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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tages den Mund öffnete und Lust verspürte, eine andre Sprache zu rede".
Daran fand er ein solches Wohlgefallen, daß es nicht lange währte, bis sein
kleiner Mund vom frühen Morgen bis zum Abend plapperte und gar nicht
mehr zum Stillestehen zu bringen war.

Das kam alles so ganz von selbst und war ein großer Trost und eine
Quelle reicher Freude für die Mutter. Der alte Jens konnte sich kaum fassen
vor Bewunderung. Auch alle andern Menschen waren freundlich gegen Tippe;
wenn sie ihm begegneten, so streichelten sie seine runden, rosigen Wangen. Und
Tippe war freundlich gegen alle Menschen und hatte sie alle lieb. Kleine Wesen
wie er watschelte" auf ihn zu, und wenn sie einander eine Zeit lang mit nach¬
denklichen Antlitz, den Zeigefinger im Munde, angestarrt hatten, so war die
Bekanntschaft gemacht, und sie waren fortan Freunde.

So glich denn sein Leben einem lichten Frühlingsmorgen, an dem die
Sonne eben aufgehen will und die Vögel in den Bäumen anfangen zu zwitschern.
Tippe hatte ein Gefühl, als sei es eine schöne und gute Welt, in die er seinen
Einzug hielt, eine Welt, in der es sich verlohne zu leben.

Vielleicht war das der Grund, daß er kein so rechtes Zutrauen zu seinem
Gevatter Tod fassen konnte, obwohl doch der Tod immer in seiner Nähe war
und sich dort zu schaffen machte, früh und spät, drinnen wie draußen. Der Tod
war schuld daran, daß alle Gesichter freundlich dreiuschanteu, wenn sie Tippe
ansahen, denn sie dachten dann an den Schulmeister, der ja gestorben war;
und es bahnte dein armen, vaterlosen kleinen Burschen oftmals den Weg, wenn
sonst niemand daran dachte. Es war etwas Übernatürliches in der Macht,
die er ans Tippe ausübte, und doch konnte er seine wahre Zuneigung nicht
erringen.

Da lag nun das kleine Wesen in der Wiege und blickte mit seineu runden
Augen zu dem Tode auf, bis sein Gesichtchen sich verzog und er schließlich bitten
lich weinte. Aber ganz ohne ihn konnte er doch nicht fertig werden. Wenn
die Mutter die Wiege so hingestellt hatte, daß er das Bild nicht sehen konnte,
so lag Tippe da und drehte und wendete seinen kleine" Kopf unaufhörlich,
bis die Wiege wieder anders gestellt war und er den Tod mit immer größer
werdenden Augen anstarrte, und dann fing er an, allmählich seine Züge zu
verzerren und in lautes Weinen auszubrechen.

Und die Zeit verging, Tippe wurde ein großer Junge, der der Wiege ent¬
wachsen war. Er ging an der Hand der Mutter auf den Friedhof, wo der
Gevatter Tod wohnte und wo der Vater unter Blumen begraben lag. Die
Mutter fetzte sich auf das Grab des Vaters, Tippe setzte sich auf der Mutter
Schooß, und dann erzählte sie ihm vom Vater, wie gut er gewesen war, wie
liebevoll, treu und fromm. Und wenn sie schwieg, dann saßen die beiden eine
Weile ganz stille da, bis die Thränen der Mutter auf Tippes Köpfchen fielen
und er schließlich auch zu weinen anfing. Und doch war es Tippes schönstes


Tages den Mund öffnete und Lust verspürte, eine andre Sprache zu rede».
Daran fand er ein solches Wohlgefallen, daß es nicht lange währte, bis sein
kleiner Mund vom frühen Morgen bis zum Abend plapperte und gar nicht
mehr zum Stillestehen zu bringen war.

Das kam alles so ganz von selbst und war ein großer Trost und eine
Quelle reicher Freude für die Mutter. Der alte Jens konnte sich kaum fassen
vor Bewunderung. Auch alle andern Menschen waren freundlich gegen Tippe;
wenn sie ihm begegneten, so streichelten sie seine runden, rosigen Wangen. Und
Tippe war freundlich gegen alle Menschen und hatte sie alle lieb. Kleine Wesen
wie er watschelte« auf ihn zu, und wenn sie einander eine Zeit lang mit nach¬
denklichen Antlitz, den Zeigefinger im Munde, angestarrt hatten, so war die
Bekanntschaft gemacht, und sie waren fortan Freunde.

So glich denn sein Leben einem lichten Frühlingsmorgen, an dem die
Sonne eben aufgehen will und die Vögel in den Bäumen anfangen zu zwitschern.
Tippe hatte ein Gefühl, als sei es eine schöne und gute Welt, in die er seinen
Einzug hielt, eine Welt, in der es sich verlohne zu leben.

Vielleicht war das der Grund, daß er kein so rechtes Zutrauen zu seinem
Gevatter Tod fassen konnte, obwohl doch der Tod immer in seiner Nähe war
und sich dort zu schaffen machte, früh und spät, drinnen wie draußen. Der Tod
war schuld daran, daß alle Gesichter freundlich dreiuschanteu, wenn sie Tippe
ansahen, denn sie dachten dann an den Schulmeister, der ja gestorben war;
und es bahnte dein armen, vaterlosen kleinen Burschen oftmals den Weg, wenn
sonst niemand daran dachte. Es war etwas Übernatürliches in der Macht,
die er ans Tippe ausübte, und doch konnte er seine wahre Zuneigung nicht
erringen.

Da lag nun das kleine Wesen in der Wiege und blickte mit seineu runden
Augen zu dem Tode auf, bis sein Gesichtchen sich verzog und er schließlich bitten
lich weinte. Aber ganz ohne ihn konnte er doch nicht fertig werden. Wenn
die Mutter die Wiege so hingestellt hatte, daß er das Bild nicht sehen konnte,
so lag Tippe da und drehte und wendete seinen kleine» Kopf unaufhörlich,
bis die Wiege wieder anders gestellt war und er den Tod mit immer größer
werdenden Augen anstarrte, und dann fing er an, allmählich seine Züge zu
verzerren und in lautes Weinen auszubrechen.

Und die Zeit verging, Tippe wurde ein großer Junge, der der Wiege ent¬
wachsen war. Er ging an der Hand der Mutter auf den Friedhof, wo der
Gevatter Tod wohnte und wo der Vater unter Blumen begraben lag. Die
Mutter fetzte sich auf das Grab des Vaters, Tippe setzte sich auf der Mutter
Schooß, und dann erzählte sie ihm vom Vater, wie gut er gewesen war, wie
liebevoll, treu und fromm. Und wenn sie schwieg, dann saßen die beiden eine
Weile ganz stille da, bis die Thränen der Mutter auf Tippes Köpfchen fielen
und er schließlich auch zu weinen anfing. Und doch war es Tippes schönstes


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/463>, abgerufen am 01.07.2024.