Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das wormser Volkstheater.

gaugspunkte zurück, um einen richtigeren Weg als den frühern einzuschlagen -
sehr "reaktionär," aber sehr heilsam. Wyl rühmt an den Oberammergauern:
"Die artistischen Bestrebungen des Dorfes und der traditionelle Enthusiasmus
haben Talente gezeitigt und edle Charaktere zum Gemeinsinn erzogen. Und
wie die aus blühender Wiese aufsteigende Wolke zu ihr befruchtend zurückkehrt,
so haben diese Talente, diese Charaktere dem Künstlerdorfe wieder Segen ge¬
bracht." Er rühmt den regen Wetteifer, der seinen Ursprung in der Freude
an der Sache, nicht in der Sucht ucich Gewinn habe. Tausende hätte die arme
Gemeinde verdienen können, wenn sie dem Andrängen der auswärtigen Speku¬
lation hätte nachgeben wollen -- wie überragen diese einfachen Leute durch das
Gefühl für das Hohe in der Kunst so manche Leiter großer Theater!

Da hätten wir als Ergebnis der thätigen Beteiligung an der dramatischen
Kunst Gemeinsinn und idealeres Denken. Wer möchte es verkennen, daß beide
in unserm Volke gekräftigt werden müssen, wenn drohende Gefahren im natio¬
nalen Leben abgewandt werden sollen? Da wachsen am Baume der Kunst
Blüten und Früchte zu gleicher Zeit. Sie werden auch in Worms nicht aus¬
bleiben. Das Volkstheater mit allem Zubehör wird dort Eigentum der Stadt¬
gemeinde, jeder ist also unmittelbar daran beteiligt. Es wird so verwaltet, daß
jedem die darin gebotene Kunst zugänglich ist, der Reiche vor dem Armen nichts
voraus hat. Leute aus der eignen Bürgerschaft helfen bei der Darstellung
oder übernehmen sie ausschließlich. Der Ärmere bietet dem gesellschaftlich über
ihm stehenden, dem er sonst nichts bieten kann, die idealen Gaben der Kunst.
Alle vereinigt in dem allen gemeinsamen Hause ein Zweck, eine Stimmung --
es müßte wunderbar zugehe", wenn Gemeinsinn und idealere Denkungsart hier
nicht sichtlich gekräftigt würden. "Wer wäre da ohne Verdienst -- sagt Wyl,
die Leistungen der Obemmmergauer zusammenfassend --, wo alle von freudigem
Eifer beseelt sind und jeder aus allen Kräften das thut, was er für seine höchste
Ehre hält." Und schlagend drückt er das Zurücktreten der persönlichen Inter¬
essen vor den allgemeinen idealen aus, wenn er sagt, daß die heranwachsende
Jungfrau viel mehr an die Muttergottes- oder Magdaleueurolle denkt als ans
Heiraten.

Das sind Wirkungen, die sich scholl aus den äußern Umständen ergeben,
dem Gemeinbesitz des Vvlkstheaters, der finanziellen Interesselosigkeit der Leitung
und der Zuziehung der Leute ans dein Volke als Darsteller. Aber die eigent¬
liche Aufgabe des Volkstheaters beginnt doch erst, wenn die geweihten Laute
der Dichtung von seiner Bühne ertönen, und dies nicht vor einem auserwählten
Kreise, sondern vor dem wahren Volke, d. h, der Vereinigung aller Stäude und
aller Berufsarten. Die Oper ist grundsätzlich ausgeschlossen, das Schauspiel
aber wird in sorgfältigster Auswahl geboten werden, wie es bei den Grund¬
sätzen, welche das Theater überhaupt erst ins Leben rufen, selbstverständlich ist.
Wo in einem Bühnenwerke Menschliches und Edles künstlerisch verkörpert ist,


Das wormser Volkstheater.

gaugspunkte zurück, um einen richtigeren Weg als den frühern einzuschlagen -
sehr „reaktionär," aber sehr heilsam. Wyl rühmt an den Oberammergauern:
„Die artistischen Bestrebungen des Dorfes und der traditionelle Enthusiasmus
haben Talente gezeitigt und edle Charaktere zum Gemeinsinn erzogen. Und
wie die aus blühender Wiese aufsteigende Wolke zu ihr befruchtend zurückkehrt,
so haben diese Talente, diese Charaktere dem Künstlerdorfe wieder Segen ge¬
bracht." Er rühmt den regen Wetteifer, der seinen Ursprung in der Freude
an der Sache, nicht in der Sucht ucich Gewinn habe. Tausende hätte die arme
Gemeinde verdienen können, wenn sie dem Andrängen der auswärtigen Speku¬
lation hätte nachgeben wollen — wie überragen diese einfachen Leute durch das
Gefühl für das Hohe in der Kunst so manche Leiter großer Theater!

Da hätten wir als Ergebnis der thätigen Beteiligung an der dramatischen
Kunst Gemeinsinn und idealeres Denken. Wer möchte es verkennen, daß beide
in unserm Volke gekräftigt werden müssen, wenn drohende Gefahren im natio¬
nalen Leben abgewandt werden sollen? Da wachsen am Baume der Kunst
Blüten und Früchte zu gleicher Zeit. Sie werden auch in Worms nicht aus¬
bleiben. Das Volkstheater mit allem Zubehör wird dort Eigentum der Stadt¬
gemeinde, jeder ist also unmittelbar daran beteiligt. Es wird so verwaltet, daß
jedem die darin gebotene Kunst zugänglich ist, der Reiche vor dem Armen nichts
voraus hat. Leute aus der eignen Bürgerschaft helfen bei der Darstellung
oder übernehmen sie ausschließlich. Der Ärmere bietet dem gesellschaftlich über
ihm stehenden, dem er sonst nichts bieten kann, die idealen Gaben der Kunst.
Alle vereinigt in dem allen gemeinsamen Hause ein Zweck, eine Stimmung —
es müßte wunderbar zugehe», wenn Gemeinsinn und idealere Denkungsart hier
nicht sichtlich gekräftigt würden. „Wer wäre da ohne Verdienst — sagt Wyl,
die Leistungen der Obemmmergauer zusammenfassend —, wo alle von freudigem
Eifer beseelt sind und jeder aus allen Kräften das thut, was er für seine höchste
Ehre hält." Und schlagend drückt er das Zurücktreten der persönlichen Inter¬
essen vor den allgemeinen idealen aus, wenn er sagt, daß die heranwachsende
Jungfrau viel mehr an die Muttergottes- oder Magdaleueurolle denkt als ans
Heiraten.

Das sind Wirkungen, die sich scholl aus den äußern Umständen ergeben,
dem Gemeinbesitz des Vvlkstheaters, der finanziellen Interesselosigkeit der Leitung
und der Zuziehung der Leute ans dein Volke als Darsteller. Aber die eigent¬
liche Aufgabe des Volkstheaters beginnt doch erst, wenn die geweihten Laute
der Dichtung von seiner Bühne ertönen, und dies nicht vor einem auserwählten
Kreise, sondern vor dem wahren Volke, d. h, der Vereinigung aller Stäude und
aller Berufsarten. Die Oper ist grundsätzlich ausgeschlossen, das Schauspiel
aber wird in sorgfältigster Auswahl geboten werden, wie es bei den Grund¬
sätzen, welche das Theater überhaupt erst ins Leben rufen, selbstverständlich ist.
Wo in einem Bühnenwerke Menschliches und Edles künstlerisch verkörpert ist,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0394" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201823"/>
          <fw type="header" place="top"> Das wormser Volkstheater.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_923" prev="#ID_922"> gaugspunkte zurück, um einen richtigeren Weg als den frühern einzuschlagen -<lb/>
sehr &#x201E;reaktionär," aber sehr heilsam. Wyl rühmt an den Oberammergauern:<lb/>
&#x201E;Die artistischen Bestrebungen des Dorfes und der traditionelle Enthusiasmus<lb/>
haben Talente gezeitigt und edle Charaktere zum Gemeinsinn erzogen. Und<lb/>
wie die aus blühender Wiese aufsteigende Wolke zu ihr befruchtend zurückkehrt,<lb/>
so haben diese Talente, diese Charaktere dem Künstlerdorfe wieder Segen ge¬<lb/>
bracht." Er rühmt den regen Wetteifer, der seinen Ursprung in der Freude<lb/>
an der Sache, nicht in der Sucht ucich Gewinn habe. Tausende hätte die arme<lb/>
Gemeinde verdienen können, wenn sie dem Andrängen der auswärtigen Speku¬<lb/>
lation hätte nachgeben wollen &#x2014; wie überragen diese einfachen Leute durch das<lb/>
Gefühl für das Hohe in der Kunst so manche Leiter großer Theater!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_924"> Da hätten wir als Ergebnis der thätigen Beteiligung an der dramatischen<lb/>
Kunst Gemeinsinn und idealeres Denken. Wer möchte es verkennen, daß beide<lb/>
in unserm Volke gekräftigt werden müssen, wenn drohende Gefahren im natio¬<lb/>
nalen Leben abgewandt werden sollen? Da wachsen am Baume der Kunst<lb/>
Blüten und Früchte zu gleicher Zeit. Sie werden auch in Worms nicht aus¬<lb/>
bleiben. Das Volkstheater mit allem Zubehör wird dort Eigentum der Stadt¬<lb/>
gemeinde, jeder ist also unmittelbar daran beteiligt. Es wird so verwaltet, daß<lb/>
jedem die darin gebotene Kunst zugänglich ist, der Reiche vor dem Armen nichts<lb/>
voraus hat. Leute aus der eignen Bürgerschaft helfen bei der Darstellung<lb/>
oder übernehmen sie ausschließlich. Der Ärmere bietet dem gesellschaftlich über<lb/>
ihm stehenden, dem er sonst nichts bieten kann, die idealen Gaben der Kunst.<lb/>
Alle vereinigt in dem allen gemeinsamen Hause ein Zweck, eine Stimmung &#x2014;<lb/>
es müßte wunderbar zugehe», wenn Gemeinsinn und idealere Denkungsart hier<lb/>
nicht sichtlich gekräftigt würden. &#x201E;Wer wäre da ohne Verdienst &#x2014; sagt Wyl,<lb/>
die Leistungen der Obemmmergauer zusammenfassend &#x2014;, wo alle von freudigem<lb/>
Eifer beseelt sind und jeder aus allen Kräften das thut, was er für seine höchste<lb/>
Ehre hält." Und schlagend drückt er das Zurücktreten der persönlichen Inter¬<lb/>
essen vor den allgemeinen idealen aus, wenn er sagt, daß die heranwachsende<lb/>
Jungfrau viel mehr an die Muttergottes- oder Magdaleueurolle denkt als ans<lb/>
Heiraten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_925" next="#ID_926"> Das sind Wirkungen, die sich scholl aus den äußern Umständen ergeben,<lb/>
dem Gemeinbesitz des Vvlkstheaters, der finanziellen Interesselosigkeit der Leitung<lb/>
und der Zuziehung der Leute ans dein Volke als Darsteller. Aber die eigent¬<lb/>
liche Aufgabe des Volkstheaters beginnt doch erst, wenn die geweihten Laute<lb/>
der Dichtung von seiner Bühne ertönen, und dies nicht vor einem auserwählten<lb/>
Kreise, sondern vor dem wahren Volke, d. h, der Vereinigung aller Stäude und<lb/>
aller Berufsarten. Die Oper ist grundsätzlich ausgeschlossen, das Schauspiel<lb/>
aber wird in sorgfältigster Auswahl geboten werden, wie es bei den Grund¬<lb/>
sätzen, welche das Theater überhaupt erst ins Leben rufen, selbstverständlich ist.<lb/>
Wo in einem Bühnenwerke Menschliches und Edles künstlerisch verkörpert ist,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0394] Das wormser Volkstheater. gaugspunkte zurück, um einen richtigeren Weg als den frühern einzuschlagen - sehr „reaktionär," aber sehr heilsam. Wyl rühmt an den Oberammergauern: „Die artistischen Bestrebungen des Dorfes und der traditionelle Enthusiasmus haben Talente gezeitigt und edle Charaktere zum Gemeinsinn erzogen. Und wie die aus blühender Wiese aufsteigende Wolke zu ihr befruchtend zurückkehrt, so haben diese Talente, diese Charaktere dem Künstlerdorfe wieder Segen ge¬ bracht." Er rühmt den regen Wetteifer, der seinen Ursprung in der Freude an der Sache, nicht in der Sucht ucich Gewinn habe. Tausende hätte die arme Gemeinde verdienen können, wenn sie dem Andrängen der auswärtigen Speku¬ lation hätte nachgeben wollen — wie überragen diese einfachen Leute durch das Gefühl für das Hohe in der Kunst so manche Leiter großer Theater! Da hätten wir als Ergebnis der thätigen Beteiligung an der dramatischen Kunst Gemeinsinn und idealeres Denken. Wer möchte es verkennen, daß beide in unserm Volke gekräftigt werden müssen, wenn drohende Gefahren im natio¬ nalen Leben abgewandt werden sollen? Da wachsen am Baume der Kunst Blüten und Früchte zu gleicher Zeit. Sie werden auch in Worms nicht aus¬ bleiben. Das Volkstheater mit allem Zubehör wird dort Eigentum der Stadt¬ gemeinde, jeder ist also unmittelbar daran beteiligt. Es wird so verwaltet, daß jedem die darin gebotene Kunst zugänglich ist, der Reiche vor dem Armen nichts voraus hat. Leute aus der eignen Bürgerschaft helfen bei der Darstellung oder übernehmen sie ausschließlich. Der Ärmere bietet dem gesellschaftlich über ihm stehenden, dem er sonst nichts bieten kann, die idealen Gaben der Kunst. Alle vereinigt in dem allen gemeinsamen Hause ein Zweck, eine Stimmung — es müßte wunderbar zugehe», wenn Gemeinsinn und idealere Denkungsart hier nicht sichtlich gekräftigt würden. „Wer wäre da ohne Verdienst — sagt Wyl, die Leistungen der Obemmmergauer zusammenfassend —, wo alle von freudigem Eifer beseelt sind und jeder aus allen Kräften das thut, was er für seine höchste Ehre hält." Und schlagend drückt er das Zurücktreten der persönlichen Inter¬ essen vor den allgemeinen idealen aus, wenn er sagt, daß die heranwachsende Jungfrau viel mehr an die Muttergottes- oder Magdaleueurolle denkt als ans Heiraten. Das sind Wirkungen, die sich scholl aus den äußern Umständen ergeben, dem Gemeinbesitz des Vvlkstheaters, der finanziellen Interesselosigkeit der Leitung und der Zuziehung der Leute ans dein Volke als Darsteller. Aber die eigent¬ liche Aufgabe des Volkstheaters beginnt doch erst, wenn die geweihten Laute der Dichtung von seiner Bühne ertönen, und dies nicht vor einem auserwählten Kreise, sondern vor dem wahren Volke, d. h, der Vereinigung aller Stäude und aller Berufsarten. Die Oper ist grundsätzlich ausgeschlossen, das Schauspiel aber wird in sorgfältigster Auswahl geboten werden, wie es bei den Grund¬ sätzen, welche das Theater überhaupt erst ins Leben rufen, selbstverständlich ist. Wo in einem Bühnenwerke Menschliches und Edles künstlerisch verkörpert ist,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/394
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/394>, abgerufen am 22.07.2024.