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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

ihn oder mit dem er selber über sich hinciusweist. Ich meine den friedlich
schönen Ausdruck, der die Gesichtszüge eines eben Verschiedenen überzieht und
schon letzthin geschildert wurde. Ich weiß nicht, ob die wunderbare Erscheinung
in allen Fällen auftritt und in welchen sie etwa ausbleibt und unter welchen
erkennbaren Bedingungen das geschieht, habe aber den Fall selbst mehr als
einmal in ausgeprägtester Form erlebt und bei Befragen von Andern es mehr¬
fach bestätigen hören, allemal mit einer eigentümlichen begeisterten Wärme und
Bewunderung, die der Vorgang unwillkürlich einflößt, zumal man gewöhnlich
nur teure Angehörige selber sterben sieht. Der Gegensatz zwischen den Gesichts-
zügen während des Todeskampfes und dann mit jenem Frieden ist aber auch
der grellste Gegensatz, den es im Leben geben kann, er stellt sich geradezu als
etwas Unbegreifliches dar und wirkt wunderbar auf die am Sterbelager stehenden
Angehörigen, die denkbar größte mitgefühlte Angst und der größte Trost dicht
hintereinander.

Wenn aber der Kampf selber den Eindruck macht, ja aufzwingt, daß da
zwei Mächte miteinander ringen, so kommt von der Haltung der Gesichtszüge
nachher der Eindruck, daß beide im Augenblicke der Entscheidung, die sie trennt,
Friede gemacht haben, einen Frieden, der auch dem unterliegenden Teil als Ab¬
schiedsgabe zu Gute kommt, den er aber aus sich selbst allein nicht hätte zuwege
bringen können. Denn Verzerrung und grauser Kampf aller Muskeln war das
letzte Thun des Körperlichen, wie soll das aus solchem Zustande plötzlich in
den Zustand solcher Ruhe übertreten können, die nicht bloß eine äußerliche
Muskelruhe ist, sondern zugleich den tiefsten seelischen Ausdruck zeigt, den man
auf denselben Gesichtszügen je gesehen hat?

Auf ein wirkliches Begreifen des wunderbaren Vorganges wird man Wohl
für immer verzichten müssen, auch die sogenannte exacte Wissenschaft wird gewiß
nie die Mittel finden, ihm ans ihrem Wege, d. h. von außen begreifend bei¬
zukommen. Aber das sieht man mit Augen, und doch zugleich von innen, daß
da mit dem Körper zuletzt etwas geschehen ist, das aus ihm allein nicht be¬
griffen werden kann. Man sah vorher die andre Macht mit ihm ringen, nun
auf einmal zeigt er in den Gesichtszügen, dem Spiegel der Seele, eine Be¬
friedigung mit einem Ausdrucke, wie nie im Leben vorher, außer annähernd in
tiefem gesundem Schlafe, also im vollsten Frieden zwischen Leib und Seele.
Dieser Friede zwischen beiden muß denn auch der Schlußakt des Sterbens sein.
Was aber an jenem Ausdrucke mehr ist, als das Leben es bieten konnte, das
kann doch nur von der andern Macht, also von der Seele, kommen, die in dem
Augenblicke der Trennung ihrem Genossen, den sie bisher lenkte oder zu lenken
bemüht war, noch einmal, zum letzten male, diese Lenkung gewährt, aber nun
mit der ganzen unvertummerten Macht ihrer Wesenheit; sie ist nun ganz zu
sich selbst gekommen, ganz in sich befriedigt, und hinterläßt den Abschein dieser
Befriedigung in dem Gebiete des Leibes, in dem sie bisher sich auszusprechen


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

ihn oder mit dem er selber über sich hinciusweist. Ich meine den friedlich
schönen Ausdruck, der die Gesichtszüge eines eben Verschiedenen überzieht und
schon letzthin geschildert wurde. Ich weiß nicht, ob die wunderbare Erscheinung
in allen Fällen auftritt und in welchen sie etwa ausbleibt und unter welchen
erkennbaren Bedingungen das geschieht, habe aber den Fall selbst mehr als
einmal in ausgeprägtester Form erlebt und bei Befragen von Andern es mehr¬
fach bestätigen hören, allemal mit einer eigentümlichen begeisterten Wärme und
Bewunderung, die der Vorgang unwillkürlich einflößt, zumal man gewöhnlich
nur teure Angehörige selber sterben sieht. Der Gegensatz zwischen den Gesichts-
zügen während des Todeskampfes und dann mit jenem Frieden ist aber auch
der grellste Gegensatz, den es im Leben geben kann, er stellt sich geradezu als
etwas Unbegreifliches dar und wirkt wunderbar auf die am Sterbelager stehenden
Angehörigen, die denkbar größte mitgefühlte Angst und der größte Trost dicht
hintereinander.

Wenn aber der Kampf selber den Eindruck macht, ja aufzwingt, daß da
zwei Mächte miteinander ringen, so kommt von der Haltung der Gesichtszüge
nachher der Eindruck, daß beide im Augenblicke der Entscheidung, die sie trennt,
Friede gemacht haben, einen Frieden, der auch dem unterliegenden Teil als Ab¬
schiedsgabe zu Gute kommt, den er aber aus sich selbst allein nicht hätte zuwege
bringen können. Denn Verzerrung und grauser Kampf aller Muskeln war das
letzte Thun des Körperlichen, wie soll das aus solchem Zustande plötzlich in
den Zustand solcher Ruhe übertreten können, die nicht bloß eine äußerliche
Muskelruhe ist, sondern zugleich den tiefsten seelischen Ausdruck zeigt, den man
auf denselben Gesichtszügen je gesehen hat?

Auf ein wirkliches Begreifen des wunderbaren Vorganges wird man Wohl
für immer verzichten müssen, auch die sogenannte exacte Wissenschaft wird gewiß
nie die Mittel finden, ihm ans ihrem Wege, d. h. von außen begreifend bei¬
zukommen. Aber das sieht man mit Augen, und doch zugleich von innen, daß
da mit dem Körper zuletzt etwas geschehen ist, das aus ihm allein nicht be¬
griffen werden kann. Man sah vorher die andre Macht mit ihm ringen, nun
auf einmal zeigt er in den Gesichtszügen, dem Spiegel der Seele, eine Be¬
friedigung mit einem Ausdrucke, wie nie im Leben vorher, außer annähernd in
tiefem gesundem Schlafe, also im vollsten Frieden zwischen Leib und Seele.
Dieser Friede zwischen beiden muß denn auch der Schlußakt des Sterbens sein.
Was aber an jenem Ausdrucke mehr ist, als das Leben es bieten konnte, das
kann doch nur von der andern Macht, also von der Seele, kommen, die in dem
Augenblicke der Trennung ihrem Genossen, den sie bisher lenkte oder zu lenken
bemüht war, noch einmal, zum letzten male, diese Lenkung gewährt, aber nun
mit der ganzen unvertummerten Macht ihrer Wesenheit; sie ist nun ganz zu
sich selbst gekommen, ganz in sich befriedigt, und hinterläßt den Abschein dieser
Befriedigung in dem Gebiete des Leibes, in dem sie bisher sich auszusprechen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/52>, abgerufen am 22.07.2024.