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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

das sich am besten beim gemeinsamen Singen an einander entzündet. Also:
die beiden, die jeder für sich mit ihrem Leben augenblicklich sozusagen auf den
geringsten Bestand zurückgekommen waren, gewinnen an einander ein erneutes,
ja erhöhtes Leben, haben auf einmal etwas in sich, das in keinem von beiden
vorher einzeln vorhanden war, sodaß mans etwa addirend doch hätte haben
können, es entsteht erst durch ihr Zusammen und wäre ohne das ausgeblieben.
Man kann sichs auf eine scharfe Formel bringen: eins und eins zusammen sind
da nicht bloß zwei, wie sonst, fondern mehr. Solches Wunder, darf man wohl
sagen, kann das Zusammenleben wirken in Vergleich mit dem Einzelleben. Und
das steigert sich mit der steigenden Zahl oder kann es.

Das Zusammensingen gerade kann noch weiter zeigen, worauf es eigentlich
dabei ankommt. Ich erfuhr das kürzlich einmal recht deutlich, als ich selbdritt
auf einem Waldwege rasch vorwärts wollte. Ein kleiner Gesangverein, der
singend langsamer im Takte dahin schritt, versperrte uns den schmalen Weg.
Das wollte mich anfangs verdrießen, zumal ich zuerst nur die beiden Bässe,
die zuletzt schritten, deutlich in dichter Nähe hörte, und das klang wie zerhackt,
eintönig, unschön. Aber der Verdruß mußte sich zur Geduld verstehen, und man
mußte hören. Nun kam auch der Zusammenklang der andern drei Stimmen heran
und räumte die Seele, die mit kritischen Grillen beschäftigt war, von diesen völlig
aus, man hörte nur und lebte bald mit in dem Gesang, wirklich wie mitten
darin. Es war ein Wanderlied, zum Preis des Vaterlandssinnes (ich dachte
mir dabei einen hörenden Franzosen), sehr schön, frisch und gesund nach Form
und Inhalt. Wie reich sind wir jetzt an solchen Dingen und wie anders sind
die französischen vlmusoiiZ, auch die patriotischen, z. B. das, welches vor kurzem
in Paris aufkam zum Preise Boulangers, Du rsvenÄut as ig. rsvus. Dabei
fiel mir aber wieder einmal auf, weil ich die Bässe doch am nächsten hatte,
wie sich bei solchem Zusammensingen die begleitenden Stimmen der führenden
Stimme so völlig neidlos unterordnen und zu Dienst stellen, ihr sozusagen die
Blume vom Ganzen überlassen, um selbst mehr das Blattwerk und den Stengel
darzustellen, falls nicht ein andres Bild besser träfe. Meine Bässe sangen ihre
bescheidene, dienende Rolle mit derselben ganzen frohen Hingebung, wie vorn
an der Spitze der Tenor seine Stimme, die die Melodie führte. Alles ist da
ein frohes, schönes, in sich ruhendes Leben, alles eine reiche mannichfaltige Be¬
wegung und doch mit sicherer Ruhe als Kern, was sich alles, Bewegung und
Ruhe, auch auf oder in den Hörer überträgt, als sänge er innerlich mit. Aber
in diesem schönen Zusammenleben der Seelen, das jedem Einzelnen erhöhtes
Leben giebt, dient eben keiner eigentlich dem andern, sondern alle, auch die
führende Stimme, dienen einem Ganzen, das sie alle eben herstellen helfen.
Von diesem Ganzen, der Seele der kleinen Welt, unfaßbar in Worten und
doch das eigentlich Lebendige darin, läßt sich doch sagen, daß es wie über den
Stimmen und Sängern schwebt und doch zugleich nur in ihnen, wie durch sie,


Grenzboten IV. 1837. 41
Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen.

das sich am besten beim gemeinsamen Singen an einander entzündet. Also:
die beiden, die jeder für sich mit ihrem Leben augenblicklich sozusagen auf den
geringsten Bestand zurückgekommen waren, gewinnen an einander ein erneutes,
ja erhöhtes Leben, haben auf einmal etwas in sich, das in keinem von beiden
vorher einzeln vorhanden war, sodaß mans etwa addirend doch hätte haben
können, es entsteht erst durch ihr Zusammen und wäre ohne das ausgeblieben.
Man kann sichs auf eine scharfe Formel bringen: eins und eins zusammen sind
da nicht bloß zwei, wie sonst, fondern mehr. Solches Wunder, darf man wohl
sagen, kann das Zusammenleben wirken in Vergleich mit dem Einzelleben. Und
das steigert sich mit der steigenden Zahl oder kann es.

Das Zusammensingen gerade kann noch weiter zeigen, worauf es eigentlich
dabei ankommt. Ich erfuhr das kürzlich einmal recht deutlich, als ich selbdritt
auf einem Waldwege rasch vorwärts wollte. Ein kleiner Gesangverein, der
singend langsamer im Takte dahin schritt, versperrte uns den schmalen Weg.
Das wollte mich anfangs verdrießen, zumal ich zuerst nur die beiden Bässe,
die zuletzt schritten, deutlich in dichter Nähe hörte, und das klang wie zerhackt,
eintönig, unschön. Aber der Verdruß mußte sich zur Geduld verstehen, und man
mußte hören. Nun kam auch der Zusammenklang der andern drei Stimmen heran
und räumte die Seele, die mit kritischen Grillen beschäftigt war, von diesen völlig
aus, man hörte nur und lebte bald mit in dem Gesang, wirklich wie mitten
darin. Es war ein Wanderlied, zum Preis des Vaterlandssinnes (ich dachte
mir dabei einen hörenden Franzosen), sehr schön, frisch und gesund nach Form
und Inhalt. Wie reich sind wir jetzt an solchen Dingen und wie anders sind
die französischen vlmusoiiZ, auch die patriotischen, z. B. das, welches vor kurzem
in Paris aufkam zum Preise Boulangers, Du rsvenÄut as ig. rsvus. Dabei
fiel mir aber wieder einmal auf, weil ich die Bässe doch am nächsten hatte,
wie sich bei solchem Zusammensingen die begleitenden Stimmen der führenden
Stimme so völlig neidlos unterordnen und zu Dienst stellen, ihr sozusagen die
Blume vom Ganzen überlassen, um selbst mehr das Blattwerk und den Stengel
darzustellen, falls nicht ein andres Bild besser träfe. Meine Bässe sangen ihre
bescheidene, dienende Rolle mit derselben ganzen frohen Hingebung, wie vorn
an der Spitze der Tenor seine Stimme, die die Melodie führte. Alles ist da
ein frohes, schönes, in sich ruhendes Leben, alles eine reiche mannichfaltige Be¬
wegung und doch mit sicherer Ruhe als Kern, was sich alles, Bewegung und
Ruhe, auch auf oder in den Hörer überträgt, als sänge er innerlich mit. Aber
in diesem schönen Zusammenleben der Seelen, das jedem Einzelnen erhöhtes
Leben giebt, dient eben keiner eigentlich dem andern, sondern alle, auch die
führende Stimme, dienen einem Ganzen, das sie alle eben herstellen helfen.
Von diesem Ganzen, der Seele der kleinen Welt, unfaßbar in Worten und
doch das eigentlich Lebendige darin, läßt sich doch sagen, daß es wie über den
Stimmen und Sängern schwebt und doch zugleich nur in ihnen, wie durch sie,


Grenzboten IV. 1837. 41
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[0329] Tagebuchblätter eines Sonntagsphilosophen. das sich am besten beim gemeinsamen Singen an einander entzündet. Also: die beiden, die jeder für sich mit ihrem Leben augenblicklich sozusagen auf den geringsten Bestand zurückgekommen waren, gewinnen an einander ein erneutes, ja erhöhtes Leben, haben auf einmal etwas in sich, das in keinem von beiden vorher einzeln vorhanden war, sodaß mans etwa addirend doch hätte haben können, es entsteht erst durch ihr Zusammen und wäre ohne das ausgeblieben. Man kann sichs auf eine scharfe Formel bringen: eins und eins zusammen sind da nicht bloß zwei, wie sonst, fondern mehr. Solches Wunder, darf man wohl sagen, kann das Zusammenleben wirken in Vergleich mit dem Einzelleben. Und das steigert sich mit der steigenden Zahl oder kann es. Das Zusammensingen gerade kann noch weiter zeigen, worauf es eigentlich dabei ankommt. Ich erfuhr das kürzlich einmal recht deutlich, als ich selbdritt auf einem Waldwege rasch vorwärts wollte. Ein kleiner Gesangverein, der singend langsamer im Takte dahin schritt, versperrte uns den schmalen Weg. Das wollte mich anfangs verdrießen, zumal ich zuerst nur die beiden Bässe, die zuletzt schritten, deutlich in dichter Nähe hörte, und das klang wie zerhackt, eintönig, unschön. Aber der Verdruß mußte sich zur Geduld verstehen, und man mußte hören. Nun kam auch der Zusammenklang der andern drei Stimmen heran und räumte die Seele, die mit kritischen Grillen beschäftigt war, von diesen völlig aus, man hörte nur und lebte bald mit in dem Gesang, wirklich wie mitten darin. Es war ein Wanderlied, zum Preis des Vaterlandssinnes (ich dachte mir dabei einen hörenden Franzosen), sehr schön, frisch und gesund nach Form und Inhalt. Wie reich sind wir jetzt an solchen Dingen und wie anders sind die französischen vlmusoiiZ, auch die patriotischen, z. B. das, welches vor kurzem in Paris aufkam zum Preise Boulangers, Du rsvenÄut as ig. rsvus. Dabei fiel mir aber wieder einmal auf, weil ich die Bässe doch am nächsten hatte, wie sich bei solchem Zusammensingen die begleitenden Stimmen der führenden Stimme so völlig neidlos unterordnen und zu Dienst stellen, ihr sozusagen die Blume vom Ganzen überlassen, um selbst mehr das Blattwerk und den Stengel darzustellen, falls nicht ein andres Bild besser träfe. Meine Bässe sangen ihre bescheidene, dienende Rolle mit derselben ganzen frohen Hingebung, wie vorn an der Spitze der Tenor seine Stimme, die die Melodie führte. Alles ist da ein frohes, schönes, in sich ruhendes Leben, alles eine reiche mannichfaltige Be¬ wegung und doch mit sicherer Ruhe als Kern, was sich alles, Bewegung und Ruhe, auch auf oder in den Hörer überträgt, als sänge er innerlich mit. Aber in diesem schönen Zusammenleben der Seelen, das jedem Einzelnen erhöhtes Leben giebt, dient eben keiner eigentlich dem andern, sondern alle, auch die führende Stimme, dienen einem Ganzen, das sie alle eben herstellen helfen. Von diesem Ganzen, der Seele der kleinen Welt, unfaßbar in Worten und doch das eigentlich Lebendige darin, läßt sich doch sagen, daß es wie über den Stimmen und Sängern schwebt und doch zugleich nur in ihnen, wie durch sie, Grenzboten IV. 1837. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/329>, abgerufen am 22.07.2024.