Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das ZVormser Volkstheater.

die Notwendigkeit, möglichst viele Zuschauer anzulocken, läßt die Theaterleiter
zu Stücken und Mitteln greifen, die vielleicht von genauer Kenntnis der mensch¬
lichen Natur zeugen, aber oft sehr wenig künstlerisch und anständig sind. Wir
sind überzeugt, daß, wenn der Mörder Günzel die aberwitzig renommistische Idee,
seinem Verteidiger sich dadurch dankbar zu erweisen, daß er ihn als Helden
eines Schauspiels verherrlichte, ausführen könnte, er wirklich Bühnen fände, die
sich um das Recht der Aufführung reißen würden. Und das Publikum? Nun,
leere Kassen würde es sicher nicht geben, das Stück wäre ja so "aktuell." Das
"Voulevardpublikum" beherrscht die Bühne, und auch dem besser urteilenden
wird durch solche Theaterwirtschaft der Geschmack ganz allmählich verdorben
-- das ist, wie die Mode zeigt, infolge der großen Macht der Gewöhnung be¬
kanntlich sehr leicht --, und das Elend der Herrschaft des Sinnenkitzels oder der
Trivialität ist da. Nach Herrig beherrschen der Genußmensch und der Philister
die Bühne, jener als der reichere jedoch mit größerem Erfolge. Das Geschäft
und die von der Art der Theaterleitung sich herleitende Notwendigkeit, ein
Geschäft zu machen, haben Theater und Drama heruntergebracht. Es ist
traurig, da es doch so viele andre Gegenstände fürs Geschäft giebt, von alten
Hosen bis zu Eisenbahnaktien, daß man gerade die Kunst der Bühne, einen so
einflußreichen Faktor der Volksbildung, dazu erkoren und geschändet hat und bei
der Gewerbefreiheit unbeschränkte Gelegenheit zu diesem Geschäfte findet. Da
thäte es not, daß man gesetzlich einschritte und den "schauderhaften Unfug der
Theatergewerbefreiheit" (E. v. Hartmann) und die Schrankenlosigkeit des In¬
dividuums, die auf Kosten der Gesamtheit besteht, einschränkte. Verlangt man
doch schon nach einem Befähigungsnachweis des Handwerkers; Schädigung des
Volksgemütes ist aber am Ende noch schlimmer als eine verpfuschte Hose. Grabbe
macht bei Gelegenheit einer Aufführung des Naupachschen Stückes "Der Doktor
und der Apotheker" in Düsseldorf so überaus treffende Bemerkungen in dieser
Beziehung, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle herzusetzen: "Ein
Stück, wie "Doktor und Apotheker" könnte mit Fug von Polizei wegen verboten
werden, denn schlechte Geschmackswerke wirken schädlicher auf die guten Sitten,
als man insgemein glaubt. Die Quasidichter z. B. brauchen eben darum gar
keine Jmmoralitciten, Jndecenzen zu enthalten, sondern nur künstlerisch verwerflich
zu sein. Dann verwirren sie oft den Verstand so vieler, statt ihn zu leiten und
zu erheben; sie halten die Menge am Boden der Plattheiten fest, üben ihr
stumpfsinnige Bewunderung des Gemeinen ein, während alles Hohe und Große
als etwas Beschwerliches und Störendes unberücksichtigt gelassen oder an ihm
vorübergegangen wird." Wie viele "Doktor und Apotheker" fände Grabbe
heute auf unsern Bühnen, und nicht auf den kleinsten! (Schluß folgt.)




Das ZVormser Volkstheater.

die Notwendigkeit, möglichst viele Zuschauer anzulocken, läßt die Theaterleiter
zu Stücken und Mitteln greifen, die vielleicht von genauer Kenntnis der mensch¬
lichen Natur zeugen, aber oft sehr wenig künstlerisch und anständig sind. Wir
sind überzeugt, daß, wenn der Mörder Günzel die aberwitzig renommistische Idee,
seinem Verteidiger sich dadurch dankbar zu erweisen, daß er ihn als Helden
eines Schauspiels verherrlichte, ausführen könnte, er wirklich Bühnen fände, die
sich um das Recht der Aufführung reißen würden. Und das Publikum? Nun,
leere Kassen würde es sicher nicht geben, das Stück wäre ja so „aktuell." Das
„Voulevardpublikum" beherrscht die Bühne, und auch dem besser urteilenden
wird durch solche Theaterwirtschaft der Geschmack ganz allmählich verdorben
— das ist, wie die Mode zeigt, infolge der großen Macht der Gewöhnung be¬
kanntlich sehr leicht —, und das Elend der Herrschaft des Sinnenkitzels oder der
Trivialität ist da. Nach Herrig beherrschen der Genußmensch und der Philister
die Bühne, jener als der reichere jedoch mit größerem Erfolge. Das Geschäft
und die von der Art der Theaterleitung sich herleitende Notwendigkeit, ein
Geschäft zu machen, haben Theater und Drama heruntergebracht. Es ist
traurig, da es doch so viele andre Gegenstände fürs Geschäft giebt, von alten
Hosen bis zu Eisenbahnaktien, daß man gerade die Kunst der Bühne, einen so
einflußreichen Faktor der Volksbildung, dazu erkoren und geschändet hat und bei
der Gewerbefreiheit unbeschränkte Gelegenheit zu diesem Geschäfte findet. Da
thäte es not, daß man gesetzlich einschritte und den „schauderhaften Unfug der
Theatergewerbefreiheit" (E. v. Hartmann) und die Schrankenlosigkeit des In¬
dividuums, die auf Kosten der Gesamtheit besteht, einschränkte. Verlangt man
doch schon nach einem Befähigungsnachweis des Handwerkers; Schädigung des
Volksgemütes ist aber am Ende noch schlimmer als eine verpfuschte Hose. Grabbe
macht bei Gelegenheit einer Aufführung des Naupachschen Stückes „Der Doktor
und der Apotheker" in Düsseldorf so überaus treffende Bemerkungen in dieser
Beziehung, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle herzusetzen: „Ein
Stück, wie »Doktor und Apotheker« könnte mit Fug von Polizei wegen verboten
werden, denn schlechte Geschmackswerke wirken schädlicher auf die guten Sitten,
als man insgemein glaubt. Die Quasidichter z. B. brauchen eben darum gar
keine Jmmoralitciten, Jndecenzen zu enthalten, sondern nur künstlerisch verwerflich
zu sein. Dann verwirren sie oft den Verstand so vieler, statt ihn zu leiten und
zu erheben; sie halten die Menge am Boden der Plattheiten fest, üben ihr
stumpfsinnige Bewunderung des Gemeinen ein, während alles Hohe und Große
als etwas Beschwerliches und Störendes unberücksichtigt gelassen oder an ihm
vorübergegangen wird." Wie viele „Doktor und Apotheker" fände Grabbe
heute auf unsern Bühnen, und nicht auf den kleinsten! (Schluß folgt.)




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0348" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201777"/>
          <fw type="header" place="top"> Das ZVormser Volkstheater.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_807" prev="#ID_806"> die Notwendigkeit, möglichst viele Zuschauer anzulocken, läßt die Theaterleiter<lb/>
zu Stücken und Mitteln greifen, die vielleicht von genauer Kenntnis der mensch¬<lb/>
lichen Natur zeugen, aber oft sehr wenig künstlerisch und anständig sind. Wir<lb/>
sind überzeugt, daß, wenn der Mörder Günzel die aberwitzig renommistische Idee,<lb/>
seinem Verteidiger sich dadurch dankbar zu erweisen, daß er ihn als Helden<lb/>
eines Schauspiels verherrlichte, ausführen könnte, er wirklich Bühnen fände, die<lb/>
sich um das Recht der Aufführung reißen würden. Und das Publikum? Nun,<lb/>
leere Kassen würde es sicher nicht geben, das Stück wäre ja so &#x201E;aktuell." Das<lb/>
&#x201E;Voulevardpublikum" beherrscht die Bühne, und auch dem besser urteilenden<lb/>
wird durch solche Theaterwirtschaft der Geschmack ganz allmählich verdorben<lb/>
&#x2014; das ist, wie die Mode zeigt, infolge der großen Macht der Gewöhnung be¬<lb/>
kanntlich sehr leicht &#x2014;, und das Elend der Herrschaft des Sinnenkitzels oder der<lb/>
Trivialität ist da. Nach Herrig beherrschen der Genußmensch und der Philister<lb/>
die Bühne, jener als der reichere jedoch mit größerem Erfolge. Das Geschäft<lb/>
und die von der Art der Theaterleitung sich herleitende Notwendigkeit, ein<lb/>
Geschäft zu machen, haben Theater und Drama heruntergebracht. Es ist<lb/>
traurig, da es doch so viele andre Gegenstände fürs Geschäft giebt, von alten<lb/>
Hosen bis zu Eisenbahnaktien, daß man gerade die Kunst der Bühne, einen so<lb/>
einflußreichen Faktor der Volksbildung, dazu erkoren und geschändet hat und bei<lb/>
der Gewerbefreiheit unbeschränkte Gelegenheit zu diesem Geschäfte findet. Da<lb/>
thäte es not, daß man gesetzlich einschritte und den &#x201E;schauderhaften Unfug der<lb/>
Theatergewerbefreiheit" (E. v. Hartmann) und die Schrankenlosigkeit des In¬<lb/>
dividuums, die auf Kosten der Gesamtheit besteht, einschränkte. Verlangt man<lb/>
doch schon nach einem Befähigungsnachweis des Handwerkers; Schädigung des<lb/>
Volksgemütes ist aber am Ende noch schlimmer als eine verpfuschte Hose. Grabbe<lb/>
macht bei Gelegenheit einer Aufführung des Naupachschen Stückes &#x201E;Der Doktor<lb/>
und der Apotheker" in Düsseldorf so überaus treffende Bemerkungen in dieser<lb/>
Beziehung, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle herzusetzen: &#x201E;Ein<lb/>
Stück, wie »Doktor und Apotheker« könnte mit Fug von Polizei wegen verboten<lb/>
werden, denn schlechte Geschmackswerke wirken schädlicher auf die guten Sitten,<lb/>
als man insgemein glaubt. Die Quasidichter z. B. brauchen eben darum gar<lb/>
keine Jmmoralitciten, Jndecenzen zu enthalten, sondern nur künstlerisch verwerflich<lb/>
zu sein. Dann verwirren sie oft den Verstand so vieler, statt ihn zu leiten und<lb/>
zu erheben; sie halten die Menge am Boden der Plattheiten fest, üben ihr<lb/>
stumpfsinnige Bewunderung des Gemeinen ein, während alles Hohe und Große<lb/>
als etwas Beschwerliches und Störendes unberücksichtigt gelassen oder an ihm<lb/>
vorübergegangen wird." Wie viele &#x201E;Doktor und Apotheker" fände Grabbe<lb/>
heute auf unsern Bühnen, und nicht auf den kleinsten! (Schluß folgt.)</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0348] Das ZVormser Volkstheater. die Notwendigkeit, möglichst viele Zuschauer anzulocken, läßt die Theaterleiter zu Stücken und Mitteln greifen, die vielleicht von genauer Kenntnis der mensch¬ lichen Natur zeugen, aber oft sehr wenig künstlerisch und anständig sind. Wir sind überzeugt, daß, wenn der Mörder Günzel die aberwitzig renommistische Idee, seinem Verteidiger sich dadurch dankbar zu erweisen, daß er ihn als Helden eines Schauspiels verherrlichte, ausführen könnte, er wirklich Bühnen fände, die sich um das Recht der Aufführung reißen würden. Und das Publikum? Nun, leere Kassen würde es sicher nicht geben, das Stück wäre ja so „aktuell." Das „Voulevardpublikum" beherrscht die Bühne, und auch dem besser urteilenden wird durch solche Theaterwirtschaft der Geschmack ganz allmählich verdorben — das ist, wie die Mode zeigt, infolge der großen Macht der Gewöhnung be¬ kanntlich sehr leicht —, und das Elend der Herrschaft des Sinnenkitzels oder der Trivialität ist da. Nach Herrig beherrschen der Genußmensch und der Philister die Bühne, jener als der reichere jedoch mit größerem Erfolge. Das Geschäft und die von der Art der Theaterleitung sich herleitende Notwendigkeit, ein Geschäft zu machen, haben Theater und Drama heruntergebracht. Es ist traurig, da es doch so viele andre Gegenstände fürs Geschäft giebt, von alten Hosen bis zu Eisenbahnaktien, daß man gerade die Kunst der Bühne, einen so einflußreichen Faktor der Volksbildung, dazu erkoren und geschändet hat und bei der Gewerbefreiheit unbeschränkte Gelegenheit zu diesem Geschäfte findet. Da thäte es not, daß man gesetzlich einschritte und den „schauderhaften Unfug der Theatergewerbefreiheit" (E. v. Hartmann) und die Schrankenlosigkeit des In¬ dividuums, die auf Kosten der Gesamtheit besteht, einschränkte. Verlangt man doch schon nach einem Befähigungsnachweis des Handwerkers; Schädigung des Volksgemütes ist aber am Ende noch schlimmer als eine verpfuschte Hose. Grabbe macht bei Gelegenheit einer Aufführung des Naupachschen Stückes „Der Doktor und der Apotheker" in Düsseldorf so überaus treffende Bemerkungen in dieser Beziehung, daß wir nicht umhin können, die ganze Stelle herzusetzen: „Ein Stück, wie »Doktor und Apotheker« könnte mit Fug von Polizei wegen verboten werden, denn schlechte Geschmackswerke wirken schädlicher auf die guten Sitten, als man insgemein glaubt. Die Quasidichter z. B. brauchen eben darum gar keine Jmmoralitciten, Jndecenzen zu enthalten, sondern nur künstlerisch verwerflich zu sein. Dann verwirren sie oft den Verstand so vieler, statt ihn zu leiten und zu erheben; sie halten die Menge am Boden der Plattheiten fest, üben ihr stumpfsinnige Bewunderung des Gemeinen ein, während alles Hohe und Große als etwas Beschwerliches und Störendes unberücksichtigt gelassen oder an ihm vorübergegangen wird." Wie viele „Doktor und Apotheker" fände Grabbe heute auf unsern Bühnen, und nicht auf den kleinsten! (Schluß folgt.)

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/348
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/348>, abgerufen am 22.07.2024.