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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Das lvormser Volkstheater.

Volksgemttt zugleich bewegt und bildet. Von den schweigsamen, mehr an den
Ort gebundenen bildenden Künsten möchte das niemand behaupten, so lange
Männer wie Ludwig Richter nicht häusiger geboren werden. Freilich g. xriori
möchte die mächtigste Kunst die sein, welche Dichtung und Musik zu völliger
Einheit verschmölze -- wenn nur beide gleich groß, gleich volkstümlich wären!
Wir scheu auch, wie das Volkslied seinen Einfluß ausgeübt hat und in be¬
schränkterem Maße noch ausübt. Doch das Lied ist nur ein kleines Kunstwerk,
das eine lyrische Stimmung wiederspiegelt und oft desto wirksamer ist, je mehr
es sich aufs Andenken und Ahnenlassen beschränkt. Es kann wohl auch fort¬
reißen und zum Handeln begeistern, aber im Grunde verdankt es mehr der im
Volke schon vorhandnen Stimmung sein Dasein, als daß es diese erst schaffte,
wobei es denn freilich dadurch seine Aufgabe noch reichlich erfüllt, daß es die
Stimmung klärt und sie durch Erhebung zum offenen Gemeingefühl mittels des
gemeinsamen Gesanges beträchtlich steigert. Dem Liede kommt das Volksgemüt
auf halbem Wege entgegen. Seltener wird es der Volksseele neue, ernst be¬
schäftigende Ideen geben, welche sie bilden und befruchten. Das that das evan¬
gelische Kirchenlied des sechzehnten Jahrhunderts, und es wirkte thatkräftig für
die Reformation. Aber in unsrer Leitartikelzeit pflegen große nationale und
politische Ereignisse nicht von vielen echten Liedern begleitet oder gar gefördert
zu werden. Welche im Verhältnis zu seiner Bedeutung geringen poetischen Früchte
hat uns der letzte große Krieg mit seiner nationalen Erhebung gebracht!

Bei dem Streite der Künste um die tiefste und zugleich nachhaltigste
Wirkung auf das Volksgemüt wird die reine Wortdichtung den Sieg behaupten.
Nicht die epische. Das Epos, d. h. der Roman -- denn was kommt von dem
seltenen, eigentlichen Epos zum Volke, und von den Romanen welche Art --
kann sich darin mit dem Schauspiele nicht messen. In seinem ruhigen Flusse
und objektiven Tone reizt es viel weniger zur stärkern Bethätigung des eignen
innern Lebens, zur Selbsteinkehr und Selbstprüfung, als das Drama. Hier
tritt die sittliche Idee durch ihre Konflikte scharf hervor, durchdringt als Ein¬
heit das ganze Werk und greift kräftiger ans Herz. Und wer aus dem Volke
wäre, wenn die äußeren Verhältnisse es erlaubten, nach des Tages Arbeit nicht
geneigter ins Schauspiel zu gehen, als ein Buch zu lesen? Das aufgeführte
Drama kommt unter den Dichtungsgattungen heute fast allein zu seinem Rechte,
d. h. zur sinnlichen Anschaulichkeit, und wird dem Volke schon um deswillen
lieber sein als die Lyrik, die eigentlich des Gesanges, und das Epos, das des
Vortrages zur vollen Wirkung bedarf; besonders da der Mann aus dem Volke
gar nicht daran gewöhnt ist, sich Bilder und Gedanken durch das Auge ver¬
mitteln zu lassen, ihm dient dazu, was das Ideal für uns alle sein müßte,
in natürlicher Weise das Ohr.

So hat das Schauspiel, die höchste, weil am meisten organische Form der
Dichtung, auch vorzugsweise die höchste Aufgabe, sich an das gesamte Volk zu


Das lvormser Volkstheater.

Volksgemttt zugleich bewegt und bildet. Von den schweigsamen, mehr an den
Ort gebundenen bildenden Künsten möchte das niemand behaupten, so lange
Männer wie Ludwig Richter nicht häusiger geboren werden. Freilich g. xriori
möchte die mächtigste Kunst die sein, welche Dichtung und Musik zu völliger
Einheit verschmölze — wenn nur beide gleich groß, gleich volkstümlich wären!
Wir scheu auch, wie das Volkslied seinen Einfluß ausgeübt hat und in be¬
schränkterem Maße noch ausübt. Doch das Lied ist nur ein kleines Kunstwerk,
das eine lyrische Stimmung wiederspiegelt und oft desto wirksamer ist, je mehr
es sich aufs Andenken und Ahnenlassen beschränkt. Es kann wohl auch fort¬
reißen und zum Handeln begeistern, aber im Grunde verdankt es mehr der im
Volke schon vorhandnen Stimmung sein Dasein, als daß es diese erst schaffte,
wobei es denn freilich dadurch seine Aufgabe noch reichlich erfüllt, daß es die
Stimmung klärt und sie durch Erhebung zum offenen Gemeingefühl mittels des
gemeinsamen Gesanges beträchtlich steigert. Dem Liede kommt das Volksgemüt
auf halbem Wege entgegen. Seltener wird es der Volksseele neue, ernst be¬
schäftigende Ideen geben, welche sie bilden und befruchten. Das that das evan¬
gelische Kirchenlied des sechzehnten Jahrhunderts, und es wirkte thatkräftig für
die Reformation. Aber in unsrer Leitartikelzeit pflegen große nationale und
politische Ereignisse nicht von vielen echten Liedern begleitet oder gar gefördert
zu werden. Welche im Verhältnis zu seiner Bedeutung geringen poetischen Früchte
hat uns der letzte große Krieg mit seiner nationalen Erhebung gebracht!

Bei dem Streite der Künste um die tiefste und zugleich nachhaltigste
Wirkung auf das Volksgemüt wird die reine Wortdichtung den Sieg behaupten.
Nicht die epische. Das Epos, d. h. der Roman — denn was kommt von dem
seltenen, eigentlichen Epos zum Volke, und von den Romanen welche Art —
kann sich darin mit dem Schauspiele nicht messen. In seinem ruhigen Flusse
und objektiven Tone reizt es viel weniger zur stärkern Bethätigung des eignen
innern Lebens, zur Selbsteinkehr und Selbstprüfung, als das Drama. Hier
tritt die sittliche Idee durch ihre Konflikte scharf hervor, durchdringt als Ein¬
heit das ganze Werk und greift kräftiger ans Herz. Und wer aus dem Volke
wäre, wenn die äußeren Verhältnisse es erlaubten, nach des Tages Arbeit nicht
geneigter ins Schauspiel zu gehen, als ein Buch zu lesen? Das aufgeführte
Drama kommt unter den Dichtungsgattungen heute fast allein zu seinem Rechte,
d. h. zur sinnlichen Anschaulichkeit, und wird dem Volke schon um deswillen
lieber sein als die Lyrik, die eigentlich des Gesanges, und das Epos, das des
Vortrages zur vollen Wirkung bedarf; besonders da der Mann aus dem Volke
gar nicht daran gewöhnt ist, sich Bilder und Gedanken durch das Auge ver¬
mitteln zu lassen, ihm dient dazu, was das Ideal für uns alle sein müßte,
in natürlicher Weise das Ohr.

So hat das Schauspiel, die höchste, weil am meisten organische Form der
Dichtung, auch vorzugsweise die höchste Aufgabe, sich an das gesamte Volk zu


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[0341] Das lvormser Volkstheater. Volksgemttt zugleich bewegt und bildet. Von den schweigsamen, mehr an den Ort gebundenen bildenden Künsten möchte das niemand behaupten, so lange Männer wie Ludwig Richter nicht häusiger geboren werden. Freilich g. xriori möchte die mächtigste Kunst die sein, welche Dichtung und Musik zu völliger Einheit verschmölze — wenn nur beide gleich groß, gleich volkstümlich wären! Wir scheu auch, wie das Volkslied seinen Einfluß ausgeübt hat und in be¬ schränkterem Maße noch ausübt. Doch das Lied ist nur ein kleines Kunstwerk, das eine lyrische Stimmung wiederspiegelt und oft desto wirksamer ist, je mehr es sich aufs Andenken und Ahnenlassen beschränkt. Es kann wohl auch fort¬ reißen und zum Handeln begeistern, aber im Grunde verdankt es mehr der im Volke schon vorhandnen Stimmung sein Dasein, als daß es diese erst schaffte, wobei es denn freilich dadurch seine Aufgabe noch reichlich erfüllt, daß es die Stimmung klärt und sie durch Erhebung zum offenen Gemeingefühl mittels des gemeinsamen Gesanges beträchtlich steigert. Dem Liede kommt das Volksgemüt auf halbem Wege entgegen. Seltener wird es der Volksseele neue, ernst be¬ schäftigende Ideen geben, welche sie bilden und befruchten. Das that das evan¬ gelische Kirchenlied des sechzehnten Jahrhunderts, und es wirkte thatkräftig für die Reformation. Aber in unsrer Leitartikelzeit pflegen große nationale und politische Ereignisse nicht von vielen echten Liedern begleitet oder gar gefördert zu werden. Welche im Verhältnis zu seiner Bedeutung geringen poetischen Früchte hat uns der letzte große Krieg mit seiner nationalen Erhebung gebracht! Bei dem Streite der Künste um die tiefste und zugleich nachhaltigste Wirkung auf das Volksgemüt wird die reine Wortdichtung den Sieg behaupten. Nicht die epische. Das Epos, d. h. der Roman — denn was kommt von dem seltenen, eigentlichen Epos zum Volke, und von den Romanen welche Art — kann sich darin mit dem Schauspiele nicht messen. In seinem ruhigen Flusse und objektiven Tone reizt es viel weniger zur stärkern Bethätigung des eignen innern Lebens, zur Selbsteinkehr und Selbstprüfung, als das Drama. Hier tritt die sittliche Idee durch ihre Konflikte scharf hervor, durchdringt als Ein¬ heit das ganze Werk und greift kräftiger ans Herz. Und wer aus dem Volke wäre, wenn die äußeren Verhältnisse es erlaubten, nach des Tages Arbeit nicht geneigter ins Schauspiel zu gehen, als ein Buch zu lesen? Das aufgeführte Drama kommt unter den Dichtungsgattungen heute fast allein zu seinem Rechte, d. h. zur sinnlichen Anschaulichkeit, und wird dem Volke schon um deswillen lieber sein als die Lyrik, die eigentlich des Gesanges, und das Epos, das des Vortrages zur vollen Wirkung bedarf; besonders da der Mann aus dem Volke gar nicht daran gewöhnt ist, sich Bilder und Gedanken durch das Auge ver¬ mitteln zu lassen, ihm dient dazu, was das Ideal für uns alle sein müßte, in natürlicher Weise das Ohr. So hat das Schauspiel, die höchste, weil am meisten organische Form der Dichtung, auch vorzugsweise die höchste Aufgabe, sich an das gesamte Volk zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/341>, abgerufen am 23.07.2024.