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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das Wormser Volkstheater.

besonders in deutscher Art, wird es dem Volke vorgeführt werden. So hält
man sich zuerst an das schon vorhandene Gute. Schön wünscht aber, daß für
die Wormser Bühne eigne Stücke geschrieben würden, deren Hintergrund hie
und da auch die Stadtgeschichte bilde. Bei der Bedeutung, welche Worms im
alten deutschen Reiche hatte, und seiner Teilnahme an den Geschicken desselben
konnten allerdings Dramen entstehen, welche mehr als örtliches Interesse be¬
anspruchten- So soll der eigenartigen Entwicklung des zeitgenössischen Schaffens
der Weg eröffnet und frei gehalten werden. Vielleicht könnte in der That, wenn
das Wormser Beispiel Nachahmung fände, eines dadurch auf die dramatische
Dichtung selbst günstig eingewirkt werden. Vielleicht käme mancher dramatische
Dichter zur Geltung, der bei den bestehenden Theaterverhältnissen seine Kraft
auf andern Gebieten zersplittern oder zu Grunde gehen müßte. Wie segens¬
reich hätte sich am Ende eine solche Bühne für Grabbe, der ganz ähnliche Ziele
predigte und verfolgte (vergl. Über Shalspearvmanie), erwiesen, indem sie ihn
durch die Aussicht auf Aufführung seiner Werke vielleicht zu geordnetem Ar¬
beiten gebracht hätte, oder für den genialen, unglücklichen Albert Lindner.
Vielleicht würden auch dadurch, wie schon durch die bloße äußere Reform,
die dramatischen Nichtigkeiten, deren einziger Vorzug oft ein den Franzosen
abgelernter Dialog und geschickte Mache ist, vor Stücken mit einem weitern
Gesichtskreise und von nationalem Geiste zurücktreten, wo der den Volks¬
klassen gemeinsame Stoff im Sinne der Gemeinsamkeit behandelt wird. "Auf
diesem künstlerischen Lebendigwerden des Allgemeinsamen beruht die unvergleich¬
liche Wirkung solcher dramatischen Darstellungen" (H. v. Wolzogen). Die
Kunst kann nur gedeihen, wenn sie sich nicht an eine Gesellschaftsklasse, sondern
an das ganze Volk wendet. Da entstünden denn die wahren Vvlksstücke, nicht
jene sentimentalen, herkömmlich so genannten, welche das Volk über seine Be¬
schränkung nicht hinaussehen. Hier hilft nicht das I. Schmidt-Freytagschc
Nomanprinzip, das Volk aufzusuchen, wo es am tüchtigsten ist, bei der Werk¬
tagsarbeit, sondern das Volk soll sich hier auf der Bühne bei der geschichtlichen
Arbeit als Nation sehen und seine großen Männer als die schönste Ver¬
körperung derselben. So hat Herrig dem Volke seinen Luther hingestellt, und
so können ihm alle seine Helden und seine Geschichte durch die Bühne bekannt
und vertraut werden, wie Friedrich der Große durch Menzels Stift. Es möchte
durch öftere Vorführung derselben geschichtlichen Persönlichkeit in verschiednen
Dramen vielleicht der rechte volkstümliche Typus sich ausbilden, wie die Helden¬
gestalten des Volksepos durch die Rhapsodien verschiedner Dichter. Dieser
rechte Typus zöge dann in das Herz des Volkes ein. Herrig denkt auch an
Weihnachts- und Osterspiele. Könnten diese in angemessener Form wieder zum
Leben erweckt werden -- es brauchte Christus gar nicht selbst die Bühne zu
betreten, die ganze christliche Zeit könnte den Stoff hergeben --, so wäre es
sehr erfreulich. Abgesehen davon, daß eine Fülle der ergreifendsten, zartesten,


Das Wormser Volkstheater.

besonders in deutscher Art, wird es dem Volke vorgeführt werden. So hält
man sich zuerst an das schon vorhandene Gute. Schön wünscht aber, daß für
die Wormser Bühne eigne Stücke geschrieben würden, deren Hintergrund hie
und da auch die Stadtgeschichte bilde. Bei der Bedeutung, welche Worms im
alten deutschen Reiche hatte, und seiner Teilnahme an den Geschicken desselben
konnten allerdings Dramen entstehen, welche mehr als örtliches Interesse be¬
anspruchten- So soll der eigenartigen Entwicklung des zeitgenössischen Schaffens
der Weg eröffnet und frei gehalten werden. Vielleicht könnte in der That, wenn
das Wormser Beispiel Nachahmung fände, eines dadurch auf die dramatische
Dichtung selbst günstig eingewirkt werden. Vielleicht käme mancher dramatische
Dichter zur Geltung, der bei den bestehenden Theaterverhältnissen seine Kraft
auf andern Gebieten zersplittern oder zu Grunde gehen müßte. Wie segens¬
reich hätte sich am Ende eine solche Bühne für Grabbe, der ganz ähnliche Ziele
predigte und verfolgte (vergl. Über Shalspearvmanie), erwiesen, indem sie ihn
durch die Aussicht auf Aufführung seiner Werke vielleicht zu geordnetem Ar¬
beiten gebracht hätte, oder für den genialen, unglücklichen Albert Lindner.
Vielleicht würden auch dadurch, wie schon durch die bloße äußere Reform,
die dramatischen Nichtigkeiten, deren einziger Vorzug oft ein den Franzosen
abgelernter Dialog und geschickte Mache ist, vor Stücken mit einem weitern
Gesichtskreise und von nationalem Geiste zurücktreten, wo der den Volks¬
klassen gemeinsame Stoff im Sinne der Gemeinsamkeit behandelt wird. „Auf
diesem künstlerischen Lebendigwerden des Allgemeinsamen beruht die unvergleich¬
liche Wirkung solcher dramatischen Darstellungen" (H. v. Wolzogen). Die
Kunst kann nur gedeihen, wenn sie sich nicht an eine Gesellschaftsklasse, sondern
an das ganze Volk wendet. Da entstünden denn die wahren Vvlksstücke, nicht
jene sentimentalen, herkömmlich so genannten, welche das Volk über seine Be¬
schränkung nicht hinaussehen. Hier hilft nicht das I. Schmidt-Freytagschc
Nomanprinzip, das Volk aufzusuchen, wo es am tüchtigsten ist, bei der Werk¬
tagsarbeit, sondern das Volk soll sich hier auf der Bühne bei der geschichtlichen
Arbeit als Nation sehen und seine großen Männer als die schönste Ver¬
körperung derselben. So hat Herrig dem Volke seinen Luther hingestellt, und
so können ihm alle seine Helden und seine Geschichte durch die Bühne bekannt
und vertraut werden, wie Friedrich der Große durch Menzels Stift. Es möchte
durch öftere Vorführung derselben geschichtlichen Persönlichkeit in verschiednen
Dramen vielleicht der rechte volkstümliche Typus sich ausbilden, wie die Helden¬
gestalten des Volksepos durch die Rhapsodien verschiedner Dichter. Dieser
rechte Typus zöge dann in das Herz des Volkes ein. Herrig denkt auch an
Weihnachts- und Osterspiele. Könnten diese in angemessener Form wieder zum
Leben erweckt werden — es brauchte Christus gar nicht selbst die Bühne zu
betreten, die ganze christliche Zeit könnte den Stoff hergeben —, so wäre es
sehr erfreulich. Abgesehen davon, daß eine Fülle der ergreifendsten, zartesten,


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[0395] Das Wormser Volkstheater. besonders in deutscher Art, wird es dem Volke vorgeführt werden. So hält man sich zuerst an das schon vorhandene Gute. Schön wünscht aber, daß für die Wormser Bühne eigne Stücke geschrieben würden, deren Hintergrund hie und da auch die Stadtgeschichte bilde. Bei der Bedeutung, welche Worms im alten deutschen Reiche hatte, und seiner Teilnahme an den Geschicken desselben konnten allerdings Dramen entstehen, welche mehr als örtliches Interesse be¬ anspruchten- So soll der eigenartigen Entwicklung des zeitgenössischen Schaffens der Weg eröffnet und frei gehalten werden. Vielleicht könnte in der That, wenn das Wormser Beispiel Nachahmung fände, eines dadurch auf die dramatische Dichtung selbst günstig eingewirkt werden. Vielleicht käme mancher dramatische Dichter zur Geltung, der bei den bestehenden Theaterverhältnissen seine Kraft auf andern Gebieten zersplittern oder zu Grunde gehen müßte. Wie segens¬ reich hätte sich am Ende eine solche Bühne für Grabbe, der ganz ähnliche Ziele predigte und verfolgte (vergl. Über Shalspearvmanie), erwiesen, indem sie ihn durch die Aussicht auf Aufführung seiner Werke vielleicht zu geordnetem Ar¬ beiten gebracht hätte, oder für den genialen, unglücklichen Albert Lindner. Vielleicht würden auch dadurch, wie schon durch die bloße äußere Reform, die dramatischen Nichtigkeiten, deren einziger Vorzug oft ein den Franzosen abgelernter Dialog und geschickte Mache ist, vor Stücken mit einem weitern Gesichtskreise und von nationalem Geiste zurücktreten, wo der den Volks¬ klassen gemeinsame Stoff im Sinne der Gemeinsamkeit behandelt wird. „Auf diesem künstlerischen Lebendigwerden des Allgemeinsamen beruht die unvergleich¬ liche Wirkung solcher dramatischen Darstellungen" (H. v. Wolzogen). Die Kunst kann nur gedeihen, wenn sie sich nicht an eine Gesellschaftsklasse, sondern an das ganze Volk wendet. Da entstünden denn die wahren Vvlksstücke, nicht jene sentimentalen, herkömmlich so genannten, welche das Volk über seine Be¬ schränkung nicht hinaussehen. Hier hilft nicht das I. Schmidt-Freytagschc Nomanprinzip, das Volk aufzusuchen, wo es am tüchtigsten ist, bei der Werk¬ tagsarbeit, sondern das Volk soll sich hier auf der Bühne bei der geschichtlichen Arbeit als Nation sehen und seine großen Männer als die schönste Ver¬ körperung derselben. So hat Herrig dem Volke seinen Luther hingestellt, und so können ihm alle seine Helden und seine Geschichte durch die Bühne bekannt und vertraut werden, wie Friedrich der Große durch Menzels Stift. Es möchte durch öftere Vorführung derselben geschichtlichen Persönlichkeit in verschiednen Dramen vielleicht der rechte volkstümliche Typus sich ausbilden, wie die Helden¬ gestalten des Volksepos durch die Rhapsodien verschiedner Dichter. Dieser rechte Typus zöge dann in das Herz des Volkes ein. Herrig denkt auch an Weihnachts- und Osterspiele. Könnten diese in angemessener Form wieder zum Leben erweckt werden — es brauchte Christus gar nicht selbst die Bühne zu betreten, die ganze christliche Zeit könnte den Stoff hergeben —, so wäre es sehr erfreulich. Abgesehen davon, daß eine Fülle der ergreifendsten, zartesten,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/395>, abgerufen am 22.07.2024.