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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Auflösung des alten Reiches.

radezu ausgesprochen wurde: Der Kaiser der Franzosen erkennt das Bestehen
eines deutschen Reiches nicht mehr an, sondern nur noch die vollständige und
unbeschränkte Souveränität sämtlicher Fürsten, deren Lande in dem vormaligen
Reiche liegen. Am 6. August entsagte Franz II., der sich von da an Franz I.,
Kaiser von Osterreich, nannte, der römischen Kaiserwürde förmlich und feierlich
und legte freiwillig die mehr als tausend Jahre alte Krone Karls des Großen
nieder. In der betreffenden Urkunde sprach der Kaiser aus, daß es fortan
gänzlich unmöglich sei, die Pflichten des kaiserlichen Amtes länger zu erfüllen;
daher sei er es seinen Grundsätzen und seiner Würde schuldig, auf eine Krone
zu verzichten, welche nur so lange Wert gehabt habe, als er imstande gewesen
sei, dem von Kurfürsten, Fürsten und Ständen ihm bezeugten Zutrauen zu
entsprechen und den übernommenen Obliegenheiten ein Genüge zu leisten. Zu¬
gleich entband er alle Stände des Reiches ebenso wie dessen Angehörige von
allen bisherigen Pflichten gegen das Reichsoberhaupt. Der Tag der Unter¬
zeichnung dieser Urkunde, welche schon nicht mehr in der Reichskanzlei, sondern
in der erblcindischen ausgefertigt war, wird offiziell als der Sterbetag des
heiligen römischen Reiches deutscher Nation gerechnet. Das Begräbnis der arg
verstümmelten Leiche, um in dein Bilde fortzufahren, fand am 12. August statt.
An diesem Tage wurde nämlich dem Rumpfe des alten Reichstages zu Regens¬
burg amtlich jene Note des bisherigen "Römischen Kaisers" mitgeteilt. Zu¬
gegen waren hierbei fast mir die Gesandten der Rheinbundsfürsten. "Die dem
Reiche den letzten Gnadenstoß gegeben, waren auch so ziemlich die einzigen,
welche seiner Bestattung beiwohnten," hat man mehrfach gesagt. Der Reichs¬
tag löste sich auf, desgleichen die Reichsgerichte, soweit sie bis dahin noch eine
Art von Schattenleben geführt hatten.

Im Juli 1806 war der Rheinbund zwar gegründet worden. Sein weiterer
Ausbau und seine Vollendung -- soweit bei einer so vorübergehenden politischen
Schöpfung überhaupt von Bollendung die Rede sein kann -- erfolgte erst in
den nächsten Jahren. Daher soll eine eingehendere Besprechung seiner Ver¬
fassung und seiner Einrichtungen dem folgenden Abschnitte vorbehalten bleiben.

Dagegen würde diese Darstellung der Auflösung des alten Reiches unvoll¬
ständig sein, wenn wir nicht unsre Augen noch auf einen politischen Versuch
(eine "Schöpfung" kann man leider nicht sagen) lenken wollten, der zwar keinen
praktischen Erfolg aufzuweisen hatte, dessen Kenntnis jedoch zu einem ein¬
gehenderen Verständnisse der ganzen politischen Entwicklung Deutschlands durch¬
aus notwendig ist.

Von selber drängt sich uns die Frage auf: Geschah denn während der
ganzen Zeit, wo jene gewaltigen, oben geschilderten Umwälzungen in West- und
Süddeutschland vor sich gingen, jenseits der Demarkationslinie, die Norddeutsch-
land umschloß und abschloß, gar nichts? Hat denn Preußen in jenem ganzen
Zeitraume gar nichts gethan, um wenigstens sich selbst und die in seinem Macht-


Die Auflösung des alten Reiches.

radezu ausgesprochen wurde: Der Kaiser der Franzosen erkennt das Bestehen
eines deutschen Reiches nicht mehr an, sondern nur noch die vollständige und
unbeschränkte Souveränität sämtlicher Fürsten, deren Lande in dem vormaligen
Reiche liegen. Am 6. August entsagte Franz II., der sich von da an Franz I.,
Kaiser von Osterreich, nannte, der römischen Kaiserwürde förmlich und feierlich
und legte freiwillig die mehr als tausend Jahre alte Krone Karls des Großen
nieder. In der betreffenden Urkunde sprach der Kaiser aus, daß es fortan
gänzlich unmöglich sei, die Pflichten des kaiserlichen Amtes länger zu erfüllen;
daher sei er es seinen Grundsätzen und seiner Würde schuldig, auf eine Krone
zu verzichten, welche nur so lange Wert gehabt habe, als er imstande gewesen
sei, dem von Kurfürsten, Fürsten und Ständen ihm bezeugten Zutrauen zu
entsprechen und den übernommenen Obliegenheiten ein Genüge zu leisten. Zu¬
gleich entband er alle Stände des Reiches ebenso wie dessen Angehörige von
allen bisherigen Pflichten gegen das Reichsoberhaupt. Der Tag der Unter¬
zeichnung dieser Urkunde, welche schon nicht mehr in der Reichskanzlei, sondern
in der erblcindischen ausgefertigt war, wird offiziell als der Sterbetag des
heiligen römischen Reiches deutscher Nation gerechnet. Das Begräbnis der arg
verstümmelten Leiche, um in dein Bilde fortzufahren, fand am 12. August statt.
An diesem Tage wurde nämlich dem Rumpfe des alten Reichstages zu Regens¬
burg amtlich jene Note des bisherigen „Römischen Kaisers" mitgeteilt. Zu¬
gegen waren hierbei fast mir die Gesandten der Rheinbundsfürsten. „Die dem
Reiche den letzten Gnadenstoß gegeben, waren auch so ziemlich die einzigen,
welche seiner Bestattung beiwohnten," hat man mehrfach gesagt. Der Reichs¬
tag löste sich auf, desgleichen die Reichsgerichte, soweit sie bis dahin noch eine
Art von Schattenleben geführt hatten.

Im Juli 1806 war der Rheinbund zwar gegründet worden. Sein weiterer
Ausbau und seine Vollendung — soweit bei einer so vorübergehenden politischen
Schöpfung überhaupt von Bollendung die Rede sein kann — erfolgte erst in
den nächsten Jahren. Daher soll eine eingehendere Besprechung seiner Ver¬
fassung und seiner Einrichtungen dem folgenden Abschnitte vorbehalten bleiben.

Dagegen würde diese Darstellung der Auflösung des alten Reiches unvoll¬
ständig sein, wenn wir nicht unsre Augen noch auf einen politischen Versuch
(eine „Schöpfung" kann man leider nicht sagen) lenken wollten, der zwar keinen
praktischen Erfolg aufzuweisen hatte, dessen Kenntnis jedoch zu einem ein¬
gehenderen Verständnisse der ganzen politischen Entwicklung Deutschlands durch¬
aus notwendig ist.

Von selber drängt sich uns die Frage auf: Geschah denn während der
ganzen Zeit, wo jene gewaltigen, oben geschilderten Umwälzungen in West- und
Süddeutschland vor sich gingen, jenseits der Demarkationslinie, die Norddeutsch-
land umschloß und abschloß, gar nichts? Hat denn Preußen in jenem ganzen
Zeitraume gar nichts gethan, um wenigstens sich selbst und die in seinem Macht-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/588>, abgerufen am 22.07.2024.