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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das ZVormser Volkstheater.

habere gepackt wird, sucht man ihm einzureden, daß eigentlich nur jeder am
besten die eigne Beschränktheit begreife; und wenn einmal von einem "Volks¬
theater" die Rede ist, so meint man Lokalpossen damit, im höchsten Falle
Genrebilder aus dem städtischen und bäuerlichen Leben, ganz gewiß aber nicht
Gegenstände, welche das Volk als solches und in seiner Gesamtheit angehen"
(Herrig). Anzengrubers Werke stehen hoch über den hier angedeuteten, denn
eine ernste, sittliche Idee durchzieht sie, und ihr Horizont ist weiter. Im allge¬
meinen hat aber Bogumil Goltz, in dessen Schriften noch ungehobelte Schätze
von tiefsinniger Beobachtung an der Volksseele liegen, sicher Recht, wenn er
sagt: "Mag es sein, daß es auch eine Volksliteratur geben muß, dann aber
darf sie am wenigsten eine Schönthuerei mit der Volksnaivität, dann darf sie
nimmermehr das Spiegelbild der Volkssitte, des Volkswitzes und der bäuerischen
Lebensart sein. Der Gebildete ist eben durch solche Reflexion korrupt und un¬
mächtig geworden; der Naturmensch verträgt die Selbstbespiegelung in keine
Wege (Zur Physiognomie und Charakteristik des Volkes, S. 251).

Vielleicht wirkt der gute Roman heute noch mehr zur Bildung und Ver¬
edlung des Volkes, als das Theater wie es ist. Das ist ein Notstand und
als solcher längst erkannt. Der Deutsche ist seit Gottscheds und Nicolais Zeiten
seines Theaters nicht froh geworden, und manche Klage von heute hörte schon
das vergangene Jahrhundert. Schauspieler, Dichter, Publikum, die alle ge¬
schädigt wurden, schoben sich gegenseitig die Schuld zu, viel ist darüber ge¬
schrieben worden, aber besser wurde es dadurch nicht, auch nicht durch einzelne
wohlgemeinte Reformversuche. Da kann nur geholfen werden, wenn man das
Übel an der Wurzel erfaßt, und deshalb verdienen unter den genannten, gerade
jetzt vorbereiteten Bühnenreformen die Wormser unsre Aufmerksamkeit am meisten.
Hier geht man entschiedner als irgendwo zu Werke. Man wird diese Stadt
im Auge behalten müssen, um die Ergebnisse zu verfolgen. Schöne Absichten
und Programme, selbst die schönste Begeisterung helfen nichts, wenn die Dinge
nicht beseitigt werden, welche sich leicht mächtiger erweisen als die beste Absicht
und die Theaterleitung auch wider bessern Willen und bessere Einsicht in das
alte Fahrwasser treiben. Das zeigt die Erfahrung; auch Immermanns ernste
Bestrebungen mußten im Sande verlaufen. Worms kann uns in dieser Hinsicht
wirklich mehr anziehen als Berlin, wo man lange nicht so entschieden mit dem
bricht, was das Theater bisher daran hinderte, volkstümlich zu werden. Wenn
auch erst die Zukunft zeigen kann, ob das kleine Worms ein Bethlehem für
das Theater sein wird, so ist Herrig doch wohl im Recht, der aus einer Welt¬
stadt eine Verbesserung desselben überhaupt nicht erwartet. Seine Gründe
könnte man leicht vermehren. Was Grabbe z. B. bei Beurteilung des Frank¬
furter Stadttheatcrs schrieb: "Das Rätsel, wie Frankfurt ein so bedeutungs¬
loses Theater hat, löst sich dadurch, daß es mehr ein durchwandelndes als ein
einheimisches Publikum besitzt. Es wird von der Masse seiner Fremden ge-


Das ZVormser Volkstheater.

habere gepackt wird, sucht man ihm einzureden, daß eigentlich nur jeder am
besten die eigne Beschränktheit begreife; und wenn einmal von einem „Volks¬
theater" die Rede ist, so meint man Lokalpossen damit, im höchsten Falle
Genrebilder aus dem städtischen und bäuerlichen Leben, ganz gewiß aber nicht
Gegenstände, welche das Volk als solches und in seiner Gesamtheit angehen"
(Herrig). Anzengrubers Werke stehen hoch über den hier angedeuteten, denn
eine ernste, sittliche Idee durchzieht sie, und ihr Horizont ist weiter. Im allge¬
meinen hat aber Bogumil Goltz, in dessen Schriften noch ungehobelte Schätze
von tiefsinniger Beobachtung an der Volksseele liegen, sicher Recht, wenn er
sagt: „Mag es sein, daß es auch eine Volksliteratur geben muß, dann aber
darf sie am wenigsten eine Schönthuerei mit der Volksnaivität, dann darf sie
nimmermehr das Spiegelbild der Volkssitte, des Volkswitzes und der bäuerischen
Lebensart sein. Der Gebildete ist eben durch solche Reflexion korrupt und un¬
mächtig geworden; der Naturmensch verträgt die Selbstbespiegelung in keine
Wege (Zur Physiognomie und Charakteristik des Volkes, S. 251).

Vielleicht wirkt der gute Roman heute noch mehr zur Bildung und Ver¬
edlung des Volkes, als das Theater wie es ist. Das ist ein Notstand und
als solcher längst erkannt. Der Deutsche ist seit Gottscheds und Nicolais Zeiten
seines Theaters nicht froh geworden, und manche Klage von heute hörte schon
das vergangene Jahrhundert. Schauspieler, Dichter, Publikum, die alle ge¬
schädigt wurden, schoben sich gegenseitig die Schuld zu, viel ist darüber ge¬
schrieben worden, aber besser wurde es dadurch nicht, auch nicht durch einzelne
wohlgemeinte Reformversuche. Da kann nur geholfen werden, wenn man das
Übel an der Wurzel erfaßt, und deshalb verdienen unter den genannten, gerade
jetzt vorbereiteten Bühnenreformen die Wormser unsre Aufmerksamkeit am meisten.
Hier geht man entschiedner als irgendwo zu Werke. Man wird diese Stadt
im Auge behalten müssen, um die Ergebnisse zu verfolgen. Schöne Absichten
und Programme, selbst die schönste Begeisterung helfen nichts, wenn die Dinge
nicht beseitigt werden, welche sich leicht mächtiger erweisen als die beste Absicht
und die Theaterleitung auch wider bessern Willen und bessere Einsicht in das
alte Fahrwasser treiben. Das zeigt die Erfahrung; auch Immermanns ernste
Bestrebungen mußten im Sande verlaufen. Worms kann uns in dieser Hinsicht
wirklich mehr anziehen als Berlin, wo man lange nicht so entschieden mit dem
bricht, was das Theater bisher daran hinderte, volkstümlich zu werden. Wenn
auch erst die Zukunft zeigen kann, ob das kleine Worms ein Bethlehem für
das Theater sein wird, so ist Herrig doch wohl im Recht, der aus einer Welt¬
stadt eine Verbesserung desselben überhaupt nicht erwartet. Seine Gründe
könnte man leicht vermehren. Was Grabbe z. B. bei Beurteilung des Frank¬
furter Stadttheatcrs schrieb: „Das Rätsel, wie Frankfurt ein so bedeutungs¬
loses Theater hat, löst sich dadurch, daß es mehr ein durchwandelndes als ein
einheimisches Publikum besitzt. Es wird von der Masse seiner Fremden ge-


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[0343] Das ZVormser Volkstheater. habere gepackt wird, sucht man ihm einzureden, daß eigentlich nur jeder am besten die eigne Beschränktheit begreife; und wenn einmal von einem „Volks¬ theater" die Rede ist, so meint man Lokalpossen damit, im höchsten Falle Genrebilder aus dem städtischen und bäuerlichen Leben, ganz gewiß aber nicht Gegenstände, welche das Volk als solches und in seiner Gesamtheit angehen" (Herrig). Anzengrubers Werke stehen hoch über den hier angedeuteten, denn eine ernste, sittliche Idee durchzieht sie, und ihr Horizont ist weiter. Im allge¬ meinen hat aber Bogumil Goltz, in dessen Schriften noch ungehobelte Schätze von tiefsinniger Beobachtung an der Volksseele liegen, sicher Recht, wenn er sagt: „Mag es sein, daß es auch eine Volksliteratur geben muß, dann aber darf sie am wenigsten eine Schönthuerei mit der Volksnaivität, dann darf sie nimmermehr das Spiegelbild der Volkssitte, des Volkswitzes und der bäuerischen Lebensart sein. Der Gebildete ist eben durch solche Reflexion korrupt und un¬ mächtig geworden; der Naturmensch verträgt die Selbstbespiegelung in keine Wege (Zur Physiognomie und Charakteristik des Volkes, S. 251). Vielleicht wirkt der gute Roman heute noch mehr zur Bildung und Ver¬ edlung des Volkes, als das Theater wie es ist. Das ist ein Notstand und als solcher längst erkannt. Der Deutsche ist seit Gottscheds und Nicolais Zeiten seines Theaters nicht froh geworden, und manche Klage von heute hörte schon das vergangene Jahrhundert. Schauspieler, Dichter, Publikum, die alle ge¬ schädigt wurden, schoben sich gegenseitig die Schuld zu, viel ist darüber ge¬ schrieben worden, aber besser wurde es dadurch nicht, auch nicht durch einzelne wohlgemeinte Reformversuche. Da kann nur geholfen werden, wenn man das Übel an der Wurzel erfaßt, und deshalb verdienen unter den genannten, gerade jetzt vorbereiteten Bühnenreformen die Wormser unsre Aufmerksamkeit am meisten. Hier geht man entschiedner als irgendwo zu Werke. Man wird diese Stadt im Auge behalten müssen, um die Ergebnisse zu verfolgen. Schöne Absichten und Programme, selbst die schönste Begeisterung helfen nichts, wenn die Dinge nicht beseitigt werden, welche sich leicht mächtiger erweisen als die beste Absicht und die Theaterleitung auch wider bessern Willen und bessere Einsicht in das alte Fahrwasser treiben. Das zeigt die Erfahrung; auch Immermanns ernste Bestrebungen mußten im Sande verlaufen. Worms kann uns in dieser Hinsicht wirklich mehr anziehen als Berlin, wo man lange nicht so entschieden mit dem bricht, was das Theater bisher daran hinderte, volkstümlich zu werden. Wenn auch erst die Zukunft zeigen kann, ob das kleine Worms ein Bethlehem für das Theater sein wird, so ist Herrig doch wohl im Recht, der aus einer Welt¬ stadt eine Verbesserung desselben überhaupt nicht erwartet. Seine Gründe könnte man leicht vermehren. Was Grabbe z. B. bei Beurteilung des Frank¬ furter Stadttheatcrs schrieb: „Das Rätsel, wie Frankfurt ein so bedeutungs¬ loses Theater hat, löst sich dadurch, daß es mehr ein durchwandelndes als ein einheimisches Publikum besitzt. Es wird von der Masse seiner Fremden ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/343>, abgerufen am 23.07.2024.