Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Zeit, schon mehrere Jahre vor der Schulzeit, wo sie so gern von Gott und
Himmel reden und davon so wunderliche, oft spaßhaft geistreiche Fragen und
Aussprüche thun: die jugendliche Seele lernt eben kaum die rasch wachsenden
Flügel regen, so will sie auch gleich alles umspannen und ausfliegen, bis sie
vom Ernst der Nähe davon zurückgeholt wird. Dieser Ernst der Nähe wächst
nachher so an, in Fülle, Härte und Weite, daß jene allgemeinen vorciusfliegcnden
Fragen und Gedanken der Kinderseele aus dem Gesichtskreise wie hinausgedrückt
werden: das Leben nimmt die Manneskraft so ganz in Anspruch, in ihm liegt
alle Entscheidung, auch für jene Weite, daß der Tod, das Abbrechen dieses
Lebens, in dem Gedanken keine Stelle findet vor lauter Leben, das mit seinen
endlos nachquellenden Anforderungen dafür sorgt, die Manneskraft immer neu
wachzurufen, zu Schulen und zu steigern. Und dabei reißt doch der Tod fort¬
während Lücken in den Kreis, um so mehr, je mehr er sich erweitert, wie er
fortwährend thut, holt wohl Gegner und damit Hindernisse heraus, aber auch
Freunde und unentbehrliche Helfer. Der Mann in der Arbeit des Lebens
gleicht dem Krieger auf dem Schlachtfelde, welchem das Leben bei aller Ge¬
mütlichkeit des geselligen Gebahrens so vielfältig ähnlich ist: was auch fällt von
Genossen und Plänen oder Wünschen, die unentbehrlich schienen, er muß daran
vorbei oder darüber hin vorwärts streben dem entscheidenden Punkte zu, und
behält auch für fallende Freunde im Augenblick nicht Zeit und Raum in der
Seele, um ihnen in getreuem Gedächtnis mit entsprechender Fülle der Empfindung
ihre Stelle zu bereiten; dazu wird erst am Abend nach der Schlacht Zeit, wie
am Abend des Lebens, wo für den äußern Lebenskampf die Entscheidung so
oder so hinter uns liegt und der Drang sich einstellt, die Lieben alle innerlich
recht lebendig um sich zu sammeln, als den wahren Gewinn dieses Lebens, als
die wahre Welt, in der man eigentlich lebt, die Gebliebenen wie die Überlebenden,
zwischen denen da kein eigentlicher Unterschied besteht, denn beide zusammen
bilden die Schar, in deren Mitte man sich innerlich so sicher fühlt, so ruhig,
wie es auf der Höhe des Lebens im vollen Kampfe nicht leicht zu haben ist --
ruhig und doch dem eignen Tode um so viel näher? sicher und froh im
Besitz treuer Seelen, deren Gestalten dem Tode verfallen sind, die man also
nach gewöhnlicher Rede nicht mehr hat? Und doch ist es so, ist eine That¬
sache des Seelenlebens, wo dessen natürlichem stillem Weben freier Lans
gelassen und keine Gewalt angethan wird, und giebt so allein schon Zeugnis,
aus dem oben angedeuteten tiefen Grunde der Seele heraus, daß dies Leben
bei allem Sterben in seiner Tiefe doch vom Sterben unabhängig ist oder
sein kann.

Auch der Tod selber kann davon ein Zeugnis geben. Er ist uns ja an
sich finster und kalt, das Finsterste, was es für uns giebt, unvergleichbar
finsterer, als was das Leben selbst uns an Düstern bringen kann. Aber hinter
der Finsternis läßt der Furchtbare doch zugleich einen Schein leuchten, der über


Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

Zeit, schon mehrere Jahre vor der Schulzeit, wo sie so gern von Gott und
Himmel reden und davon so wunderliche, oft spaßhaft geistreiche Fragen und
Aussprüche thun: die jugendliche Seele lernt eben kaum die rasch wachsenden
Flügel regen, so will sie auch gleich alles umspannen und ausfliegen, bis sie
vom Ernst der Nähe davon zurückgeholt wird. Dieser Ernst der Nähe wächst
nachher so an, in Fülle, Härte und Weite, daß jene allgemeinen vorciusfliegcnden
Fragen und Gedanken der Kinderseele aus dem Gesichtskreise wie hinausgedrückt
werden: das Leben nimmt die Manneskraft so ganz in Anspruch, in ihm liegt
alle Entscheidung, auch für jene Weite, daß der Tod, das Abbrechen dieses
Lebens, in dem Gedanken keine Stelle findet vor lauter Leben, das mit seinen
endlos nachquellenden Anforderungen dafür sorgt, die Manneskraft immer neu
wachzurufen, zu Schulen und zu steigern. Und dabei reißt doch der Tod fort¬
während Lücken in den Kreis, um so mehr, je mehr er sich erweitert, wie er
fortwährend thut, holt wohl Gegner und damit Hindernisse heraus, aber auch
Freunde und unentbehrliche Helfer. Der Mann in der Arbeit des Lebens
gleicht dem Krieger auf dem Schlachtfelde, welchem das Leben bei aller Ge¬
mütlichkeit des geselligen Gebahrens so vielfältig ähnlich ist: was auch fällt von
Genossen und Plänen oder Wünschen, die unentbehrlich schienen, er muß daran
vorbei oder darüber hin vorwärts streben dem entscheidenden Punkte zu, und
behält auch für fallende Freunde im Augenblick nicht Zeit und Raum in der
Seele, um ihnen in getreuem Gedächtnis mit entsprechender Fülle der Empfindung
ihre Stelle zu bereiten; dazu wird erst am Abend nach der Schlacht Zeit, wie
am Abend des Lebens, wo für den äußern Lebenskampf die Entscheidung so
oder so hinter uns liegt und der Drang sich einstellt, die Lieben alle innerlich
recht lebendig um sich zu sammeln, als den wahren Gewinn dieses Lebens, als
die wahre Welt, in der man eigentlich lebt, die Gebliebenen wie die Überlebenden,
zwischen denen da kein eigentlicher Unterschied besteht, denn beide zusammen
bilden die Schar, in deren Mitte man sich innerlich so sicher fühlt, so ruhig,
wie es auf der Höhe des Lebens im vollen Kampfe nicht leicht zu haben ist —
ruhig und doch dem eignen Tode um so viel näher? sicher und froh im
Besitz treuer Seelen, deren Gestalten dem Tode verfallen sind, die man also
nach gewöhnlicher Rede nicht mehr hat? Und doch ist es so, ist eine That¬
sache des Seelenlebens, wo dessen natürlichem stillem Weben freier Lans
gelassen und keine Gewalt angethan wird, und giebt so allein schon Zeugnis,
aus dem oben angedeuteten tiefen Grunde der Seele heraus, daß dies Leben
bei allem Sterben in seiner Tiefe doch vom Sterben unabhängig ist oder
sein kann.

Auch der Tod selber kann davon ein Zeugnis geben. Er ist uns ja an
sich finster und kalt, das Finsterste, was es für uns giebt, unvergleichbar
finsterer, als was das Leben selbst uns an Düstern bringen kann. Aber hinter
der Finsternis läßt der Furchtbare doch zugleich einen Schein leuchten, der über


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0051" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201480"/>
            <fw type="header" place="top"> Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_96" prev="#ID_95"> Zeit, schon mehrere Jahre vor der Schulzeit, wo sie so gern von Gott und<lb/>
Himmel reden und davon so wunderliche, oft spaßhaft geistreiche Fragen und<lb/>
Aussprüche thun: die jugendliche Seele lernt eben kaum die rasch wachsenden<lb/>
Flügel regen, so will sie auch gleich alles umspannen und ausfliegen, bis sie<lb/>
vom Ernst der Nähe davon zurückgeholt wird. Dieser Ernst der Nähe wächst<lb/>
nachher so an, in Fülle, Härte und Weite, daß jene allgemeinen vorciusfliegcnden<lb/>
Fragen und Gedanken der Kinderseele aus dem Gesichtskreise wie hinausgedrückt<lb/>
werden: das Leben nimmt die Manneskraft so ganz in Anspruch, in ihm liegt<lb/>
alle Entscheidung, auch für jene Weite, daß der Tod, das Abbrechen dieses<lb/>
Lebens, in dem Gedanken keine Stelle findet vor lauter Leben, das mit seinen<lb/>
endlos nachquellenden Anforderungen dafür sorgt, die Manneskraft immer neu<lb/>
wachzurufen, zu Schulen und zu steigern. Und dabei reißt doch der Tod fort¬<lb/>
während Lücken in den Kreis, um so mehr, je mehr er sich erweitert, wie er<lb/>
fortwährend thut, holt wohl Gegner und damit Hindernisse heraus, aber auch<lb/>
Freunde und unentbehrliche Helfer. Der Mann in der Arbeit des Lebens<lb/>
gleicht dem Krieger auf dem Schlachtfelde, welchem das Leben bei aller Ge¬<lb/>
mütlichkeit des geselligen Gebahrens so vielfältig ähnlich ist: was auch fällt von<lb/>
Genossen und Plänen oder Wünschen, die unentbehrlich schienen, er muß daran<lb/>
vorbei oder darüber hin vorwärts streben dem entscheidenden Punkte zu, und<lb/>
behält auch für fallende Freunde im Augenblick nicht Zeit und Raum in der<lb/>
Seele, um ihnen in getreuem Gedächtnis mit entsprechender Fülle der Empfindung<lb/>
ihre Stelle zu bereiten; dazu wird erst am Abend nach der Schlacht Zeit, wie<lb/>
am Abend des Lebens, wo für den äußern Lebenskampf die Entscheidung so<lb/>
oder so hinter uns liegt und der Drang sich einstellt, die Lieben alle innerlich<lb/>
recht lebendig um sich zu sammeln, als den wahren Gewinn dieses Lebens, als<lb/>
die wahre Welt, in der man eigentlich lebt, die Gebliebenen wie die Überlebenden,<lb/>
zwischen denen da kein eigentlicher Unterschied besteht, denn beide zusammen<lb/>
bilden die Schar, in deren Mitte man sich innerlich so sicher fühlt, so ruhig,<lb/>
wie es auf der Höhe des Lebens im vollen Kampfe nicht leicht zu haben ist &#x2014;<lb/>
ruhig und doch dem eignen Tode um so viel näher? sicher und froh im<lb/>
Besitz treuer Seelen, deren Gestalten dem Tode verfallen sind, die man also<lb/>
nach gewöhnlicher Rede nicht mehr hat? Und doch ist es so, ist eine That¬<lb/>
sache des Seelenlebens, wo dessen natürlichem stillem Weben freier Lans<lb/>
gelassen und keine Gewalt angethan wird, und giebt so allein schon Zeugnis,<lb/>
aus dem oben angedeuteten tiefen Grunde der Seele heraus, daß dies Leben<lb/>
bei allem Sterben in seiner Tiefe doch vom Sterben unabhängig ist oder<lb/>
sein kann.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_97" next="#ID_98"> Auch der Tod selber kann davon ein Zeugnis geben. Er ist uns ja an<lb/>
sich finster und kalt, das Finsterste, was es für uns giebt, unvergleichbar<lb/>
finsterer, als was das Leben selbst uns an Düstern bringen kann. Aber hinter<lb/>
der Finsternis läßt der Furchtbare doch zugleich einen Schein leuchten, der über</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0051] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. Zeit, schon mehrere Jahre vor der Schulzeit, wo sie so gern von Gott und Himmel reden und davon so wunderliche, oft spaßhaft geistreiche Fragen und Aussprüche thun: die jugendliche Seele lernt eben kaum die rasch wachsenden Flügel regen, so will sie auch gleich alles umspannen und ausfliegen, bis sie vom Ernst der Nähe davon zurückgeholt wird. Dieser Ernst der Nähe wächst nachher so an, in Fülle, Härte und Weite, daß jene allgemeinen vorciusfliegcnden Fragen und Gedanken der Kinderseele aus dem Gesichtskreise wie hinausgedrückt werden: das Leben nimmt die Manneskraft so ganz in Anspruch, in ihm liegt alle Entscheidung, auch für jene Weite, daß der Tod, das Abbrechen dieses Lebens, in dem Gedanken keine Stelle findet vor lauter Leben, das mit seinen endlos nachquellenden Anforderungen dafür sorgt, die Manneskraft immer neu wachzurufen, zu Schulen und zu steigern. Und dabei reißt doch der Tod fort¬ während Lücken in den Kreis, um so mehr, je mehr er sich erweitert, wie er fortwährend thut, holt wohl Gegner und damit Hindernisse heraus, aber auch Freunde und unentbehrliche Helfer. Der Mann in der Arbeit des Lebens gleicht dem Krieger auf dem Schlachtfelde, welchem das Leben bei aller Ge¬ mütlichkeit des geselligen Gebahrens so vielfältig ähnlich ist: was auch fällt von Genossen und Plänen oder Wünschen, die unentbehrlich schienen, er muß daran vorbei oder darüber hin vorwärts streben dem entscheidenden Punkte zu, und behält auch für fallende Freunde im Augenblick nicht Zeit und Raum in der Seele, um ihnen in getreuem Gedächtnis mit entsprechender Fülle der Empfindung ihre Stelle zu bereiten; dazu wird erst am Abend nach der Schlacht Zeit, wie am Abend des Lebens, wo für den äußern Lebenskampf die Entscheidung so oder so hinter uns liegt und der Drang sich einstellt, die Lieben alle innerlich recht lebendig um sich zu sammeln, als den wahren Gewinn dieses Lebens, als die wahre Welt, in der man eigentlich lebt, die Gebliebenen wie die Überlebenden, zwischen denen da kein eigentlicher Unterschied besteht, denn beide zusammen bilden die Schar, in deren Mitte man sich innerlich so sicher fühlt, so ruhig, wie es auf der Höhe des Lebens im vollen Kampfe nicht leicht zu haben ist — ruhig und doch dem eignen Tode um so viel näher? sicher und froh im Besitz treuer Seelen, deren Gestalten dem Tode verfallen sind, die man also nach gewöhnlicher Rede nicht mehr hat? Und doch ist es so, ist eine That¬ sache des Seelenlebens, wo dessen natürlichem stillem Weben freier Lans gelassen und keine Gewalt angethan wird, und giebt so allein schon Zeugnis, aus dem oben angedeuteten tiefen Grunde der Seele heraus, daß dies Leben bei allem Sterben in seiner Tiefe doch vom Sterben unabhängig ist oder sein kann. Auch der Tod selber kann davon ein Zeugnis geben. Er ist uns ja an sich finster und kalt, das Finsterste, was es für uns giebt, unvergleichbar finsterer, als was das Leben selbst uns an Düstern bringen kann. Aber hinter der Finsternis läßt der Furchtbare doch zugleich einen Schein leuchten, der über

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/51
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/51>, abgerufen am 25.08.2024.