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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die deutschen Rolonisationsbestrebungen in Gstafrika.

Augen das Land gesehen und damit das unentbehrliche Erfordernis gewonnen
hatten, darüber sachgemäß und zuverlässig zu urteilen. Die Moral dieses Sach¬
verhaltes lautet: Unser Volk, so durchgebildet, so reif es war, um den 1870
und 71 gemachten Übergang von politischer Nichtigkeit zu politischer Größe
herbeiführen zu helfen und zu vertragen, bedarf in der eingeschlagenen, auf eine
höhere Weltstellung abzielenden Richtung noch gar sehr der Schulung. Das
Auge, bisher nur gewöhnt an die Enge größerer oder kleinerer Landstaaten,
muß sich erst dem weiten Ausblick über das Weltmeer, dem Fernblick in die
zukünftige politische Weltgestaltung bequemen. Hoffen wir es! Denn wenn
Vismarck Recht hat, daß sich nur mit dem Willen und^der Kraft der ganzen
Nation eine Kolonialpolitik großen Stiles durchführen läßt, so gut wie die
Errungenschaften des Jahres 1871 das gemeinschaftliche Erzeugnis einer ein¬
sichtigen Regierung und des ganzen Volkes in Waffen waren, so hängt in der
That von der Massenverbreitung kolonialpolitischer Einsicht ein gut Stück
unsrer politischen Zukunft ab. Bei der überraschen Zunahme unsrer Bevölkerung,
bei der immer grüßern Fülle von Gemcinbedürfnissen, die der fortschreitenden
Zivilisation, und schließlich bei dem immer mächtigeren wirtschaftlichen Wett¬
betriebe des Auslandes, die der fortschreitenden Weltwirtschaft entspricht, wird
der Aufschluß neuer Erwerbsquellen immer mehr zu einer entscheidenden Grund¬
frage unsers Stacitslebens. Nicht weniger als 500 Millionen Mark aber
müssen wir alljährlich für den Bedarf an Kolonialwaaren ans Ausland ab¬
geben. Man berechne sich den Reingewinn der Produzenten auf zehn Prozent,
einen durchaus nicht zu hoch gegriffenen Durchschnittssatz, und 50 Millionen
gehen unserm nationalwirtschaftlichen Jahreseinkommen verloren, um dem der
freundnachbarlichen Nationen zuzuwachsen. Jedenfalls Anlaß genug, um eröffnete
Aussichten auf eigne Produktion nicht von der Hand zu weisen. Sie würde
zugleich viele Hände und Kapitalien, die jetzt nur in Bewegung kommen, um
sich durch gegenseitigen Wettbewerb zu schaden, in volkswirtschaftlich nutz¬
bringender Weise beschäftigen und allmählich auch neue Absatzstätten Herrichten,
wenngleich man in dieser letztern Beziehung nach Lage der ethnographischen Ver¬
hältnisse kaum viel erwarten darf. So berechtigt denn der koloniale Gedanke,
gesund und einleuchtend, wie er ist, auch zu dem tröstlichen Vertrauen, daß die
unsachliche parteipolitische Gegnerschaft bald von der Zustimmung unbefangner
Massen überstimmt und anch das einzige in der Sache liegende Hindernis, näm¬
lich der ernüchternde Eindruck, den die naturgemäße Unmöglichkeit sofortigen
Gewinnes auf die breiten Volksschichten machen muß, überwunden werde.

Freilich auch ein andres Hemmnis, das indes nur vorübergehend wirken
kann und schon zur Zeit seine rechte Wirksamkeit eingebüßt hat, dürfte noch zu
erwähnen sein: es liegt in der Enttäuschung, welche unser Kolonialerwerb der
allgemeinen Hoffnung auf eine glückliche national-politische Lösung der Aus¬
wandrerfrage gebracht hat, und sie war es doch, welche gegen Ende des vorigen


Die deutschen Rolonisationsbestrebungen in Gstafrika.

Augen das Land gesehen und damit das unentbehrliche Erfordernis gewonnen
hatten, darüber sachgemäß und zuverlässig zu urteilen. Die Moral dieses Sach¬
verhaltes lautet: Unser Volk, so durchgebildet, so reif es war, um den 1870
und 71 gemachten Übergang von politischer Nichtigkeit zu politischer Größe
herbeiführen zu helfen und zu vertragen, bedarf in der eingeschlagenen, auf eine
höhere Weltstellung abzielenden Richtung noch gar sehr der Schulung. Das
Auge, bisher nur gewöhnt an die Enge größerer oder kleinerer Landstaaten,
muß sich erst dem weiten Ausblick über das Weltmeer, dem Fernblick in die
zukünftige politische Weltgestaltung bequemen. Hoffen wir es! Denn wenn
Vismarck Recht hat, daß sich nur mit dem Willen und^der Kraft der ganzen
Nation eine Kolonialpolitik großen Stiles durchführen läßt, so gut wie die
Errungenschaften des Jahres 1871 das gemeinschaftliche Erzeugnis einer ein¬
sichtigen Regierung und des ganzen Volkes in Waffen waren, so hängt in der
That von der Massenverbreitung kolonialpolitischer Einsicht ein gut Stück
unsrer politischen Zukunft ab. Bei der überraschen Zunahme unsrer Bevölkerung,
bei der immer grüßern Fülle von Gemcinbedürfnissen, die der fortschreitenden
Zivilisation, und schließlich bei dem immer mächtigeren wirtschaftlichen Wett¬
betriebe des Auslandes, die der fortschreitenden Weltwirtschaft entspricht, wird
der Aufschluß neuer Erwerbsquellen immer mehr zu einer entscheidenden Grund¬
frage unsers Stacitslebens. Nicht weniger als 500 Millionen Mark aber
müssen wir alljährlich für den Bedarf an Kolonialwaaren ans Ausland ab¬
geben. Man berechne sich den Reingewinn der Produzenten auf zehn Prozent,
einen durchaus nicht zu hoch gegriffenen Durchschnittssatz, und 50 Millionen
gehen unserm nationalwirtschaftlichen Jahreseinkommen verloren, um dem der
freundnachbarlichen Nationen zuzuwachsen. Jedenfalls Anlaß genug, um eröffnete
Aussichten auf eigne Produktion nicht von der Hand zu weisen. Sie würde
zugleich viele Hände und Kapitalien, die jetzt nur in Bewegung kommen, um
sich durch gegenseitigen Wettbewerb zu schaden, in volkswirtschaftlich nutz¬
bringender Weise beschäftigen und allmählich auch neue Absatzstätten Herrichten,
wenngleich man in dieser letztern Beziehung nach Lage der ethnographischen Ver¬
hältnisse kaum viel erwarten darf. So berechtigt denn der koloniale Gedanke,
gesund und einleuchtend, wie er ist, auch zu dem tröstlichen Vertrauen, daß die
unsachliche parteipolitische Gegnerschaft bald von der Zustimmung unbefangner
Massen überstimmt und anch das einzige in der Sache liegende Hindernis, näm¬
lich der ernüchternde Eindruck, den die naturgemäße Unmöglichkeit sofortigen
Gewinnes auf die breiten Volksschichten machen muß, überwunden werde.

Freilich auch ein andres Hemmnis, das indes nur vorübergehend wirken
kann und schon zur Zeit seine rechte Wirksamkeit eingebüßt hat, dürfte noch zu
erwähnen sein: es liegt in der Enttäuschung, welche unser Kolonialerwerb der
allgemeinen Hoffnung auf eine glückliche national-politische Lösung der Aus¬
wandrerfrage gebracht hat, und sie war es doch, welche gegen Ende des vorigen


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[0363] Die deutschen Rolonisationsbestrebungen in Gstafrika. Augen das Land gesehen und damit das unentbehrliche Erfordernis gewonnen hatten, darüber sachgemäß und zuverlässig zu urteilen. Die Moral dieses Sach¬ verhaltes lautet: Unser Volk, so durchgebildet, so reif es war, um den 1870 und 71 gemachten Übergang von politischer Nichtigkeit zu politischer Größe herbeiführen zu helfen und zu vertragen, bedarf in der eingeschlagenen, auf eine höhere Weltstellung abzielenden Richtung noch gar sehr der Schulung. Das Auge, bisher nur gewöhnt an die Enge größerer oder kleinerer Landstaaten, muß sich erst dem weiten Ausblick über das Weltmeer, dem Fernblick in die zukünftige politische Weltgestaltung bequemen. Hoffen wir es! Denn wenn Vismarck Recht hat, daß sich nur mit dem Willen und^der Kraft der ganzen Nation eine Kolonialpolitik großen Stiles durchführen läßt, so gut wie die Errungenschaften des Jahres 1871 das gemeinschaftliche Erzeugnis einer ein¬ sichtigen Regierung und des ganzen Volkes in Waffen waren, so hängt in der That von der Massenverbreitung kolonialpolitischer Einsicht ein gut Stück unsrer politischen Zukunft ab. Bei der überraschen Zunahme unsrer Bevölkerung, bei der immer grüßern Fülle von Gemcinbedürfnissen, die der fortschreitenden Zivilisation, und schließlich bei dem immer mächtigeren wirtschaftlichen Wett¬ betriebe des Auslandes, die der fortschreitenden Weltwirtschaft entspricht, wird der Aufschluß neuer Erwerbsquellen immer mehr zu einer entscheidenden Grund¬ frage unsers Stacitslebens. Nicht weniger als 500 Millionen Mark aber müssen wir alljährlich für den Bedarf an Kolonialwaaren ans Ausland ab¬ geben. Man berechne sich den Reingewinn der Produzenten auf zehn Prozent, einen durchaus nicht zu hoch gegriffenen Durchschnittssatz, und 50 Millionen gehen unserm nationalwirtschaftlichen Jahreseinkommen verloren, um dem der freundnachbarlichen Nationen zuzuwachsen. Jedenfalls Anlaß genug, um eröffnete Aussichten auf eigne Produktion nicht von der Hand zu weisen. Sie würde zugleich viele Hände und Kapitalien, die jetzt nur in Bewegung kommen, um sich durch gegenseitigen Wettbewerb zu schaden, in volkswirtschaftlich nutz¬ bringender Weise beschäftigen und allmählich auch neue Absatzstätten Herrichten, wenngleich man in dieser letztern Beziehung nach Lage der ethnographischen Ver¬ hältnisse kaum viel erwarten darf. So berechtigt denn der koloniale Gedanke, gesund und einleuchtend, wie er ist, auch zu dem tröstlichen Vertrauen, daß die unsachliche parteipolitische Gegnerschaft bald von der Zustimmung unbefangner Massen überstimmt und anch das einzige in der Sache liegende Hindernis, näm¬ lich der ernüchternde Eindruck, den die naturgemäße Unmöglichkeit sofortigen Gewinnes auf die breiten Volksschichten machen muß, überwunden werde. Freilich auch ein andres Hemmnis, das indes nur vorübergehend wirken kann und schon zur Zeit seine rechte Wirksamkeit eingebüßt hat, dürfte noch zu erwähnen sein: es liegt in der Enttäuschung, welche unser Kolonialerwerb der allgemeinen Hoffnung auf eine glückliche national-politische Lösung der Aus¬ wandrerfrage gebracht hat, und sie war es doch, welche gegen Ende des vorigen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/363>, abgerufen am 05.07.2024.