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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Eine Fahrt in den Orient.

seinem Eintritt auch der irdische Leib sich wandelt, denn sonst würde ich vor
den Huris wenig Achtung haben, wenn sie ihre Liebkosungen an diesem
schmutzigen, mißgestalteten, halb verrückt aussehenden Menschen verschwenden
sollten. Einmal nimmt ja alles ein Ende, und so auch das Heulen, aber zwei
Stunden mag es doch gedauert haben. Zuletzt wurden dem Scheck verschiedne
Hemden und andre Kleidungsstücke von Kranken vorgelegt, die er unter besondern
Segenssprüchcn weihte, was der Heilung der kranken Besitzer förderlich sein soll.
Endlich brachte mau kranke Kinder und legte sie vor die Füße des Sehens,
ihnen schlössen sich Erwachsene in gleicher Lage an, svdciß sich eine lebendige
Brücke von dem einen Ende des Saales zum andern bildete. Über dieselbe
ging der Scheck mit Würde und Hoheit hinweg, aus seinen leuchtenden Angen
strahlte das Gefühl, mit seinen Tritten die Dämonen aus deu Leibern der Hin¬
gestreckten vertrieben zu habe" -- eine Heilnngsweise, die jedenfalls nicht schmerz¬
licher und kostbarer ist als die der modernem Medizin.

Mit gemischter Stimmung verließen wir diesen Ort; Mitleiden mit der
Verirrung des menschlichen Geistes, der das hohe Gefühl der Religion in ein
abstoßendes Zerrbild verwandelte, kämpfte mit Unwillen und Ekel, und man
durfte sich mit Recht fragen, ob ein solches Volk je fähig werden kann, in Ge¬
meinschaft mit den übrigen Nationen zu leben. Immerhin schien mir der re¬
ligiöse Fanatismus beachtenswert; aber auch in dieser Hinsicht begegnete ich
Spöttern, welche behaupteten, daß die Heuler sich durch den Genuß von Ha¬
schisch zu diesem Treiben befähigten. Unser Freund war durch das Gesehene so
angewidert, daß er von einer Fortsetzung unsrer Expedition nichts wissen wollte,
und seine Abscheu wurde dadurch nicht gemildert, daß wir auf unserm Rückwege
einem heiligen Derwisch begegneten, der nackt, mit Tigerfellen, Wvlfshänten und
allerlei Tand bedeckt, nur weil er verrückt ist, im Rufe der Heiligkeit steht und
Verehrung genießt. Jedenfalls lag in dem Wahnsinne Methode; denn es vertrug
sich mit seiner Heiligkeit, uns anzubetteln und von den Giaurs einige Parastncke
mit Dank cuizunchmen.

Am folgenden Tage mußte ich mich allein zu deu tanzenden Derwische"
begeben, deren Kloster in einem schmutzigen Winkel in Kassia Pascha unweit
Pera liegt. Hier war wenigstens der Betsaal luftiger, wie es ja auch für
Tanzende sein muß. Die Musik zum Tanz wurde auf der Galerie ebenfalls
von Derwischen gemacht, von denen die einen lange Hirtenflöten bliesen, andre
geigten oder auf kleine Paukbecken schlugen und noch andre saugen, und zwar
nach den Noten eines alten handschriftlichen Buches. Wie viel "Leitmotive" in
diesem Spektakel vorticmden waren, vermag ich nicht anzugeben, nur glaube ich,
daß man ebenso gut hierbei ans dem Kopfe, wie auf den Füßen tanzen kann.
Die Derwische zogen das letztere vor, wenn man ihre Bewegungen überhaupt
mit diesem Ausdrucke bezeichnen darf. Der Scheck stand wieder vor dem Altar,
diesmal jedoch ohne sich zu bewegen; etwa zwanzig Derwische, von denen ein-


Eine Fahrt in den Orient.

seinem Eintritt auch der irdische Leib sich wandelt, denn sonst würde ich vor
den Huris wenig Achtung haben, wenn sie ihre Liebkosungen an diesem
schmutzigen, mißgestalteten, halb verrückt aussehenden Menschen verschwenden
sollten. Einmal nimmt ja alles ein Ende, und so auch das Heulen, aber zwei
Stunden mag es doch gedauert haben. Zuletzt wurden dem Scheck verschiedne
Hemden und andre Kleidungsstücke von Kranken vorgelegt, die er unter besondern
Segenssprüchcn weihte, was der Heilung der kranken Besitzer förderlich sein soll.
Endlich brachte mau kranke Kinder und legte sie vor die Füße des Sehens,
ihnen schlössen sich Erwachsene in gleicher Lage an, svdciß sich eine lebendige
Brücke von dem einen Ende des Saales zum andern bildete. Über dieselbe
ging der Scheck mit Würde und Hoheit hinweg, aus seinen leuchtenden Angen
strahlte das Gefühl, mit seinen Tritten die Dämonen aus deu Leibern der Hin¬
gestreckten vertrieben zu habe» — eine Heilnngsweise, die jedenfalls nicht schmerz¬
licher und kostbarer ist als die der modernem Medizin.

Mit gemischter Stimmung verließen wir diesen Ort; Mitleiden mit der
Verirrung des menschlichen Geistes, der das hohe Gefühl der Religion in ein
abstoßendes Zerrbild verwandelte, kämpfte mit Unwillen und Ekel, und man
durfte sich mit Recht fragen, ob ein solches Volk je fähig werden kann, in Ge¬
meinschaft mit den übrigen Nationen zu leben. Immerhin schien mir der re¬
ligiöse Fanatismus beachtenswert; aber auch in dieser Hinsicht begegnete ich
Spöttern, welche behaupteten, daß die Heuler sich durch den Genuß von Ha¬
schisch zu diesem Treiben befähigten. Unser Freund war durch das Gesehene so
angewidert, daß er von einer Fortsetzung unsrer Expedition nichts wissen wollte,
und seine Abscheu wurde dadurch nicht gemildert, daß wir auf unserm Rückwege
einem heiligen Derwisch begegneten, der nackt, mit Tigerfellen, Wvlfshänten und
allerlei Tand bedeckt, nur weil er verrückt ist, im Rufe der Heiligkeit steht und
Verehrung genießt. Jedenfalls lag in dem Wahnsinne Methode; denn es vertrug
sich mit seiner Heiligkeit, uns anzubetteln und von den Giaurs einige Parastncke
mit Dank cuizunchmen.

Am folgenden Tage mußte ich mich allein zu deu tanzenden Derwische»
begeben, deren Kloster in einem schmutzigen Winkel in Kassia Pascha unweit
Pera liegt. Hier war wenigstens der Betsaal luftiger, wie es ja auch für
Tanzende sein muß. Die Musik zum Tanz wurde auf der Galerie ebenfalls
von Derwischen gemacht, von denen die einen lange Hirtenflöten bliesen, andre
geigten oder auf kleine Paukbecken schlugen und noch andre saugen, und zwar
nach den Noten eines alten handschriftlichen Buches. Wie viel „Leitmotive" in
diesem Spektakel vorticmden waren, vermag ich nicht anzugeben, nur glaube ich,
daß man ebenso gut hierbei ans dem Kopfe, wie auf den Füßen tanzen kann.
Die Derwische zogen das letztere vor, wenn man ihre Bewegungen überhaupt
mit diesem Ausdrucke bezeichnen darf. Der Scheck stand wieder vor dem Altar,
diesmal jedoch ohne sich zu bewegen; etwa zwanzig Derwische, von denen ein-


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[0298] Eine Fahrt in den Orient. seinem Eintritt auch der irdische Leib sich wandelt, denn sonst würde ich vor den Huris wenig Achtung haben, wenn sie ihre Liebkosungen an diesem schmutzigen, mißgestalteten, halb verrückt aussehenden Menschen verschwenden sollten. Einmal nimmt ja alles ein Ende, und so auch das Heulen, aber zwei Stunden mag es doch gedauert haben. Zuletzt wurden dem Scheck verschiedne Hemden und andre Kleidungsstücke von Kranken vorgelegt, die er unter besondern Segenssprüchcn weihte, was der Heilung der kranken Besitzer förderlich sein soll. Endlich brachte mau kranke Kinder und legte sie vor die Füße des Sehens, ihnen schlössen sich Erwachsene in gleicher Lage an, svdciß sich eine lebendige Brücke von dem einen Ende des Saales zum andern bildete. Über dieselbe ging der Scheck mit Würde und Hoheit hinweg, aus seinen leuchtenden Angen strahlte das Gefühl, mit seinen Tritten die Dämonen aus deu Leibern der Hin¬ gestreckten vertrieben zu habe» — eine Heilnngsweise, die jedenfalls nicht schmerz¬ licher und kostbarer ist als die der modernem Medizin. Mit gemischter Stimmung verließen wir diesen Ort; Mitleiden mit der Verirrung des menschlichen Geistes, der das hohe Gefühl der Religion in ein abstoßendes Zerrbild verwandelte, kämpfte mit Unwillen und Ekel, und man durfte sich mit Recht fragen, ob ein solches Volk je fähig werden kann, in Ge¬ meinschaft mit den übrigen Nationen zu leben. Immerhin schien mir der re¬ ligiöse Fanatismus beachtenswert; aber auch in dieser Hinsicht begegnete ich Spöttern, welche behaupteten, daß die Heuler sich durch den Genuß von Ha¬ schisch zu diesem Treiben befähigten. Unser Freund war durch das Gesehene so angewidert, daß er von einer Fortsetzung unsrer Expedition nichts wissen wollte, und seine Abscheu wurde dadurch nicht gemildert, daß wir auf unserm Rückwege einem heiligen Derwisch begegneten, der nackt, mit Tigerfellen, Wvlfshänten und allerlei Tand bedeckt, nur weil er verrückt ist, im Rufe der Heiligkeit steht und Verehrung genießt. Jedenfalls lag in dem Wahnsinne Methode; denn es vertrug sich mit seiner Heiligkeit, uns anzubetteln und von den Giaurs einige Parastncke mit Dank cuizunchmen. Am folgenden Tage mußte ich mich allein zu deu tanzenden Derwische» begeben, deren Kloster in einem schmutzigen Winkel in Kassia Pascha unweit Pera liegt. Hier war wenigstens der Betsaal luftiger, wie es ja auch für Tanzende sein muß. Die Musik zum Tanz wurde auf der Galerie ebenfalls von Derwischen gemacht, von denen die einen lange Hirtenflöten bliesen, andre geigten oder auf kleine Paukbecken schlugen und noch andre saugen, und zwar nach den Noten eines alten handschriftlichen Buches. Wie viel „Leitmotive" in diesem Spektakel vorticmden waren, vermag ich nicht anzugeben, nur glaube ich, daß man ebenso gut hierbei ans dem Kopfe, wie auf den Füßen tanzen kann. Die Derwische zogen das letztere vor, wenn man ihre Bewegungen überhaupt mit diesem Ausdrucke bezeichnen darf. Der Scheck stand wieder vor dem Altar, diesmal jedoch ohne sich zu bewegen; etwa zwanzig Derwische, von denen ein-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/298>, abgerufen am 22.07.2024.