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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

nigstens sehr selten zu unhaltbaren historischen Konstruktionen verleiten oder gar
für die reiche Mannichfaltigkeit der sinnlichen Natur und Menschenwelt blenden,
wie es vielen Hegelianern ergangen ist, die sich in ihren abstrakten Scheinen
wie das Tier auf grüner Haide trostlos drehten. Hehns Stärke ist gerade
seine ungewöhnlich regsame Phantasie, sein hochentwickeltes poetisches Gefühl,
welches ihn befähigt, den feinsten Gängen lyrischer Empfindung nachzuspüren,
und ihn für den Genuß poetischer Schönheit stets empfänglich erhält. Und wie
es bei jedem starken Geiste zu geschehen pflegt, hat sich anch Hehns poetisches
Empfinden mit seinem philosophischem Denken zu einer einheitlichen Welt¬
anschauung verschmolzen. Hehn ist ein Idealist seinem metaphysischen Bekennt¬
nisse nach; die Poesie ist idealistisch ihrem Wesen nach. Der MetaPhysiker aus
der Wchule Schellings und Hegels ist von der Identität des Geistes und der
Materie spekulativ überzeugt worden; der Dichter kennt von vornherein nur
Geist oder vielmehr nur Seele, nur Gemüt, und wenn es notthut, beseelt er
auch die Felsen -- freilich nur in seinem Gedichte; in der nüchternen Prosa
bleibt er sich der künstlerischen Umbildung bewußt. Darum ist es für den Idealisten
Hehn bezeichnend, daß er eine anziehende Darstellung dieser dichterischen Anschau¬
ungsweise mit den Worten schließt: "So offenbart sich der innige Zusammenhang
oder vielmehr die ewige Identität des Gedankens und des äußern unmittelbar" Da¬
seins" (S. 326). Mit seinem starken Gefühl für das wahrhaft Poetische verbindet
sich in Hehn natürlicherweise auch ein starkes Gefühlsleben überhaupt. Er ist daher
ein Meister im Charakterisiren von Persönlichkeiten, und so leidenschaftlich er sich
zu seinem Goethe und seinem Hegel bekennt und sie begeistert preist, so künstlerisch
präzis er jeden Menschen, der ihm gefällt, mit wenigen Strichen uns vorzustellen
vermag, so offenherzig, so schneidig, so rücksichtslos ist er in seinem Haß, mit dem
er unter Lebenden und Toten aus diesem und dem vergangnen Jahrhundert
manchen beehrt. Aber gerade dieser energischen Persönlichkeit mit ihrem tiefen
und starken Gefühl bedürfte es, um neue "Gedanken" über Goethe zu schreiben.
Untersuchungen über richtige Datirung von Gedichten, über druckfehlerfreic Texte,
über Umkehrungen an ältere Dichter, über die verschiednen Entwicklungsstufen
des Faust und dergleichen mehr (Aufgaben, die wir durchaus nicht gering¬
schätzen wollen), werden auch von minder kraftvollen Persönlichkeiten besorgt.
Hehn ist ein lebensvoller Mann und Schriftsteller, der nichts Scholastisches
verträgt, der in die entferntesten Betrachtungen oft unvermutet eine Erinne¬
rung an die "aktuellste" Gegenwart hineinbringt, also stets seine Darstellung
subjektiv färbt -- ein Feuilletonist, wenn mau will, aber ein Feuilletonist in
dem Sinne und in dem Stile, wie man Schopenhauer einen solchen nannte.
Gemeinsam ist beiden übrigens der Haß gegen die Zeitungsschreiber.

Eigentlich ist Viktor Hehn ein Romantiker (von der Schule der soge¬
nannten ältern Romantik). Man kann den Kern seiner eignen wissenschaftlichen
Anschauung nicht mit andern Worten besser kennzeichnen, als mit denjenigen,


Viktor Hohns Gedanken über Goethe.

nigstens sehr selten zu unhaltbaren historischen Konstruktionen verleiten oder gar
für die reiche Mannichfaltigkeit der sinnlichen Natur und Menschenwelt blenden,
wie es vielen Hegelianern ergangen ist, die sich in ihren abstrakten Scheinen
wie das Tier auf grüner Haide trostlos drehten. Hehns Stärke ist gerade
seine ungewöhnlich regsame Phantasie, sein hochentwickeltes poetisches Gefühl,
welches ihn befähigt, den feinsten Gängen lyrischer Empfindung nachzuspüren,
und ihn für den Genuß poetischer Schönheit stets empfänglich erhält. Und wie
es bei jedem starken Geiste zu geschehen pflegt, hat sich anch Hehns poetisches
Empfinden mit seinem philosophischem Denken zu einer einheitlichen Welt¬
anschauung verschmolzen. Hehn ist ein Idealist seinem metaphysischen Bekennt¬
nisse nach; die Poesie ist idealistisch ihrem Wesen nach. Der MetaPhysiker aus
der Wchule Schellings und Hegels ist von der Identität des Geistes und der
Materie spekulativ überzeugt worden; der Dichter kennt von vornherein nur
Geist oder vielmehr nur Seele, nur Gemüt, und wenn es notthut, beseelt er
auch die Felsen — freilich nur in seinem Gedichte; in der nüchternen Prosa
bleibt er sich der künstlerischen Umbildung bewußt. Darum ist es für den Idealisten
Hehn bezeichnend, daß er eine anziehende Darstellung dieser dichterischen Anschau¬
ungsweise mit den Worten schließt: „So offenbart sich der innige Zusammenhang
oder vielmehr die ewige Identität des Gedankens und des äußern unmittelbar» Da¬
seins" (S. 326). Mit seinem starken Gefühl für das wahrhaft Poetische verbindet
sich in Hehn natürlicherweise auch ein starkes Gefühlsleben überhaupt. Er ist daher
ein Meister im Charakterisiren von Persönlichkeiten, und so leidenschaftlich er sich
zu seinem Goethe und seinem Hegel bekennt und sie begeistert preist, so künstlerisch
präzis er jeden Menschen, der ihm gefällt, mit wenigen Strichen uns vorzustellen
vermag, so offenherzig, so schneidig, so rücksichtslos ist er in seinem Haß, mit dem
er unter Lebenden und Toten aus diesem und dem vergangnen Jahrhundert
manchen beehrt. Aber gerade dieser energischen Persönlichkeit mit ihrem tiefen
und starken Gefühl bedürfte es, um neue „Gedanken" über Goethe zu schreiben.
Untersuchungen über richtige Datirung von Gedichten, über druckfehlerfreic Texte,
über Umkehrungen an ältere Dichter, über die verschiednen Entwicklungsstufen
des Faust und dergleichen mehr (Aufgaben, die wir durchaus nicht gering¬
schätzen wollen), werden auch von minder kraftvollen Persönlichkeiten besorgt.
Hehn ist ein lebensvoller Mann und Schriftsteller, der nichts Scholastisches
verträgt, der in die entferntesten Betrachtungen oft unvermutet eine Erinne¬
rung an die „aktuellste" Gegenwart hineinbringt, also stets seine Darstellung
subjektiv färbt — ein Feuilletonist, wenn mau will, aber ein Feuilletonist in
dem Sinne und in dem Stile, wie man Schopenhauer einen solchen nannte.
Gemeinsam ist beiden übrigens der Haß gegen die Zeitungsschreiber.

Eigentlich ist Viktor Hehn ein Romantiker (von der Schule der soge¬
nannten ältern Romantik). Man kann den Kern seiner eignen wissenschaftlichen
Anschauung nicht mit andern Worten besser kennzeichnen, als mit denjenigen,


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[0592] Viktor Hohns Gedanken über Goethe. nigstens sehr selten zu unhaltbaren historischen Konstruktionen verleiten oder gar für die reiche Mannichfaltigkeit der sinnlichen Natur und Menschenwelt blenden, wie es vielen Hegelianern ergangen ist, die sich in ihren abstrakten Scheinen wie das Tier auf grüner Haide trostlos drehten. Hehns Stärke ist gerade seine ungewöhnlich regsame Phantasie, sein hochentwickeltes poetisches Gefühl, welches ihn befähigt, den feinsten Gängen lyrischer Empfindung nachzuspüren, und ihn für den Genuß poetischer Schönheit stets empfänglich erhält. Und wie es bei jedem starken Geiste zu geschehen pflegt, hat sich anch Hehns poetisches Empfinden mit seinem philosophischem Denken zu einer einheitlichen Welt¬ anschauung verschmolzen. Hehn ist ein Idealist seinem metaphysischen Bekennt¬ nisse nach; die Poesie ist idealistisch ihrem Wesen nach. Der MetaPhysiker aus der Wchule Schellings und Hegels ist von der Identität des Geistes und der Materie spekulativ überzeugt worden; der Dichter kennt von vornherein nur Geist oder vielmehr nur Seele, nur Gemüt, und wenn es notthut, beseelt er auch die Felsen — freilich nur in seinem Gedichte; in der nüchternen Prosa bleibt er sich der künstlerischen Umbildung bewußt. Darum ist es für den Idealisten Hehn bezeichnend, daß er eine anziehende Darstellung dieser dichterischen Anschau¬ ungsweise mit den Worten schließt: „So offenbart sich der innige Zusammenhang oder vielmehr die ewige Identität des Gedankens und des äußern unmittelbar» Da¬ seins" (S. 326). Mit seinem starken Gefühl für das wahrhaft Poetische verbindet sich in Hehn natürlicherweise auch ein starkes Gefühlsleben überhaupt. Er ist daher ein Meister im Charakterisiren von Persönlichkeiten, und so leidenschaftlich er sich zu seinem Goethe und seinem Hegel bekennt und sie begeistert preist, so künstlerisch präzis er jeden Menschen, der ihm gefällt, mit wenigen Strichen uns vorzustellen vermag, so offenherzig, so schneidig, so rücksichtslos ist er in seinem Haß, mit dem er unter Lebenden und Toten aus diesem und dem vergangnen Jahrhundert manchen beehrt. Aber gerade dieser energischen Persönlichkeit mit ihrem tiefen und starken Gefühl bedürfte es, um neue „Gedanken" über Goethe zu schreiben. Untersuchungen über richtige Datirung von Gedichten, über druckfehlerfreic Texte, über Umkehrungen an ältere Dichter, über die verschiednen Entwicklungsstufen des Faust und dergleichen mehr (Aufgaben, die wir durchaus nicht gering¬ schätzen wollen), werden auch von minder kraftvollen Persönlichkeiten besorgt. Hehn ist ein lebensvoller Mann und Schriftsteller, der nichts Scholastisches verträgt, der in die entferntesten Betrachtungen oft unvermutet eine Erinne¬ rung an die „aktuellste" Gegenwart hineinbringt, also stets seine Darstellung subjektiv färbt — ein Feuilletonist, wenn mau will, aber ein Feuilletonist in dem Sinne und in dem Stile, wie man Schopenhauer einen solchen nannte. Gemeinsam ist beiden übrigens der Haß gegen die Zeitungsschreiber. Eigentlich ist Viktor Hehn ein Romantiker (von der Schule der soge¬ nannten ältern Romantik). Man kann den Kern seiner eignen wissenschaftlichen Anschauung nicht mit andern Worten besser kennzeichnen, als mit denjenigen,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/592>, abgerufen am 22.07.2024.