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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen.

"Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz
besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt.
Schade, daß mans ihr versagte, denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten
Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich
auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen." Er hatte offenbar
nun auch solche Gedanken und empfand es als einen Verlust für sich, daß die
großen Todesgedanken der Roland so verloren gingen. Die auch ihm bisher
undenkbaren Gedanken, die nun kamen, wie gern wüßte man sie aus dem Geiste
eines Goethe, der so tief und weit in die Geheimnisse der Welt und des Lebens
zu blicken angelegt und geschult war. Doch ist da noch an keine Fortsetzung
über den Tod hinaus gedacht, nur an das abgeschlossene Leben, das"aber nun
einer hochgebirgigen Abendlandschaft gleich auf den Höhen glänzt von höherem
seligem Lichte und in aller Schönheit, nicht bloß irdischer, vor dem Auge des
Geistes liegt, der Standpunkt, der ja für seine eigne Lebensbeschreibung schon
als bestimmend oder darin verborgen wohl zu erkennen ist. Aber die Fort¬
setzung erscheint doch auch, schon im Divan öfter, am merkwürdigsten in dem
Gedicht "Selige Sehnsucht" am Ende des ersten Buches. Es handelt, tief
mystisch, vom Lebendigen, "das nach Flammentod sich sehnet," und hat, da ihn
der Gedanke offenbar auch nach dem ersten Niederschreiben noch öfter tief be¬
schäftigte, zwei oder drei Nachträge, die an leichter Abweichung des Strophen¬
baues zu erkennen sind. Der zweite Nachtrag lautet:

Ein dritter Nachtrag aus seinem letzten Lebensjahre, obwohl ungedruckt (wenigstens
nicht in den Werken), lautet:

Da ist denn, für sein sonstiges Denken überraschend genug, das Sterben in den
Begriff des Lebens förmlich mit hereingenommen, selbst als ein notwendiger
Bestandteil, der dem Leben auf dieser Erde allein sein Helles sichert. Und auch
das, dessen ist man sicher, nicht irgend einer Theorie oder Lehre zu Gefallen,
sondern ans eigensten innern Erleben und Erfahren. Sträubt sich aber in uns
etwas dagegen, als wäre damit das Leben doch zu sehr in ein fortgehendes
Sterben umgesetzt und diesem der Vorrang gegeben, so muß man bedenken,
daß das Sterben da nicht von außen gefaßt ist, wie es am Sterbebette sich


TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen.

„Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz
besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt.
Schade, daß mans ihr versagte, denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten
Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich
auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen." Er hatte offenbar
nun auch solche Gedanken und empfand es als einen Verlust für sich, daß die
großen Todesgedanken der Roland so verloren gingen. Die auch ihm bisher
undenkbaren Gedanken, die nun kamen, wie gern wüßte man sie aus dem Geiste
eines Goethe, der so tief und weit in die Geheimnisse der Welt und des Lebens
zu blicken angelegt und geschult war. Doch ist da noch an keine Fortsetzung
über den Tod hinaus gedacht, nur an das abgeschlossene Leben, das"aber nun
einer hochgebirgigen Abendlandschaft gleich auf den Höhen glänzt von höherem
seligem Lichte und in aller Schönheit, nicht bloß irdischer, vor dem Auge des
Geistes liegt, der Standpunkt, der ja für seine eigne Lebensbeschreibung schon
als bestimmend oder darin verborgen wohl zu erkennen ist. Aber die Fort¬
setzung erscheint doch auch, schon im Divan öfter, am merkwürdigsten in dem
Gedicht „Selige Sehnsucht" am Ende des ersten Buches. Es handelt, tief
mystisch, vom Lebendigen, „das nach Flammentod sich sehnet," und hat, da ihn
der Gedanke offenbar auch nach dem ersten Niederschreiben noch öfter tief be¬
schäftigte, zwei oder drei Nachträge, die an leichter Abweichung des Strophen¬
baues zu erkennen sind. Der zweite Nachtrag lautet:

Ein dritter Nachtrag aus seinem letzten Lebensjahre, obwohl ungedruckt (wenigstens
nicht in den Werken), lautet:

Da ist denn, für sein sonstiges Denken überraschend genug, das Sterben in den
Begriff des Lebens förmlich mit hereingenommen, selbst als ein notwendiger
Bestandteil, der dem Leben auf dieser Erde allein sein Helles sichert. Und auch
das, dessen ist man sicher, nicht irgend einer Theorie oder Lehre zu Gefallen,
sondern ans eigensten innern Erleben und Erfahren. Sträubt sich aber in uns
etwas dagegen, als wäre damit das Leben doch zu sehr in ein fortgehendes
Sterben umgesetzt und diesem der Vorrang gegeben, so muß man bedenken,
daß das Sterben da nicht von außen gefaßt ist, wie es am Sterbebette sich


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[0055] TagebuchblLtter eines Sonntagsxhilosophen. „Madame Roland, auf dem Blutgerüste, verlangte Schreibzeug, um die ganz besondern Gedanken aufzuschreiben, die ihr auf dem letzten Wege vorgeschwebt. Schade, daß mans ihr versagte, denn am Ende des Lebens gehen dem gefaßten Geiste Gedanken auf, bisher undenkbare; sie sind wie selige Dämonen, die sich auf den Gipfeln der Vergangenheit glänzend niederlassen." Er hatte offenbar nun auch solche Gedanken und empfand es als einen Verlust für sich, daß die großen Todesgedanken der Roland so verloren gingen. Die auch ihm bisher undenkbaren Gedanken, die nun kamen, wie gern wüßte man sie aus dem Geiste eines Goethe, der so tief und weit in die Geheimnisse der Welt und des Lebens zu blicken angelegt und geschult war. Doch ist da noch an keine Fortsetzung über den Tod hinaus gedacht, nur an das abgeschlossene Leben, das"aber nun einer hochgebirgigen Abendlandschaft gleich auf den Höhen glänzt von höherem seligem Lichte und in aller Schönheit, nicht bloß irdischer, vor dem Auge des Geistes liegt, der Standpunkt, der ja für seine eigne Lebensbeschreibung schon als bestimmend oder darin verborgen wohl zu erkennen ist. Aber die Fort¬ setzung erscheint doch auch, schon im Divan öfter, am merkwürdigsten in dem Gedicht „Selige Sehnsucht" am Ende des ersten Buches. Es handelt, tief mystisch, vom Lebendigen, „das nach Flammentod sich sehnet," und hat, da ihn der Gedanke offenbar auch nach dem ersten Niederschreiben noch öfter tief be¬ schäftigte, zwei oder drei Nachträge, die an leichter Abweichung des Strophen¬ baues zu erkennen sind. Der zweite Nachtrag lautet: Ein dritter Nachtrag aus seinem letzten Lebensjahre, obwohl ungedruckt (wenigstens nicht in den Werken), lautet: Da ist denn, für sein sonstiges Denken überraschend genug, das Sterben in den Begriff des Lebens förmlich mit hereingenommen, selbst als ein notwendiger Bestandteil, der dem Leben auf dieser Erde allein sein Helles sichert. Und auch das, dessen ist man sicher, nicht irgend einer Theorie oder Lehre zu Gefallen, sondern ans eigensten innern Erleben und Erfahren. Sträubt sich aber in uns etwas dagegen, als wäre damit das Leben doch zu sehr in ein fortgehendes Sterben umgesetzt und diesem der Vorrang gegeben, so muß man bedenken, daß das Sterben da nicht von außen gefaßt ist, wie es am Sterbebette sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/55>, abgerufen am 01.07.2024.