürich, 1832), S. 227, leider ohne Angabe einer
Quelle, als wären sie wohlbekannt, aber nur beiläufig in einer Anmerkung bei¬
gebracht. Aus jenem Fremdenbuche können sie nicht Wohl stammen, weil der
zweite Vers eine Abweichung zeigt, für "müder Gast" dort heißt es hier
"trüber Gast," d. h. wie im Divan. Volle Verlegenheit vom philologischen
Standpunkte, für die ich auch keinen Rat weiß, wenn man sich nicht in den
Nebel leicht ausgeklügelter Möglichkeiten wagen mag.

Aber die Fälschungsfrage. Da muß man doch den Möglichkeiten nach¬
gehen, um, da Sicherheit abgeht, der Wahrscheinlichkeit näher zu kommen. Können
die Theologen die Fälscher sein oder doch Usteri? Doch nicht auch für das
Fremdenbuch? Man müßte da wohl gar zwei Fälscher annehmen, die so
wunderbar überein getroffen wären, oder der im Fremdenbuch müßte Usteris
Fälschung nur unsicher im Gedächtnis gehabt haben, aber in der Hauptsache,
dem ersten Verse, doch wieder so sicher. Aber es schwindelt einem schon in
diesem Nebel, wo alles verfließt, es ist höchstens eine nützliche Schulübung, um
die Phantasie einmal frei spazieren gehen zu lassen. Aber das ist in dem
Nebel doch wohl jeder Phantasie zugänglich: welch wunderlicher Kauz müßte
der Fälscher gewesen sein, der sich für seine kleine oder große Teufelei jene ver¬
steckte Stelle aufgesucht hätte, wo sie denn auch hübsch versteckt geblieben ist für
die Wissenschaft, auf die sie berechnet war! Und anderseits was für ein Genie,
das so in Goethes Art zu denken und zu dichten vermochte, und wieder was
für ein wirklich infamer Schlaukopf, der einen echten Vers glücklich zur Hand
hatte und damit seinen gefälschten so zusammenschweißte, um diesen unter der
echten Flagge in die goethische Weltanschauung einzuschmuggeln, auf das Ge¬
ratewohl hin, daß doch einmal ein Goetheforscher ihn da entdeckte, sich leimen
ließe lind dem gebildeten Bewußtsein einverleibte, wozu? um dieses um ein klein
wenig religiöser zu färben durch Goethes Einfluß! Wer aus diesem Nebel
nicht unwillig oder lachend umkehrt, den beneide ich um seine -- Gläubigkeit,
sein Selbstvertrauen. Und dabei müßte der Fälscher die Leute in der Mühle


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosoxhen.

Stimme von gelehrtesten Klänge. Doch hatte ich dabei den Eindruck, daß das
nicht aus wirklicher Prüfung kam, sondern aus ganz flüchtiger Kenntnis bei
abgeneigter Gesinnung gegen den Inhalt, der zu ungocthisch erschien. So lies
die Frage auf das Verhältnis Goethes zu christlichen Gedanken hinaus, genauer
zunächst darauf, was man in der sogenannten Goethegemeinde, die doch den
Schatz goethischer Gedanken am reinsten und tiefsten heben und verwalten soll,
darüber dachte, und gerade das beschäftigte mich ohnehin schon ans das lebhafteste.

Da kam eine neue Wendung hinein, als ich einem theologischen Freunde,
einem feinen Gocthekeuner, davon sagte, der die Verse gar wohl kannte, zwar
uicht aus jener Mühle, aber aus zwei theologischen Werken. Sie stehen schon
in den dreißiger Jahren gedruckt bei K. A. Nüteuick, der christliche Glaube u. s. w.
(Berlin, 1834), S. 197, und bei Leonhard Usteri, Entwicklung des paulinischen
Lehrbegriffes, vierte Auflage (Zürich, 1832), S. 227, leider ohne Angabe einer
Quelle, als wären sie wohlbekannt, aber nur beiläufig in einer Anmerkung bei¬
gebracht. Aus jenem Fremdenbuche können sie nicht Wohl stammen, weil der
zweite Vers eine Abweichung zeigt, für „müder Gast" dort heißt es hier
„trüber Gast," d. h. wie im Divan. Volle Verlegenheit vom philologischen
Standpunkte, für die ich auch keinen Rat weiß, wenn man sich nicht in den
Nebel leicht ausgeklügelter Möglichkeiten wagen mag.

Aber die Fälschungsfrage. Da muß man doch den Möglichkeiten nach¬
gehen, um, da Sicherheit abgeht, der Wahrscheinlichkeit näher zu kommen. Können
die Theologen die Fälscher sein oder doch Usteri? Doch nicht auch für das
Fremdenbuch? Man müßte da wohl gar zwei Fälscher annehmen, die so
wunderbar überein getroffen wären, oder der im Fremdenbuch müßte Usteris
Fälschung nur unsicher im Gedächtnis gehabt haben, aber in der Hauptsache,
dem ersten Verse, doch wieder so sicher. Aber es schwindelt einem schon in
diesem Nebel, wo alles verfließt, es ist höchstens eine nützliche Schulübung, um
die Phantasie einmal frei spazieren gehen zu lassen. Aber das ist in dem
Nebel doch wohl jeder Phantasie zugänglich: welch wunderlicher Kauz müßte
der Fälscher gewesen sein, der sich für seine kleine oder große Teufelei jene ver¬
steckte Stelle aufgesucht hätte, wo sie denn auch hübsch versteckt geblieben ist für
die Wissenschaft, auf die sie berechnet war! Und anderseits was für ein Genie,
das so in Goethes Art zu denken und zu dichten vermochte, und wieder was
für ein wirklich infamer Schlaukopf, der einen echten Vers glücklich zur Hand
hatte und damit seinen gefälschten so zusammenschweißte, um diesen unter der
echten Flagge in die goethische Weltanschauung einzuschmuggeln, auf das Ge¬
ratewohl hin, daß doch einmal ein Goetheforscher ihn da entdeckte, sich leimen
ließe lind dem gebildeten Bewußtsein einverleibte, wozu? um dieses um ein klein
wenig religiöser zu färben durch Goethes Einfluß! Wer aus diesem Nebel
nicht unwillig oder lachend umkehrt, den beneide ich um seine — Gläubigkeit,
sein Selbstvertrauen. Und dabei müßte der Fälscher die Leute in der Mühle


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/90>, abgerufen am 02.07.2024.