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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

in dem weitläufigen Weinberge Goethes; kaum vergeht ein Monat, ohne daß
nicht ein Brief von oder an Goethe gedruckt, ohne daß nicht eine neue Ab¬
handlung über eine seiner Dichtungen veröffentlicht würde. Aber auserwühlt
sind wenige: wahrhaft bemerkenswertes bekommt man gar selten zu hören von
allen denen, die über Goethe schreiben. Denn um über Kunst und Poesie und
vollends über ihren Großmeister etwas Eigentümliches sagen zu können, muß
man selbst im gewissen Grade ein Original sein, selbst eine starke Persönlich¬
keit, eine tiefe Natur, ein reicher Geist, es muß sich ein Original dem andern
mit voller Brustseite gegenüberstellen können, und solcher Originale giebt es in
der Menschenwelt gar wenige, jedenfalls weit weniger, als es Lehrämter für
Kunst- und Literaturgeschichte an niedrigen und hohen Schulen giebt. Allein
nur solch ein Original ist fruchtbar für die Entwicklung des literarischen
Lebens. Manches künstlerische Lebensschicksal ist ja, wie uns alle Geschichte
lehrt, von der zufälligen Anwesenheit eines solchen wahlverwandten kritischen
Lesers oder Zuschauers in seiner Gegenwart bedingt gewesen. Und fruchtbar
ist solch ein kritisches Original selbst -- wie es ja in allen menschlichen Dingen
zu gehen pflegt -- in seiner Einseitigkeit, in seiner Leidenschaft, die sich an das
starke Empfinden stets zu heften Pflegt.

Solch ein Auserwählter, solch ein wahrhaft originaler Kritiker ist Viktor
Hehn, dessen Gedanken über Goethe (Berlin, Gebrüder Bornträger, 1887)
-- schon der Titel ist mit dem ungewollten Zugeständnis der Subjektivität
original kühn -- zu den wertvollsten kritischen Werten gezahlt werden müssen,
welche die überreiche Gvetheliteratur besitzt.

Viktor Hehn, der Verfasser der beiden eines großen Ansehens genießenden
Bücher "Italien" und "Kulturpflanzen und Haustiere," ist ein Mann von unge¬
wöhnlicher Bildung und außerordentlicher Belesenheit. Er kennt genau die alte Lite¬
ratur der Griechen und Römer, er zitirt Homer und Hesiod und Solon und Vergil
und Ovid und Tibull mit philologischer Gewandtheit. Er ist aber ebenso zu Hanse
im Parcival des Wolfram von Eschenbach, in den Tischreden Martin Luthers
und in der ganzen Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.
Hehn ist ein Kulturhistvriker ersten Ranges: die Entwicklung der Sitten in Hans,
Hof und Stadt, den Zusammenhang zwischen der Volksbildung und ihren kli¬
matisch-geographischen Bedingungen, die politische Geschichte Deutschlands und
Europas -- alles dies überschaut er mit klarer, tiefer Einsicht und weiß es
aufs anziehendste und lehrreichste mitzuteilen. Allein er besitzt noch eine andre
vornehme Eigenschaft, die in unserm scholastischen Zeitalter gar selten ge¬
worden ist: diesen kaum übersehbaren Reichtum empirischer Wissenschaft durch¬
dringt und ordnet Hehn mit einer nicht minder bedeutenden philosophischen
Kraft, und es verschlägt gar nichts, wenn er sich mit Nachdruck zu einer Phi¬
losophie bekennt, die heutzutage ganz außer Mode gekommen ist: zur Philo¬
sophie Hegels. Denn sein positiv wissenschaftlicher Geist läßt sich nicht oder we-


Viktor Hehns Gedanken über Goethe.

in dem weitläufigen Weinberge Goethes; kaum vergeht ein Monat, ohne daß
nicht ein Brief von oder an Goethe gedruckt, ohne daß nicht eine neue Ab¬
handlung über eine seiner Dichtungen veröffentlicht würde. Aber auserwühlt
sind wenige: wahrhaft bemerkenswertes bekommt man gar selten zu hören von
allen denen, die über Goethe schreiben. Denn um über Kunst und Poesie und
vollends über ihren Großmeister etwas Eigentümliches sagen zu können, muß
man selbst im gewissen Grade ein Original sein, selbst eine starke Persönlich¬
keit, eine tiefe Natur, ein reicher Geist, es muß sich ein Original dem andern
mit voller Brustseite gegenüberstellen können, und solcher Originale giebt es in
der Menschenwelt gar wenige, jedenfalls weit weniger, als es Lehrämter für
Kunst- und Literaturgeschichte an niedrigen und hohen Schulen giebt. Allein
nur solch ein Original ist fruchtbar für die Entwicklung des literarischen
Lebens. Manches künstlerische Lebensschicksal ist ja, wie uns alle Geschichte
lehrt, von der zufälligen Anwesenheit eines solchen wahlverwandten kritischen
Lesers oder Zuschauers in seiner Gegenwart bedingt gewesen. Und fruchtbar
ist solch ein kritisches Original selbst — wie es ja in allen menschlichen Dingen
zu gehen pflegt — in seiner Einseitigkeit, in seiner Leidenschaft, die sich an das
starke Empfinden stets zu heften Pflegt.

Solch ein Auserwählter, solch ein wahrhaft originaler Kritiker ist Viktor
Hehn, dessen Gedanken über Goethe (Berlin, Gebrüder Bornträger, 1887)
— schon der Titel ist mit dem ungewollten Zugeständnis der Subjektivität
original kühn — zu den wertvollsten kritischen Werten gezahlt werden müssen,
welche die überreiche Gvetheliteratur besitzt.

Viktor Hehn, der Verfasser der beiden eines großen Ansehens genießenden
Bücher „Italien" und „Kulturpflanzen und Haustiere," ist ein Mann von unge¬
wöhnlicher Bildung und außerordentlicher Belesenheit. Er kennt genau die alte Lite¬
ratur der Griechen und Römer, er zitirt Homer und Hesiod und Solon und Vergil
und Ovid und Tibull mit philologischer Gewandtheit. Er ist aber ebenso zu Hanse
im Parcival des Wolfram von Eschenbach, in den Tischreden Martin Luthers
und in der ganzen Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts.
Hehn ist ein Kulturhistvriker ersten Ranges: die Entwicklung der Sitten in Hans,
Hof und Stadt, den Zusammenhang zwischen der Volksbildung und ihren kli¬
matisch-geographischen Bedingungen, die politische Geschichte Deutschlands und
Europas — alles dies überschaut er mit klarer, tiefer Einsicht und weiß es
aufs anziehendste und lehrreichste mitzuteilen. Allein er besitzt noch eine andre
vornehme Eigenschaft, die in unserm scholastischen Zeitalter gar selten ge¬
worden ist: diesen kaum übersehbaren Reichtum empirischer Wissenschaft durch¬
dringt und ordnet Hehn mit einer nicht minder bedeutenden philosophischen
Kraft, und es verschlägt gar nichts, wenn er sich mit Nachdruck zu einer Phi¬
losophie bekennt, die heutzutage ganz außer Mode gekommen ist: zur Philo¬
sophie Hegels. Denn sein positiv wissenschaftlicher Geist läßt sich nicht oder we-


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[0591] Viktor Hehns Gedanken über Goethe. in dem weitläufigen Weinberge Goethes; kaum vergeht ein Monat, ohne daß nicht ein Brief von oder an Goethe gedruckt, ohne daß nicht eine neue Ab¬ handlung über eine seiner Dichtungen veröffentlicht würde. Aber auserwühlt sind wenige: wahrhaft bemerkenswertes bekommt man gar selten zu hören von allen denen, die über Goethe schreiben. Denn um über Kunst und Poesie und vollends über ihren Großmeister etwas Eigentümliches sagen zu können, muß man selbst im gewissen Grade ein Original sein, selbst eine starke Persönlich¬ keit, eine tiefe Natur, ein reicher Geist, es muß sich ein Original dem andern mit voller Brustseite gegenüberstellen können, und solcher Originale giebt es in der Menschenwelt gar wenige, jedenfalls weit weniger, als es Lehrämter für Kunst- und Literaturgeschichte an niedrigen und hohen Schulen giebt. Allein nur solch ein Original ist fruchtbar für die Entwicklung des literarischen Lebens. Manches künstlerische Lebensschicksal ist ja, wie uns alle Geschichte lehrt, von der zufälligen Anwesenheit eines solchen wahlverwandten kritischen Lesers oder Zuschauers in seiner Gegenwart bedingt gewesen. Und fruchtbar ist solch ein kritisches Original selbst — wie es ja in allen menschlichen Dingen zu gehen pflegt — in seiner Einseitigkeit, in seiner Leidenschaft, die sich an das starke Empfinden stets zu heften Pflegt. Solch ein Auserwählter, solch ein wahrhaft originaler Kritiker ist Viktor Hehn, dessen Gedanken über Goethe (Berlin, Gebrüder Bornträger, 1887) — schon der Titel ist mit dem ungewollten Zugeständnis der Subjektivität original kühn — zu den wertvollsten kritischen Werten gezahlt werden müssen, welche die überreiche Gvetheliteratur besitzt. Viktor Hehn, der Verfasser der beiden eines großen Ansehens genießenden Bücher „Italien" und „Kulturpflanzen und Haustiere," ist ein Mann von unge¬ wöhnlicher Bildung und außerordentlicher Belesenheit. Er kennt genau die alte Lite¬ ratur der Griechen und Römer, er zitirt Homer und Hesiod und Solon und Vergil und Ovid und Tibull mit philologischer Gewandtheit. Er ist aber ebenso zu Hanse im Parcival des Wolfram von Eschenbach, in den Tischreden Martin Luthers und in der ganzen Literatur des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. Hehn ist ein Kulturhistvriker ersten Ranges: die Entwicklung der Sitten in Hans, Hof und Stadt, den Zusammenhang zwischen der Volksbildung und ihren kli¬ matisch-geographischen Bedingungen, die politische Geschichte Deutschlands und Europas — alles dies überschaut er mit klarer, tiefer Einsicht und weiß es aufs anziehendste und lehrreichste mitzuteilen. Allein er besitzt noch eine andre vornehme Eigenschaft, die in unserm scholastischen Zeitalter gar selten ge¬ worden ist: diesen kaum übersehbaren Reichtum empirischer Wissenschaft durch¬ dringt und ordnet Hehn mit einer nicht minder bedeutenden philosophischen Kraft, und es verschlägt gar nichts, wenn er sich mit Nachdruck zu einer Phi¬ losophie bekennt, die heutzutage ganz außer Mode gekommen ist: zur Philo¬ sophie Hegels. Denn sein positiv wissenschaftlicher Geist läßt sich nicht oder we-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/591>, abgerufen am 22.07.2024.