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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Versicherungsbeitrag sollte das Reich ein Drittel, der Arbeitgeber und Arbeit¬
nehmer je drei Mark beisteuern. Daneben sollte anch el" höherer Rentensatz ins
Auge gefaßt werden können, sobald eine Verufsgenvssenschaft einen höhern
Beitrag liefern wollte und könnte. Auch über Witwen- und Waisenversicherungen
waren in Betreff des künftigen Gesetzentwurfs Andeutungen in die Öffentlichkeit
gelangt. Es waren alles nur Andeutungen, aber sie genügten der freisinnigen
Presse, um von vornherein die in Aussicht gestellten Leistungen zu verwerfen;
man suchte sie lächerlich zu machen. Daß der alte Arbeiter in den allermeisten
Fällen bei seinen Angehörigen eine gern bereitete Stätte finden wird, wenn er
auch nur 120 Mark für das Hauswesen zuschießen kaun, wissen die freisinnigen
Herren, die meist auf hohem Pferde sitzen, freilich nicht. Darum konnte sich
Herr Richter erlauben, sich in der Freisinnigen Zeitung über die Geringfügigkeit
der Wohlthaten lustig zu machen. "Ein solcher Neichsrcntner -- sagte er
wird zu wenig zum Leben und auch uicht zu viel zum Sterben übrig haben."
Gar nichts scheint dem Herrn besser zu sein. Außerdem wurde das Mögliche
von Gehässigkeiten durch die freisinnigen Zeitungen geleistet. So hatte der
Staatsminister von Vötticher sich gegen das in die Kunstbuttergesctzgebung
hineingebrachte Verbot der Mischbutter ausgesprochen; der Bundesrat nahm
aber doch das Kunstbuttergesctz in der vom Reichstag beschlossenen Fassung
an; auch Bismarck entschied sich dafür, daß der preußische Bevollmächtigte für
das Gesetz, d. h. für das gänzliche Verbot des Verkaufs von Mischbutter stimmte.
Was das Nichtige ist, muß hier schlechterdings erst die Erfahrung lehren. Es
kann der Reichstag Recht haben, da das gänzliche Verbot die Ehrlichkeit im
Handel und Wandel entschieden fördert; es kann auch Minister von Vötticher
Recht haben, wenn er meint, eine strenge Durchführung des Gesetzes sei nicht
möglich, der eine könne wegen derselben Handlung bestraft werden, der andre
frei ausgehen. Also die Erfahrung muß erst hier das bessere lehren. Nun
war es selbstverständlich, daß Vötticher seinen Sommerurlaub antrat vor der
Sitzung des Bundesrath, in welcher das Kuustbuttergesetz zur Annahme kommen
sollte und in welcher er die preußische Stimme hätte abgeben müssen. Jeder, der
nur ein wenig Verständnis für die Lösung von derartigen Konflikten hat, sieht
hier den natürlichen Weg leicht gegeben. Die Deutschfrcisinnigen sprengten
aber sofort, als Vötticher vor seinem Urlaub nach Friedrichsruh reiste, das
läppische Gerücht aus, Vötticher sei von Bismarck sehr ungnädig empfangen
worden, sein Urlaub sei nur der Vorbote seines Sturzes.

Am 23. September war das fünfundzwanzigjährige Ministerjubiläum Bis-
marcks. Fremdländische Zeitungen benutzten den Tag zum Ausdruck der Ver¬
ehrung des Staunens vor der Genialität und gewaltigen Größe des deutschen
Staatsmannes. Die liinss sah in den Errungenschaften Bismarcks, der Stärke
und Einigkeit Deutschlands, die sicherste Bürgschaft des europäischen Friedens.
Das Wiener Fremdenblatt beglückwünschte in seinem Leitartikel "den große"


Versicherungsbeitrag sollte das Reich ein Drittel, der Arbeitgeber und Arbeit¬
nehmer je drei Mark beisteuern. Daneben sollte anch el» höherer Rentensatz ins
Auge gefaßt werden können, sobald eine Verufsgenvssenschaft einen höhern
Beitrag liefern wollte und könnte. Auch über Witwen- und Waisenversicherungen
waren in Betreff des künftigen Gesetzentwurfs Andeutungen in die Öffentlichkeit
gelangt. Es waren alles nur Andeutungen, aber sie genügten der freisinnigen
Presse, um von vornherein die in Aussicht gestellten Leistungen zu verwerfen;
man suchte sie lächerlich zu machen. Daß der alte Arbeiter in den allermeisten
Fällen bei seinen Angehörigen eine gern bereitete Stätte finden wird, wenn er
auch nur 120 Mark für das Hauswesen zuschießen kaun, wissen die freisinnigen
Herren, die meist auf hohem Pferde sitzen, freilich nicht. Darum konnte sich
Herr Richter erlauben, sich in der Freisinnigen Zeitung über die Geringfügigkeit
der Wohlthaten lustig zu machen. „Ein solcher Neichsrcntner — sagte er
wird zu wenig zum Leben und auch uicht zu viel zum Sterben übrig haben."
Gar nichts scheint dem Herrn besser zu sein. Außerdem wurde das Mögliche
von Gehässigkeiten durch die freisinnigen Zeitungen geleistet. So hatte der
Staatsminister von Vötticher sich gegen das in die Kunstbuttergesctzgebung
hineingebrachte Verbot der Mischbutter ausgesprochen; der Bundesrat nahm
aber doch das Kunstbuttergesctz in der vom Reichstag beschlossenen Fassung
an; auch Bismarck entschied sich dafür, daß der preußische Bevollmächtigte für
das Gesetz, d. h. für das gänzliche Verbot des Verkaufs von Mischbutter stimmte.
Was das Nichtige ist, muß hier schlechterdings erst die Erfahrung lehren. Es
kann der Reichstag Recht haben, da das gänzliche Verbot die Ehrlichkeit im
Handel und Wandel entschieden fördert; es kann auch Minister von Vötticher
Recht haben, wenn er meint, eine strenge Durchführung des Gesetzes sei nicht
möglich, der eine könne wegen derselben Handlung bestraft werden, der andre
frei ausgehen. Also die Erfahrung muß erst hier das bessere lehren. Nun
war es selbstverständlich, daß Vötticher seinen Sommerurlaub antrat vor der
Sitzung des Bundesrath, in welcher das Kuustbuttergesetz zur Annahme kommen
sollte und in welcher er die preußische Stimme hätte abgeben müssen. Jeder, der
nur ein wenig Verständnis für die Lösung von derartigen Konflikten hat, sieht
hier den natürlichen Weg leicht gegeben. Die Deutschfrcisinnigen sprengten
aber sofort, als Vötticher vor seinem Urlaub nach Friedrichsruh reiste, das
läppische Gerücht aus, Vötticher sei von Bismarck sehr ungnädig empfangen
worden, sein Urlaub sei nur der Vorbote seines Sturzes.

Am 23. September war das fünfundzwanzigjährige Ministerjubiläum Bis-
marcks. Fremdländische Zeitungen benutzten den Tag zum Ausdruck der Ver¬
ehrung des Staunens vor der Genialität und gewaltigen Größe des deutschen
Staatsmannes. Die liinss sah in den Errungenschaften Bismarcks, der Stärke
und Einigkeit Deutschlands, die sicherste Bürgschaft des europäischen Friedens.
Das Wiener Fremdenblatt beglückwünschte in seinem Leitartikel „den große»


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/314>, abgerufen am 22.07.2024.