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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gevatter Tod.

fertig war, sagte er mit lauter, deutlicher Stimme: Mutter! der Tod ist aber
doch ein häßlicher Mann, und ich fürchte mich vor ihm. Mich soll er lieber
gar nicht in die Herrlichkeit des Himmels hinauftragen.

Nachdem er so mit sich selber über diese Frage im Reinen war, schaute
Tippe auf. Da fiel gerade ein Mondstrahl auf das Gesicht der Mutter, und
er sah, daß sie weinte, und es war ihm, als glänzten ihre Augen ganz eigen¬
tümlich, als lägen sie tief in den Augenhöhlen, und ihre Wangen waren so
eingefallen und ein leuchtend roter Fleck brannte auf ihnen. Und Tippe lehnte
sein Köpfchen an ihre Brust und hatte die größte Lust, auch zu weinen. Da
beugte sich aber die Mutter schnell über ihn herab, küßte ihn liebevoll und
sagte, daß es jetzt die höchste Zeit für sie beide sei, zu Bette zu gehen, und
daß sie nun etwas andres zu thun hätten als zu weinen.

Zuerst wollten sie sich ausziehen, dann sollte er sein Zeug wie ein ordent¬
licher kleiner Junge hübsch sauber zusammenlegen, und dann die Händchen falten
und das Abendgebet sprechen, zuletzt aber beide Arme um den Hals der Mutter
schlingen und sagen: Gute Nacht, meine Hcrzensmutter! Und dann wollte die
Mutter ihm antworten: Gute Nacht, mein Herzensjunge! Schlaf wohl in
Gottes Hut!

Das alles thaten denn die beiden auch, aber dem kleinen Tippe wurde es
heute Abend sehr schwer, in Gottes Hut einzuschlafen. Denn er konnte seine
Gedanken nicht zur Ruhe bringen, sie drehten sich unaufhörlich im Kreise in seinem
Köpfchen herum. Der Tod war nun einmal ein häßlicher Mann, und er fürchtete
sich vor ihm, und jetzt stand er dort oben an der Wand und schaute mit seinen
großen, schwarzen Augen auf ihn herab. Das war kein angenehmes Bewußtsein
für so einen kleinen Jungen wie Tippe. Aber wie er so dalag und sann und
sann, überkam ihn plötzlich ein großartiger Gedanke. Der siel gleichsam aus
der Luft auf ihn herab, als Hütte der Gevatter Tod ihn selber gebildet und
ihn jetzt auf ihn herabgesenkt.

Mich soll der Tod nicht holen! dachte er. Denn ich will meine Augen
nicht zumachen, wenn er kommt, und wenn ich meine Augen nicht zumache, so
kann er mich auch nicht holen, denn das kann er nun einmal nicht!

Und es ward stille in ihm, und seine Unruhe legte sich, sobald ihm dieser
Gedanke gekommen und sein Beschluß gefaßt war. Er hatte das Geheimnis
des Lebens erlangt, und das ist ein sicherer Schutz gegen den Tod.

Aber, fiel es ihm Plötzlich ein, wenn man nun so sehr müde ist, wenn der
Tod kommt, ob man dann auch wohl die Augen offen halten kann?

Das beunruhigte ihn ein wenig, aber dann riß er seine Augen so weit
auf, wie er nur konnte, und bemerkte mit stiller Befriedigung, daß ihm dies
ganz gut gelang.

Das ist herrlich -- herrlich -- herrlich! flüsterte er vor sich hin, aber
mit jedem male wurde es undeutlicher, und als er das Wort zum dritten male


Grenzboten IV. 1387. 63
Gevatter Tod.

fertig war, sagte er mit lauter, deutlicher Stimme: Mutter! der Tod ist aber
doch ein häßlicher Mann, und ich fürchte mich vor ihm. Mich soll er lieber
gar nicht in die Herrlichkeit des Himmels hinauftragen.

Nachdem er so mit sich selber über diese Frage im Reinen war, schaute
Tippe auf. Da fiel gerade ein Mondstrahl auf das Gesicht der Mutter, und
er sah, daß sie weinte, und es war ihm, als glänzten ihre Augen ganz eigen¬
tümlich, als lägen sie tief in den Augenhöhlen, und ihre Wangen waren so
eingefallen und ein leuchtend roter Fleck brannte auf ihnen. Und Tippe lehnte
sein Köpfchen an ihre Brust und hatte die größte Lust, auch zu weinen. Da
beugte sich aber die Mutter schnell über ihn herab, küßte ihn liebevoll und
sagte, daß es jetzt die höchste Zeit für sie beide sei, zu Bette zu gehen, und
daß sie nun etwas andres zu thun hätten als zu weinen.

Zuerst wollten sie sich ausziehen, dann sollte er sein Zeug wie ein ordent¬
licher kleiner Junge hübsch sauber zusammenlegen, und dann die Händchen falten
und das Abendgebet sprechen, zuletzt aber beide Arme um den Hals der Mutter
schlingen und sagen: Gute Nacht, meine Hcrzensmutter! Und dann wollte die
Mutter ihm antworten: Gute Nacht, mein Herzensjunge! Schlaf wohl in
Gottes Hut!

Das alles thaten denn die beiden auch, aber dem kleinen Tippe wurde es
heute Abend sehr schwer, in Gottes Hut einzuschlafen. Denn er konnte seine
Gedanken nicht zur Ruhe bringen, sie drehten sich unaufhörlich im Kreise in seinem
Köpfchen herum. Der Tod war nun einmal ein häßlicher Mann, und er fürchtete
sich vor ihm, und jetzt stand er dort oben an der Wand und schaute mit seinen
großen, schwarzen Augen auf ihn herab. Das war kein angenehmes Bewußtsein
für so einen kleinen Jungen wie Tippe. Aber wie er so dalag und sann und
sann, überkam ihn plötzlich ein großartiger Gedanke. Der siel gleichsam aus
der Luft auf ihn herab, als Hütte der Gevatter Tod ihn selber gebildet und
ihn jetzt auf ihn herabgesenkt.

Mich soll der Tod nicht holen! dachte er. Denn ich will meine Augen
nicht zumachen, wenn er kommt, und wenn ich meine Augen nicht zumache, so
kann er mich auch nicht holen, denn das kann er nun einmal nicht!

Und es ward stille in ihm, und seine Unruhe legte sich, sobald ihm dieser
Gedanke gekommen und sein Beschluß gefaßt war. Er hatte das Geheimnis
des Lebens erlangt, und das ist ein sicherer Schutz gegen den Tod.

Aber, fiel es ihm Plötzlich ein, wenn man nun so sehr müde ist, wenn der
Tod kommt, ob man dann auch wohl die Augen offen halten kann?

Das beunruhigte ihn ein wenig, aber dann riß er seine Augen so weit
auf, wie er nur konnte, und bemerkte mit stiller Befriedigung, daß ihm dies
ganz gut gelang.

Das ist herrlich — herrlich — herrlich! flüsterte er vor sich hin, aber
mit jedem male wurde es undeutlicher, und als er das Wort zum dritten male


Grenzboten IV. 1387. 63
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[0505] Gevatter Tod. fertig war, sagte er mit lauter, deutlicher Stimme: Mutter! der Tod ist aber doch ein häßlicher Mann, und ich fürchte mich vor ihm. Mich soll er lieber gar nicht in die Herrlichkeit des Himmels hinauftragen. Nachdem er so mit sich selber über diese Frage im Reinen war, schaute Tippe auf. Da fiel gerade ein Mondstrahl auf das Gesicht der Mutter, und er sah, daß sie weinte, und es war ihm, als glänzten ihre Augen ganz eigen¬ tümlich, als lägen sie tief in den Augenhöhlen, und ihre Wangen waren so eingefallen und ein leuchtend roter Fleck brannte auf ihnen. Und Tippe lehnte sein Köpfchen an ihre Brust und hatte die größte Lust, auch zu weinen. Da beugte sich aber die Mutter schnell über ihn herab, küßte ihn liebevoll und sagte, daß es jetzt die höchste Zeit für sie beide sei, zu Bette zu gehen, und daß sie nun etwas andres zu thun hätten als zu weinen. Zuerst wollten sie sich ausziehen, dann sollte er sein Zeug wie ein ordent¬ licher kleiner Junge hübsch sauber zusammenlegen, und dann die Händchen falten und das Abendgebet sprechen, zuletzt aber beide Arme um den Hals der Mutter schlingen und sagen: Gute Nacht, meine Hcrzensmutter! Und dann wollte die Mutter ihm antworten: Gute Nacht, mein Herzensjunge! Schlaf wohl in Gottes Hut! Das alles thaten denn die beiden auch, aber dem kleinen Tippe wurde es heute Abend sehr schwer, in Gottes Hut einzuschlafen. Denn er konnte seine Gedanken nicht zur Ruhe bringen, sie drehten sich unaufhörlich im Kreise in seinem Köpfchen herum. Der Tod war nun einmal ein häßlicher Mann, und er fürchtete sich vor ihm, und jetzt stand er dort oben an der Wand und schaute mit seinen großen, schwarzen Augen auf ihn herab. Das war kein angenehmes Bewußtsein für so einen kleinen Jungen wie Tippe. Aber wie er so dalag und sann und sann, überkam ihn plötzlich ein großartiger Gedanke. Der siel gleichsam aus der Luft auf ihn herab, als Hütte der Gevatter Tod ihn selber gebildet und ihn jetzt auf ihn herabgesenkt. Mich soll der Tod nicht holen! dachte er. Denn ich will meine Augen nicht zumachen, wenn er kommt, und wenn ich meine Augen nicht zumache, so kann er mich auch nicht holen, denn das kann er nun einmal nicht! Und es ward stille in ihm, und seine Unruhe legte sich, sobald ihm dieser Gedanke gekommen und sein Beschluß gefaßt war. Er hatte das Geheimnis des Lebens erlangt, und das ist ein sicherer Schutz gegen den Tod. Aber, fiel es ihm Plötzlich ein, wenn man nun so sehr müde ist, wenn der Tod kommt, ob man dann auch wohl die Augen offen halten kann? Das beunruhigte ihn ein wenig, aber dann riß er seine Augen so weit auf, wie er nur konnte, und bemerkte mit stiller Befriedigung, daß ihm dies ganz gut gelang. Das ist herrlich — herrlich — herrlich! flüsterte er vor sich hin, aber mit jedem male wurde es undeutlicher, und als er das Wort zum dritten male Grenzboten IV. 1387. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/505>, abgerufen am 22.07.2024.