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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Zwei Fragen des Tages.

native nicht auf die Dauer fern zu halten, und ehe viele Tage ins Land gehen, wird
Grevy vor der historischen Wahl seines Vorgängers zwischen Unterwerfung unter
die Kammer und Abdankung stehe". Und es ist sehr fraglich, ob ihn eine jetzige
Nachgiebigkeit gegen die Feinde im Parlament für längere Zeit vor neuem
Ansturm sichern würde. Bei den ersten Angriffe", die in der Deputirtenkammer
erfolgten, hieß es. der Präsident sei willens, abzutreten, wenn eine parlamentarische
Untersuchung gegen seinen Schwiegersohn beschlossen würde; dann sollte er seine Ab¬
dankung in Aussicht gestellt haben, falls Wilson schuldig befunden werden sollte.
Es darf bezweifelt werden, daß dies mehr als eine Drohung, also ein fester,
endgiltiger Entschluß war, wenn es überhaupt bestimmt ausgesprochen wurde.
Grevy hat bisher auf seinem Posten ausgeharrt, nicht aus Ehrgeiz oder andern
selbstsüchtigen Beweggründen, sondern weil er, der überzeugte Republikaner, die
Republik mit einer andern Spitze als stark gefährdet betrachtet. Thiers war Re¬
publikaner nur aus Not, unter Mcicmcchvn zogen schwere Wolken gegen die neue
Staatsform herauf, erst mit Grevys Amtsantritte war sie vor Umsturz von
oben her gesichert. Er entfernte unzuverlässige Generale, er hielt später Gam-
betta nieder, als dieser cäsarische Velleitäten verriet, er stürzte den gefährlichen
Mann, indem er mit Aufbietung seines ganzen Einflusses den Senat zur Ver¬
werfung des Listenwahlgesetzes bewog, welches diesen auf den Gipfel der Macht
zu heben bestimmt war. Als diese Gefahr vorüber war, griff der Präsident,
seiner Überzeugung von der seligmachenden Kraft des Parlamentarismus getreu,
lange Zeit uicht mehr ein und begnügte sich, Zünglein an der Parteiwage zu
sein. Jetzt aber sieht er sein Ideal, die "Republik der achtbaren Leute," zu
gleicher Zeit von drei Seiten bedroht: gefährlicher als unter der Präsidentschaft
Macmcchons ist jetzt schon seit mehreren Jahren die royalistische Strömung, un¬
gestüm drängen die Radikalen auf verderbliche Maßregeln im Innern hin, wäh¬
rend Boulanger sich mit geschickter Benutzung der Schwächen seiner Landsleute
und als Gcsamttypus dieser Schwächen eine Popularität erworben hat, die fast an
die von Gcimbctta reicht. Grevy wird angesichts dieser Lage der Dinge nicht leicht
von seinem Posten weichen wollen. Es fragt sich aber, ob er nicht über kurz
oder lang gehen muß. Bald sind es zwei Jahre, daß er zum zweiten male
Präsident der Republik wurde, und es ist schon seines hohen Alters wegen
nicht wohl anzunehmen, daß er die fünf Jahre, welche seine Amtsdauer noch
einschließt, in jener Stelle verbleiben wird. Aber die Ungeduld und die Ver-
cindcrnngsliebe des Charakters der Franzosen findet, daß er an ihr schou zu
lange steht. Man setzt die Achtung, die ihm als Staatsoberhaupt zukommt, aus
den Augen, verdächtigt und schmäht ihn, ergreift mit Behage" die Gelegenheit,
welche die unsaubere Aufführung seines Eidams bietet, um ihn ebenfalls für
beschmutzt zu erklären, und ist für den Fall, daß Wilson gerechtfertigt aus der
über ihn verhängten Untersuchung hervorginge, bereit, den Präsidenten alsbald
durch Beschuldigung andrer von seinen Familiengliedern in den Kot zu schieben.


Zwei Fragen des Tages.

native nicht auf die Dauer fern zu halten, und ehe viele Tage ins Land gehen, wird
Grevy vor der historischen Wahl seines Vorgängers zwischen Unterwerfung unter
die Kammer und Abdankung stehe». Und es ist sehr fraglich, ob ihn eine jetzige
Nachgiebigkeit gegen die Feinde im Parlament für längere Zeit vor neuem
Ansturm sichern würde. Bei den ersten Angriffe», die in der Deputirtenkammer
erfolgten, hieß es. der Präsident sei willens, abzutreten, wenn eine parlamentarische
Untersuchung gegen seinen Schwiegersohn beschlossen würde; dann sollte er seine Ab¬
dankung in Aussicht gestellt haben, falls Wilson schuldig befunden werden sollte.
Es darf bezweifelt werden, daß dies mehr als eine Drohung, also ein fester,
endgiltiger Entschluß war, wenn es überhaupt bestimmt ausgesprochen wurde.
Grevy hat bisher auf seinem Posten ausgeharrt, nicht aus Ehrgeiz oder andern
selbstsüchtigen Beweggründen, sondern weil er, der überzeugte Republikaner, die
Republik mit einer andern Spitze als stark gefährdet betrachtet. Thiers war Re¬
publikaner nur aus Not, unter Mcicmcchvn zogen schwere Wolken gegen die neue
Staatsform herauf, erst mit Grevys Amtsantritte war sie vor Umsturz von
oben her gesichert. Er entfernte unzuverlässige Generale, er hielt später Gam-
betta nieder, als dieser cäsarische Velleitäten verriet, er stürzte den gefährlichen
Mann, indem er mit Aufbietung seines ganzen Einflusses den Senat zur Ver¬
werfung des Listenwahlgesetzes bewog, welches diesen auf den Gipfel der Macht
zu heben bestimmt war. Als diese Gefahr vorüber war, griff der Präsident,
seiner Überzeugung von der seligmachenden Kraft des Parlamentarismus getreu,
lange Zeit uicht mehr ein und begnügte sich, Zünglein an der Parteiwage zu
sein. Jetzt aber sieht er sein Ideal, die „Republik der achtbaren Leute," zu
gleicher Zeit von drei Seiten bedroht: gefährlicher als unter der Präsidentschaft
Macmcchons ist jetzt schon seit mehreren Jahren die royalistische Strömung, un¬
gestüm drängen die Radikalen auf verderbliche Maßregeln im Innern hin, wäh¬
rend Boulanger sich mit geschickter Benutzung der Schwächen seiner Landsleute
und als Gcsamttypus dieser Schwächen eine Popularität erworben hat, die fast an
die von Gcimbctta reicht. Grevy wird angesichts dieser Lage der Dinge nicht leicht
von seinem Posten weichen wollen. Es fragt sich aber, ob er nicht über kurz
oder lang gehen muß. Bald sind es zwei Jahre, daß er zum zweiten male
Präsident der Republik wurde, und es ist schon seines hohen Alters wegen
nicht wohl anzunehmen, daß er die fünf Jahre, welche seine Amtsdauer noch
einschließt, in jener Stelle verbleiben wird. Aber die Ungeduld und die Ver-
cindcrnngsliebe des Charakters der Franzosen findet, daß er an ihr schou zu
lange steht. Man setzt die Achtung, die ihm als Staatsoberhaupt zukommt, aus
den Augen, verdächtigt und schmäht ihn, ergreift mit Behage» die Gelegenheit,
welche die unsaubere Aufführung seines Eidams bietet, um ihn ebenfalls für
beschmutzt zu erklären, und ist für den Fall, daß Wilson gerechtfertigt aus der
über ihn verhängten Untersuchung hervorginge, bereit, den Präsidenten alsbald
durch Beschuldigung andrer von seinen Familiengliedern in den Kot zu schieben.


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[0419] Zwei Fragen des Tages. native nicht auf die Dauer fern zu halten, und ehe viele Tage ins Land gehen, wird Grevy vor der historischen Wahl seines Vorgängers zwischen Unterwerfung unter die Kammer und Abdankung stehe». Und es ist sehr fraglich, ob ihn eine jetzige Nachgiebigkeit gegen die Feinde im Parlament für längere Zeit vor neuem Ansturm sichern würde. Bei den ersten Angriffe», die in der Deputirtenkammer erfolgten, hieß es. der Präsident sei willens, abzutreten, wenn eine parlamentarische Untersuchung gegen seinen Schwiegersohn beschlossen würde; dann sollte er seine Ab¬ dankung in Aussicht gestellt haben, falls Wilson schuldig befunden werden sollte. Es darf bezweifelt werden, daß dies mehr als eine Drohung, also ein fester, endgiltiger Entschluß war, wenn es überhaupt bestimmt ausgesprochen wurde. Grevy hat bisher auf seinem Posten ausgeharrt, nicht aus Ehrgeiz oder andern selbstsüchtigen Beweggründen, sondern weil er, der überzeugte Republikaner, die Republik mit einer andern Spitze als stark gefährdet betrachtet. Thiers war Re¬ publikaner nur aus Not, unter Mcicmcchvn zogen schwere Wolken gegen die neue Staatsform herauf, erst mit Grevys Amtsantritte war sie vor Umsturz von oben her gesichert. Er entfernte unzuverlässige Generale, er hielt später Gam- betta nieder, als dieser cäsarische Velleitäten verriet, er stürzte den gefährlichen Mann, indem er mit Aufbietung seines ganzen Einflusses den Senat zur Ver¬ werfung des Listenwahlgesetzes bewog, welches diesen auf den Gipfel der Macht zu heben bestimmt war. Als diese Gefahr vorüber war, griff der Präsident, seiner Überzeugung von der seligmachenden Kraft des Parlamentarismus getreu, lange Zeit uicht mehr ein und begnügte sich, Zünglein an der Parteiwage zu sein. Jetzt aber sieht er sein Ideal, die „Republik der achtbaren Leute," zu gleicher Zeit von drei Seiten bedroht: gefährlicher als unter der Präsidentschaft Macmcchons ist jetzt schon seit mehreren Jahren die royalistische Strömung, un¬ gestüm drängen die Radikalen auf verderbliche Maßregeln im Innern hin, wäh¬ rend Boulanger sich mit geschickter Benutzung der Schwächen seiner Landsleute und als Gcsamttypus dieser Schwächen eine Popularität erworben hat, die fast an die von Gcimbctta reicht. Grevy wird angesichts dieser Lage der Dinge nicht leicht von seinem Posten weichen wollen. Es fragt sich aber, ob er nicht über kurz oder lang gehen muß. Bald sind es zwei Jahre, daß er zum zweiten male Präsident der Republik wurde, und es ist schon seines hohen Alters wegen nicht wohl anzunehmen, daß er die fünf Jahre, welche seine Amtsdauer noch einschließt, in jener Stelle verbleiben wird. Aber die Ungeduld und die Ver- cindcrnngsliebe des Charakters der Franzosen findet, daß er an ihr schou zu lange steht. Man setzt die Achtung, die ihm als Staatsoberhaupt zukommt, aus den Augen, verdächtigt und schmäht ihn, ergreift mit Behage» die Gelegenheit, welche die unsaubere Aufführung seines Eidams bietet, um ihn ebenfalls für beschmutzt zu erklären, und ist für den Fall, daß Wilson gerechtfertigt aus der über ihn verhängten Untersuchung hervorginge, bereit, den Präsidenten alsbald durch Beschuldigung andrer von seinen Familiengliedern in den Kot zu schieben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/419>, abgerufen am 22.07.2024.