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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

schon thut seit Jahrhunderten durch die besten Geister, die eben in sich so voll
von Leben waren und von der Stube aus ihr Leben in das der Zeit einströmen
ließen -- wie wäre das vor der Gefahr des Scheinlebens zu schützen und ihm
Bewegung, rechtes Leben zuzuführen? Ich kann nicht umhin, bei der Frage,
die in unsre große Lebensfrage so tief eingreift, wieder an Goethe zu denken.
Im Tagebuche von 178V hat er sich unterm 21. März eingetragen als Selbst¬
beobachtung: "Morgens nach Belvedere zu Fuß. An Herzog Bernds ^Bern¬
hards von Weimar, dessen Leben er schreiben wollte^ Leben im Gehen viel ge¬
dacht. Was ich Guts finde in Überlegung, Gedanken, ja sogar Ausdruck, kommt
mir meist im Gehen. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt. Darum das Diktiren
weiter zu treiben," wie er denn auch gethan hat, auch im Zimmer in wirk¬
licher Bewegung zu arbeiten. Die Sache ist so eigenartig wichtig, daß sie ein
Capitelchen für sich ergeben würde, das recht wohl daher gehörte, zumal sich
dabei recht deutlich zeigt, wie sehr das Leben als Bewegung in uns eigentlich
ein einheitliches ist, daß auch bloß leibliches Bewegen dem des Gedankens zu
Gute kommt nach Inhalt und Form bis in seine Höhen hinauf und ihm die
lebendige Wahrheit, das wahre große Leben finden hilft.

Übrigens liegt ein andrer Trost der Zeit zur Hand, um Sicherung zu
geben gegen die alten Schäden des stubenhockerischen Lebens. Das Gesamt¬
leben der Welt ist in eine Bewegung gekommen, nach innen und außen größer
als jemals in der Weltgeschichte, und treibt seine Wellen immer lebhafter auch
in unsre Stube herein, um die Stubenluft geistig mit der bewegten Luft der
großen Welt auszufüllen. Und dieser Bewegung ist in ihrem Wachsen kein
Ende abzusehen, auch wenn man in das nahende zwanzigste Jahrhundert voraus
blickt oder noch weiter in das dahinter nahende dritte Jahrtausend. Kein Ende
der wachsenden, in lind außer sich kreisenden Bewegung, also die gerade ent¬
gegengesetzte Richtung, als zu welcher der Pessimismus antrieb, die Kreise des
Lebens eingehen zu lassen. Wir sehen sie immer weiter ausgreifen und die
Einzelleben der Menschen und Völker immer lebhafter ergreifen, die in der
Gesamtbewegung ihre Stelle, d. h. ihr Leben zu suchen haben. Für Leben ist
also gesorgt auf weite Zukunft hin, insofern es Bewegung ist, auch für Leben
in den Studirstuben, von denen nicht nur die Erkenntnis, auch die rechte Lenkung
der Bewegung zuletzt ausgehen soll. Und daß wir Deutschen uns dabei noch
nicht auf den Altenteil setzen lassen wollen, in den Großvaterstuhl beim Ofen,
wie der Freund Nachbar im Osten wünscht und der im Westen mit, dafür
bürgt was in unserm Jahrhundert bei uns geschehen ist, im Geiste wie mit der
That. Freilich, daß das neue Leben, das über uns gekommen ist, auch in den
Einzelnen wirklich Leben werde, dazu gehört, daß alte Dünste und Dämpfe
vollends hincmsgefegt werden, die in dem alten Leben ohne Leben im gelang¬
weilten Hirn ansgebraut worden sind, der Pessimismus und Kriticismus und
Solipsimus und wie diese Stubenteufel sonst heißen, die am Leben und am


TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen.

schon thut seit Jahrhunderten durch die besten Geister, die eben in sich so voll
von Leben waren und von der Stube aus ihr Leben in das der Zeit einströmen
ließen — wie wäre das vor der Gefahr des Scheinlebens zu schützen und ihm
Bewegung, rechtes Leben zuzuführen? Ich kann nicht umhin, bei der Frage,
die in unsre große Lebensfrage so tief eingreift, wieder an Goethe zu denken.
Im Tagebuche von 178V hat er sich unterm 21. März eingetragen als Selbst¬
beobachtung: „Morgens nach Belvedere zu Fuß. An Herzog Bernds ^Bern¬
hards von Weimar, dessen Leben er schreiben wollte^ Leben im Gehen viel ge¬
dacht. Was ich Guts finde in Überlegung, Gedanken, ja sogar Ausdruck, kommt
mir meist im Gehen. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt. Darum das Diktiren
weiter zu treiben," wie er denn auch gethan hat, auch im Zimmer in wirk¬
licher Bewegung zu arbeiten. Die Sache ist so eigenartig wichtig, daß sie ein
Capitelchen für sich ergeben würde, das recht wohl daher gehörte, zumal sich
dabei recht deutlich zeigt, wie sehr das Leben als Bewegung in uns eigentlich
ein einheitliches ist, daß auch bloß leibliches Bewegen dem des Gedankens zu
Gute kommt nach Inhalt und Form bis in seine Höhen hinauf und ihm die
lebendige Wahrheit, das wahre große Leben finden hilft.

Übrigens liegt ein andrer Trost der Zeit zur Hand, um Sicherung zu
geben gegen die alten Schäden des stubenhockerischen Lebens. Das Gesamt¬
leben der Welt ist in eine Bewegung gekommen, nach innen und außen größer
als jemals in der Weltgeschichte, und treibt seine Wellen immer lebhafter auch
in unsre Stube herein, um die Stubenluft geistig mit der bewegten Luft der
großen Welt auszufüllen. Und dieser Bewegung ist in ihrem Wachsen kein
Ende abzusehen, auch wenn man in das nahende zwanzigste Jahrhundert voraus
blickt oder noch weiter in das dahinter nahende dritte Jahrtausend. Kein Ende
der wachsenden, in lind außer sich kreisenden Bewegung, also die gerade ent¬
gegengesetzte Richtung, als zu welcher der Pessimismus antrieb, die Kreise des
Lebens eingehen zu lassen. Wir sehen sie immer weiter ausgreifen und die
Einzelleben der Menschen und Völker immer lebhafter ergreifen, die in der
Gesamtbewegung ihre Stelle, d. h. ihr Leben zu suchen haben. Für Leben ist
also gesorgt auf weite Zukunft hin, insofern es Bewegung ist, auch für Leben
in den Studirstuben, von denen nicht nur die Erkenntnis, auch die rechte Lenkung
der Bewegung zuletzt ausgehen soll. Und daß wir Deutschen uns dabei noch
nicht auf den Altenteil setzen lassen wollen, in den Großvaterstuhl beim Ofen,
wie der Freund Nachbar im Osten wünscht und der im Westen mit, dafür
bürgt was in unserm Jahrhundert bei uns geschehen ist, im Geiste wie mit der
That. Freilich, daß das neue Leben, das über uns gekommen ist, auch in den
Einzelnen wirklich Leben werde, dazu gehört, daß alte Dünste und Dämpfe
vollends hincmsgefegt werden, die in dem alten Leben ohne Leben im gelang¬
weilten Hirn ansgebraut worden sind, der Pessimismus und Kriticismus und
Solipsimus und wie diese Stubenteufel sonst heißen, die am Leben und am


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[0274] TagebuchblLtter eines Sonntagsphilosophen. schon thut seit Jahrhunderten durch die besten Geister, die eben in sich so voll von Leben waren und von der Stube aus ihr Leben in das der Zeit einströmen ließen — wie wäre das vor der Gefahr des Scheinlebens zu schützen und ihm Bewegung, rechtes Leben zuzuführen? Ich kann nicht umhin, bei der Frage, die in unsre große Lebensfrage so tief eingreift, wieder an Goethe zu denken. Im Tagebuche von 178V hat er sich unterm 21. März eingetragen als Selbst¬ beobachtung: „Morgens nach Belvedere zu Fuß. An Herzog Bernds ^Bern¬ hards von Weimar, dessen Leben er schreiben wollte^ Leben im Gehen viel ge¬ dacht. Was ich Guts finde in Überlegung, Gedanken, ja sogar Ausdruck, kommt mir meist im Gehen. Sitzend bin ich zu nichts aufgelegt. Darum das Diktiren weiter zu treiben," wie er denn auch gethan hat, auch im Zimmer in wirk¬ licher Bewegung zu arbeiten. Die Sache ist so eigenartig wichtig, daß sie ein Capitelchen für sich ergeben würde, das recht wohl daher gehörte, zumal sich dabei recht deutlich zeigt, wie sehr das Leben als Bewegung in uns eigentlich ein einheitliches ist, daß auch bloß leibliches Bewegen dem des Gedankens zu Gute kommt nach Inhalt und Form bis in seine Höhen hinauf und ihm die lebendige Wahrheit, das wahre große Leben finden hilft. Übrigens liegt ein andrer Trost der Zeit zur Hand, um Sicherung zu geben gegen die alten Schäden des stubenhockerischen Lebens. Das Gesamt¬ leben der Welt ist in eine Bewegung gekommen, nach innen und außen größer als jemals in der Weltgeschichte, und treibt seine Wellen immer lebhafter auch in unsre Stube herein, um die Stubenluft geistig mit der bewegten Luft der großen Welt auszufüllen. Und dieser Bewegung ist in ihrem Wachsen kein Ende abzusehen, auch wenn man in das nahende zwanzigste Jahrhundert voraus blickt oder noch weiter in das dahinter nahende dritte Jahrtausend. Kein Ende der wachsenden, in lind außer sich kreisenden Bewegung, also die gerade ent¬ gegengesetzte Richtung, als zu welcher der Pessimismus antrieb, die Kreise des Lebens eingehen zu lassen. Wir sehen sie immer weiter ausgreifen und die Einzelleben der Menschen und Völker immer lebhafter ergreifen, die in der Gesamtbewegung ihre Stelle, d. h. ihr Leben zu suchen haben. Für Leben ist also gesorgt auf weite Zukunft hin, insofern es Bewegung ist, auch für Leben in den Studirstuben, von denen nicht nur die Erkenntnis, auch die rechte Lenkung der Bewegung zuletzt ausgehen soll. Und daß wir Deutschen uns dabei noch nicht auf den Altenteil setzen lassen wollen, in den Großvaterstuhl beim Ofen, wie der Freund Nachbar im Osten wünscht und der im Westen mit, dafür bürgt was in unserm Jahrhundert bei uns geschehen ist, im Geiste wie mit der That. Freilich, daß das neue Leben, das über uns gekommen ist, auch in den Einzelnen wirklich Leben werde, dazu gehört, daß alte Dünste und Dämpfe vollends hincmsgefegt werden, die in dem alten Leben ohne Leben im gelang¬ weilten Hirn ansgebraut worden sind, der Pessimismus und Kriticismus und Solipsimus und wie diese Stubenteufel sonst heißen, die am Leben und am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/274>, abgerufen am 24.08.2024.