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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

stand, und zeigt dann das kahle Gerippe: seht, das nur ist die Wahrheit der
Sache, das andre hält nicht Stand vor genauem Anfassen. Er lähmt das
Leben, dessen Kern Freudigkeit ist, braucht seine Kraft, andre Kräfte zu hemmen,
statt zu fördern.

So wären wir denn nach dem hoffnungsvollen, glänzenden Aufsteigen des
deutschen Geisteslebens im vorigen Jahrhundert auf der Höhe des neunzehnten
Jahrhunderts in einer Klemme, die geradezu beängstigend wirkt, also wieder
lebeulähmend, wenn man sich deutlich hineindenkt, in einer Klemme, aus der
wir vor allem heraus müssen, wenn uns über allem Denken und Wissen nicht
das Leben selbst eingehen soll, wie Goethes Faust; aber uur das Leben selbst
kann uns herausführen und das Denken muß ihm folgen. Ein Trost dabei
kann das sein, wenn man zurück denkt, daß der Zwiespalt zwischen Denken und
Leben dem modernen Geist gleich in die Wiege gelegt erscheint, daß also der
Streit zwischen beiden ein Grundzug der modernen Geistes- und Lebensaufgabe
ist. Man braucht, wenn man das sehen will, nur daran zu denken, wie der
junge germanische Geist, der die gealterte Welt verjüngen sollte, in die Schule
dieser gealterten Welt gehen mußte, wo ihm Nahrung gereicht wurde, die hoch
über sein jugendliches Bedürfnis hinausging oder auch in einer Form, die selbst
am Alter litt, alte wertvolle Weisheit, die aber nun längst ihrem eigentlichen
Leben entrückt und in Compendienform eingeschrumpft war. Daß man im
Mittelalter einen Widerspruch zwischen Schule und Leben gar wohl empfand,
zeigt allein der mahnende Spruch non sollalas, sha viwo üisvsnäum <Z8t. Im
sechzehnten Jahrhundert bezeichnete ein Denker selbst, einer der unbefangensten
die es giebt, Montaigne, seinen Beruf nicht als denken, sondern als leben, mein
niöstisr o'est vivrs, und das könnte unsre Denkarbeit wieder brauchen, wenigstens
als Durchgang, als neuer Ansatz zu gesundem Denken.

Was ist aber Leben in solchem Gegensatz zum Denken? Auch das Denken
ist ja Leben, jeder Gedanke, der mir durch Hirn oder Sinn geht (wie die
Sprache es ausdrückt), der kleinste oder größte, ist zugleich Leben, Bewegung
in mir, so gut wie das ebenso unsichtbare Wachsen der Fingernagel, so um¬
fassend ist der Begriff, wenn man ihn auch uur auf unser Vinnenleben be¬
schränkt. Ja aber das ist in der Wirklichkeit unmöglich, unser einzelnes Leben
ist nur Leben, indem es in das große Außenleben eingeht, das uns umkreist.
In welcher Weise das aber geschieht, das ist die Frage, von der alles Weitere
abhängt. Auch der Einsiedler, der alle Brücken zum Weltleben abbrechen will,
kann doch in Wahrheit nicht ganz heraus, das Weltbild, das er nur aus der
Welt selbst hat, arbeitet doch in ihm weiter, es ist aber kein unmittelbares
mehr. Auch der Denker als solcher hat etwas vom Einsiedler, wie jeder
Büchermensch, er hat statt des unmittelbaren Lebens nur ein vermitteltes, er
muß es aus zweiter, dritter Hand nehmen, und braucht doch des Lebens eigent¬
lich noch mehr, als der mitten darin steht, weil er die Lebcnshnlsen, die an


Tagebuchblätter eines Sonntagsxhilosoxhen.

stand, und zeigt dann das kahle Gerippe: seht, das nur ist die Wahrheit der
Sache, das andre hält nicht Stand vor genauem Anfassen. Er lähmt das
Leben, dessen Kern Freudigkeit ist, braucht seine Kraft, andre Kräfte zu hemmen,
statt zu fördern.

So wären wir denn nach dem hoffnungsvollen, glänzenden Aufsteigen des
deutschen Geisteslebens im vorigen Jahrhundert auf der Höhe des neunzehnten
Jahrhunderts in einer Klemme, die geradezu beängstigend wirkt, also wieder
lebeulähmend, wenn man sich deutlich hineindenkt, in einer Klemme, aus der
wir vor allem heraus müssen, wenn uns über allem Denken und Wissen nicht
das Leben selbst eingehen soll, wie Goethes Faust; aber uur das Leben selbst
kann uns herausführen und das Denken muß ihm folgen. Ein Trost dabei
kann das sein, wenn man zurück denkt, daß der Zwiespalt zwischen Denken und
Leben dem modernen Geist gleich in die Wiege gelegt erscheint, daß also der
Streit zwischen beiden ein Grundzug der modernen Geistes- und Lebensaufgabe
ist. Man braucht, wenn man das sehen will, nur daran zu denken, wie der
junge germanische Geist, der die gealterte Welt verjüngen sollte, in die Schule
dieser gealterten Welt gehen mußte, wo ihm Nahrung gereicht wurde, die hoch
über sein jugendliches Bedürfnis hinausging oder auch in einer Form, die selbst
am Alter litt, alte wertvolle Weisheit, die aber nun längst ihrem eigentlichen
Leben entrückt und in Compendienform eingeschrumpft war. Daß man im
Mittelalter einen Widerspruch zwischen Schule und Leben gar wohl empfand,
zeigt allein der mahnende Spruch non sollalas, sha viwo üisvsnäum <Z8t. Im
sechzehnten Jahrhundert bezeichnete ein Denker selbst, einer der unbefangensten
die es giebt, Montaigne, seinen Beruf nicht als denken, sondern als leben, mein
niöstisr o'est vivrs, und das könnte unsre Denkarbeit wieder brauchen, wenigstens
als Durchgang, als neuer Ansatz zu gesundem Denken.

Was ist aber Leben in solchem Gegensatz zum Denken? Auch das Denken
ist ja Leben, jeder Gedanke, der mir durch Hirn oder Sinn geht (wie die
Sprache es ausdrückt), der kleinste oder größte, ist zugleich Leben, Bewegung
in mir, so gut wie das ebenso unsichtbare Wachsen der Fingernagel, so um¬
fassend ist der Begriff, wenn man ihn auch uur auf unser Vinnenleben be¬
schränkt. Ja aber das ist in der Wirklichkeit unmöglich, unser einzelnes Leben
ist nur Leben, indem es in das große Außenleben eingeht, das uns umkreist.
In welcher Weise das aber geschieht, das ist die Frage, von der alles Weitere
abhängt. Auch der Einsiedler, der alle Brücken zum Weltleben abbrechen will,
kann doch in Wahrheit nicht ganz heraus, das Weltbild, das er nur aus der
Welt selbst hat, arbeitet doch in ihm weiter, es ist aber kein unmittelbares
mehr. Auch der Denker als solcher hat etwas vom Einsiedler, wie jeder
Büchermensch, er hat statt des unmittelbaren Lebens nur ein vermitteltes, er
muß es aus zweiter, dritter Hand nehmen, und braucht doch des Lebens eigent¬
lich noch mehr, als der mitten darin steht, weil er die Lebcnshnlsen, die an


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/272>, abgerufen am 22.07.2024.