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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die Auflösung dos alten Reiches.

Innerhalb dieses Zeitraumes von kann zwei Jahren, vom Frieden zu Lüne-
ville bis zum Reichsdeputationshauptschlusse (Februar 1801 bis Februar 1803),
hatte das deutsche Reich sein Aussehen und sein Wesen in jeder Beziehung ver¬
ändert. Man braucht nur einmal die betreffenden Landkarten miteinander zu
vergleichen, um sich sofort davon zu überzeugen. Das Reichsgebiet koar um
mehr als tausend Quadratmeilen beschränkt worden. Im Innern waren Hunderte
von "Territorien" weggefallen. Der Reichstag hatte mehr als hundertundzwanzig
seiner Stimmen verloren. Das kurfürstliche Kollegium zählte jetzt allerdings
zehn Mitglieder. Den Vorsitz führte der einzige übrig gebliebene geistliche Kur¬
fürst, der Kurerzkanzler, der jedoch seinen Sitz nicht mehr in Mainz, sondern
in Regensburg hatte. Im reichsfürstlicher Kollegium gab es hundcrtsiebenund-
zwanzig Viril- und vier Kuriatstimmen. Die Reichsstädte waren auf sechs zu¬
sammengeschmolzen. Durch die umfassenden "Säkularisationen" hatte das Reich
seinen theokratischen Charakter völlig eingebüßt. Der allerdings immer schon
sehr lockere Zusammenhang zwischen den Gliedern des Reiches war völlig gelöst.
Napoleon behandelte es wie einen Leichnam, den man ungestraft treten darf.
Zum Beweise dafür sei nur auf die beiden Thatsachen hingewiesen, daß der
französische Gewalthaber noch in demselben Jahre Hannover besetzen und den
Herzog von Enghien vom deutschen Reichsgebiete fortschleppen und in Vincennes
erschießen ließ, ohne daß gegen diese beiden rechtswidrigen Gewaltthaten auch
nur diplomatische Einsprache erhoben worden wäre.

Derjenige Fürst, der thatsächlich zuerst seine Lande aus dem Reichsver¬
bande löste, der Staat, der in Wirklichkeit zuerst ausschied, war der Kaiser, war
Österreich. Nachdem durch organisches Senatskonsnlt vom 18. Mai 1804 Na¬
poleon Bonaparte zum Kaiser der Franzosen erklärt worden war, wollte Kaiser
Franz nicht hinter ihm zurückstehen. Zwar legte er den Titel eines römischen
Kaisers noch nicht nieder, aber er nahm den Titel eines erblichen Kaisers von
Österreich an und machte dies bekannt durch eine Proklamation vom 10. August
1804, deren Hauptstelle lautet: "Obschon Wir durch göttliche Fügung und dnrch
Wahl der Kurfürsten des römisch^deutschen Reiches zu einer Würde gediehen sind,
welche Uns für Unsre Person keinen Zuwachs an Titel und Ansehen zu wünschen
übrig läßt, so muß doch Unsre Sorgfalt als Regent des Hanfes und der
Monarchie von Österreich darauf gerichtet sein, daß jene vollkommene Gleichheit
des Titels und der erblichen Würde mit den vorzüglichsten europäischen Re¬
genten und Mächten erhalten und behauptet werde. . . . Wir sehen Uns demnach
zur dauerhaften Befestigung dieser vollkommenen Ncmggleichheit veranlaßt und
berechtigt. . . dem Hause von Österreich in Rücksicht auf dessen unabhängige
Staaten den erblichen Kaisertitel beizulegen." Wenn der Kaisertitel hier aller¬
dings auch nur auf die unabhängigen Staaten Österreichs, einen staatsrecht¬
lichen Begriff, der, nebenbei bemerkt, ziemlich unklar und dehnbar ist, gestützt
wird, wenn der deutsche Kaiscrtitel noch zwei Jahre beibehalten wurde und der


Die Auflösung dos alten Reiches.

Innerhalb dieses Zeitraumes von kann zwei Jahren, vom Frieden zu Lüne-
ville bis zum Reichsdeputationshauptschlusse (Februar 1801 bis Februar 1803),
hatte das deutsche Reich sein Aussehen und sein Wesen in jeder Beziehung ver¬
ändert. Man braucht nur einmal die betreffenden Landkarten miteinander zu
vergleichen, um sich sofort davon zu überzeugen. Das Reichsgebiet koar um
mehr als tausend Quadratmeilen beschränkt worden. Im Innern waren Hunderte
von „Territorien" weggefallen. Der Reichstag hatte mehr als hundertundzwanzig
seiner Stimmen verloren. Das kurfürstliche Kollegium zählte jetzt allerdings
zehn Mitglieder. Den Vorsitz führte der einzige übrig gebliebene geistliche Kur¬
fürst, der Kurerzkanzler, der jedoch seinen Sitz nicht mehr in Mainz, sondern
in Regensburg hatte. Im reichsfürstlicher Kollegium gab es hundcrtsiebenund-
zwanzig Viril- und vier Kuriatstimmen. Die Reichsstädte waren auf sechs zu¬
sammengeschmolzen. Durch die umfassenden „Säkularisationen" hatte das Reich
seinen theokratischen Charakter völlig eingebüßt. Der allerdings immer schon
sehr lockere Zusammenhang zwischen den Gliedern des Reiches war völlig gelöst.
Napoleon behandelte es wie einen Leichnam, den man ungestraft treten darf.
Zum Beweise dafür sei nur auf die beiden Thatsachen hingewiesen, daß der
französische Gewalthaber noch in demselben Jahre Hannover besetzen und den
Herzog von Enghien vom deutschen Reichsgebiete fortschleppen und in Vincennes
erschießen ließ, ohne daß gegen diese beiden rechtswidrigen Gewaltthaten auch
nur diplomatische Einsprache erhoben worden wäre.

Derjenige Fürst, der thatsächlich zuerst seine Lande aus dem Reichsver¬
bande löste, der Staat, der in Wirklichkeit zuerst ausschied, war der Kaiser, war
Österreich. Nachdem durch organisches Senatskonsnlt vom 18. Mai 1804 Na¬
poleon Bonaparte zum Kaiser der Franzosen erklärt worden war, wollte Kaiser
Franz nicht hinter ihm zurückstehen. Zwar legte er den Titel eines römischen
Kaisers noch nicht nieder, aber er nahm den Titel eines erblichen Kaisers von
Österreich an und machte dies bekannt durch eine Proklamation vom 10. August
1804, deren Hauptstelle lautet: „Obschon Wir durch göttliche Fügung und dnrch
Wahl der Kurfürsten des römisch^deutschen Reiches zu einer Würde gediehen sind,
welche Uns für Unsre Person keinen Zuwachs an Titel und Ansehen zu wünschen
übrig läßt, so muß doch Unsre Sorgfalt als Regent des Hanfes und der
Monarchie von Österreich darauf gerichtet sein, daß jene vollkommene Gleichheit
des Titels und der erblichen Würde mit den vorzüglichsten europäischen Re¬
genten und Mächten erhalten und behauptet werde. . . . Wir sehen Uns demnach
zur dauerhaften Befestigung dieser vollkommenen Ncmggleichheit veranlaßt und
berechtigt. . . dem Hause von Österreich in Rücksicht auf dessen unabhängige
Staaten den erblichen Kaisertitel beizulegen." Wenn der Kaisertitel hier aller¬
dings auch nur auf die unabhängigen Staaten Österreichs, einen staatsrecht¬
lichen Begriff, der, nebenbei bemerkt, ziemlich unklar und dehnbar ist, gestützt
wird, wenn der deutsche Kaiscrtitel noch zwei Jahre beibehalten wurde und der


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[0584] Die Auflösung dos alten Reiches. Innerhalb dieses Zeitraumes von kann zwei Jahren, vom Frieden zu Lüne- ville bis zum Reichsdeputationshauptschlusse (Februar 1801 bis Februar 1803), hatte das deutsche Reich sein Aussehen und sein Wesen in jeder Beziehung ver¬ ändert. Man braucht nur einmal die betreffenden Landkarten miteinander zu vergleichen, um sich sofort davon zu überzeugen. Das Reichsgebiet koar um mehr als tausend Quadratmeilen beschränkt worden. Im Innern waren Hunderte von „Territorien" weggefallen. Der Reichstag hatte mehr als hundertundzwanzig seiner Stimmen verloren. Das kurfürstliche Kollegium zählte jetzt allerdings zehn Mitglieder. Den Vorsitz führte der einzige übrig gebliebene geistliche Kur¬ fürst, der Kurerzkanzler, der jedoch seinen Sitz nicht mehr in Mainz, sondern in Regensburg hatte. Im reichsfürstlicher Kollegium gab es hundcrtsiebenund- zwanzig Viril- und vier Kuriatstimmen. Die Reichsstädte waren auf sechs zu¬ sammengeschmolzen. Durch die umfassenden „Säkularisationen" hatte das Reich seinen theokratischen Charakter völlig eingebüßt. Der allerdings immer schon sehr lockere Zusammenhang zwischen den Gliedern des Reiches war völlig gelöst. Napoleon behandelte es wie einen Leichnam, den man ungestraft treten darf. Zum Beweise dafür sei nur auf die beiden Thatsachen hingewiesen, daß der französische Gewalthaber noch in demselben Jahre Hannover besetzen und den Herzog von Enghien vom deutschen Reichsgebiete fortschleppen und in Vincennes erschießen ließ, ohne daß gegen diese beiden rechtswidrigen Gewaltthaten auch nur diplomatische Einsprache erhoben worden wäre. Derjenige Fürst, der thatsächlich zuerst seine Lande aus dem Reichsver¬ bande löste, der Staat, der in Wirklichkeit zuerst ausschied, war der Kaiser, war Österreich. Nachdem durch organisches Senatskonsnlt vom 18. Mai 1804 Na¬ poleon Bonaparte zum Kaiser der Franzosen erklärt worden war, wollte Kaiser Franz nicht hinter ihm zurückstehen. Zwar legte er den Titel eines römischen Kaisers noch nicht nieder, aber er nahm den Titel eines erblichen Kaisers von Österreich an und machte dies bekannt durch eine Proklamation vom 10. August 1804, deren Hauptstelle lautet: „Obschon Wir durch göttliche Fügung und dnrch Wahl der Kurfürsten des römisch^deutschen Reiches zu einer Würde gediehen sind, welche Uns für Unsre Person keinen Zuwachs an Titel und Ansehen zu wünschen übrig läßt, so muß doch Unsre Sorgfalt als Regent des Hanfes und der Monarchie von Österreich darauf gerichtet sein, daß jene vollkommene Gleichheit des Titels und der erblichen Würde mit den vorzüglichsten europäischen Re¬ genten und Mächten erhalten und behauptet werde. . . . Wir sehen Uns demnach zur dauerhaften Befestigung dieser vollkommenen Ncmggleichheit veranlaßt und berechtigt. . . dem Hause von Österreich in Rücksicht auf dessen unabhängige Staaten den erblichen Kaisertitel beizulegen." Wenn der Kaisertitel hier aller¬ dings auch nur auf die unabhängigen Staaten Österreichs, einen staatsrecht¬ lichen Begriff, der, nebenbei bemerkt, ziemlich unklar und dehnbar ist, gestützt wird, wenn der deutsche Kaiscrtitel noch zwei Jahre beibehalten wurde und der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/584>, abgerufen am 22.07.2024.