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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

ob es möglich sei, die Vorschriften des siebenten Abschnittes der Gewerbeordnung
in Elsaß-Lothringen alsbald in ihrem ganzen Umfange oder nnr mit gewissen
den Übergang erleichternden Änderungen einzuführen. Auch der Abgeordnete
Grad erklärte sich gegen Straus Antrag und für Aufrechthaltung der bestehenden
Ausnahmestellung der Reichslande, indem er sagte: "Einerseits sind die wesent¬
lichsten Vorschriften über die Arbeit in den Fabriken schon längst bei uns aus
eigner Initiative zur Ausführung gekommen, anderseits knüpfen sich an die ganze
Gewerbeordnung, wie sie jetzt gefaßt ist, für den industriellen Betrieb Schwierig¬
keiten und Nachteile, welche durch dringende Maßregeln zur Wahrung der reichs-
ländischen und der ganzen deutschen Industrie im allgemeinen ausgeglichen werden
müssen." Damit waren Schutzzölle gemeint, und diese wurden ein Jahr später
gewährt, ohne daß die gefürchtete deutsche Gewerbeordnung in Elsaß-Lothringen
zur Geltung gelangte. Die Untersuchung aber, welche ihr vorausgehen sollte, ist
bis heute noch nicht über Vorarbeiten hinausgekommen. Am 1. Oktober 1379
übernahm von Manteuffel als Statthalter die Regierung der Reichslande, und
an die Stelle des büreaukratischen Regiments trat das von Notabeln, unter
welchem von gedeihlicher Lösung der Frage nicht mehr die Rede sein konnte.

Vergleichen wir die altdeutsche Gesetzgebung mit der reichsländischen, so
stellt sich folgendes heraus. Nach dem Gesetze vom 17. Juli 1878 und der
Bundesratsverordnung vom 20. Mai 1879 dürfen im Reiche Kinder von 12 bis
14 Jahren nur 6, jugendliche Personen von 15 und 16 Jahren im allgemeinen
nur 10 Stunden in Fabriken beschäftigt werden, und für die Zeit dieser Be¬
schäftigung (von früh bis abends 8^/z Uhr) ist eine einstündige Mittags-,
eine halbstündige Vormittags- und eine ebenso lange Nachmittagspanse vorge¬
schrieben. Im Reichslande dagegen können Kinder 9, jugendliche Personen 12
Stunden arbeiten. Das ergiebt den hochbedeutenden Unterschied zwischen dem
Reiche und dem Reichslande, daß in letzterem die Kinder thatsächlich 4^/z bis
S'/z, die jugendlichen Personen 2^, in den Spinnereien 1^ Stunden länger
arbeiten als in ersterem. Nehmen wir nach Hcrkners Tabellen an, daß die Zahl
der in den Spinnereien des Oberelsaß beschäftigten Kinder 960, die der jugend¬
lichen Personen rund 2000 und die der Arbeitstage 300 jährlich beträgt, so
ergeben sich zum Vorteile der Spinner im Oberelsaß jährlich 2 240 000 Arbeits¬
stunden mehr, als das deutsche Gesetz gestatten würde. Die Zahl der in den
übrigen Zweigen der oberelsässischen Textilindustrie, den Webereien, Druckereien,
Bleichereien u. dergl., beschäftigten Kinder beläuft sich auf 666, die der jugend¬
lichen Personen auf ungefähr 2800. In diesen Etablissements betrügt die
Arbeitszeit täglich durchschnittlich 11^ Stunden, und da in Altdeutschland
für Kinder nur 6, für jugendliche Personen nur 10 Stunden erlaubt sind, so
ergiebt sich auch für die in den zuletzt erwähnten Fabrikationszweigen beschäftigten
Kinder und jugendlichen Personen des Oberelsaß ein Plus von 3^ bez. 1^
Stunden für den Tag, und in Summa genießen wieder die Oberelsasser Textil-


Die soziale Frage im Reichslande.

ob es möglich sei, die Vorschriften des siebenten Abschnittes der Gewerbeordnung
in Elsaß-Lothringen alsbald in ihrem ganzen Umfange oder nnr mit gewissen
den Übergang erleichternden Änderungen einzuführen. Auch der Abgeordnete
Grad erklärte sich gegen Straus Antrag und für Aufrechthaltung der bestehenden
Ausnahmestellung der Reichslande, indem er sagte: „Einerseits sind die wesent¬
lichsten Vorschriften über die Arbeit in den Fabriken schon längst bei uns aus
eigner Initiative zur Ausführung gekommen, anderseits knüpfen sich an die ganze
Gewerbeordnung, wie sie jetzt gefaßt ist, für den industriellen Betrieb Schwierig¬
keiten und Nachteile, welche durch dringende Maßregeln zur Wahrung der reichs-
ländischen und der ganzen deutschen Industrie im allgemeinen ausgeglichen werden
müssen." Damit waren Schutzzölle gemeint, und diese wurden ein Jahr später
gewährt, ohne daß die gefürchtete deutsche Gewerbeordnung in Elsaß-Lothringen
zur Geltung gelangte. Die Untersuchung aber, welche ihr vorausgehen sollte, ist
bis heute noch nicht über Vorarbeiten hinausgekommen. Am 1. Oktober 1379
übernahm von Manteuffel als Statthalter die Regierung der Reichslande, und
an die Stelle des büreaukratischen Regiments trat das von Notabeln, unter
welchem von gedeihlicher Lösung der Frage nicht mehr die Rede sein konnte.

Vergleichen wir die altdeutsche Gesetzgebung mit der reichsländischen, so
stellt sich folgendes heraus. Nach dem Gesetze vom 17. Juli 1878 und der
Bundesratsverordnung vom 20. Mai 1879 dürfen im Reiche Kinder von 12 bis
14 Jahren nur 6, jugendliche Personen von 15 und 16 Jahren im allgemeinen
nur 10 Stunden in Fabriken beschäftigt werden, und für die Zeit dieser Be¬
schäftigung (von früh bis abends 8^/z Uhr) ist eine einstündige Mittags-,
eine halbstündige Vormittags- und eine ebenso lange Nachmittagspanse vorge¬
schrieben. Im Reichslande dagegen können Kinder 9, jugendliche Personen 12
Stunden arbeiten. Das ergiebt den hochbedeutenden Unterschied zwischen dem
Reiche und dem Reichslande, daß in letzterem die Kinder thatsächlich 4^/z bis
S'/z, die jugendlichen Personen 2^, in den Spinnereien 1^ Stunden länger
arbeiten als in ersterem. Nehmen wir nach Hcrkners Tabellen an, daß die Zahl
der in den Spinnereien des Oberelsaß beschäftigten Kinder 960, die der jugend¬
lichen Personen rund 2000 und die der Arbeitstage 300 jährlich beträgt, so
ergeben sich zum Vorteile der Spinner im Oberelsaß jährlich 2 240 000 Arbeits¬
stunden mehr, als das deutsche Gesetz gestatten würde. Die Zahl der in den
übrigen Zweigen der oberelsässischen Textilindustrie, den Webereien, Druckereien,
Bleichereien u. dergl., beschäftigten Kinder beläuft sich auf 666, die der jugend¬
lichen Personen auf ungefähr 2800. In diesen Etablissements betrügt die
Arbeitszeit täglich durchschnittlich 11^ Stunden, und da in Altdeutschland
für Kinder nur 6, für jugendliche Personen nur 10 Stunden erlaubt sind, so
ergiebt sich auch für die in den zuletzt erwähnten Fabrikationszweigen beschäftigten
Kinder und jugendlichen Personen des Oberelsaß ein Plus von 3^ bez. 1^
Stunden für den Tag, und in Summa genießen wieder die Oberelsasser Textil-


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[0218] Die soziale Frage im Reichslande. ob es möglich sei, die Vorschriften des siebenten Abschnittes der Gewerbeordnung in Elsaß-Lothringen alsbald in ihrem ganzen Umfange oder nnr mit gewissen den Übergang erleichternden Änderungen einzuführen. Auch der Abgeordnete Grad erklärte sich gegen Straus Antrag und für Aufrechthaltung der bestehenden Ausnahmestellung der Reichslande, indem er sagte: „Einerseits sind die wesent¬ lichsten Vorschriften über die Arbeit in den Fabriken schon längst bei uns aus eigner Initiative zur Ausführung gekommen, anderseits knüpfen sich an die ganze Gewerbeordnung, wie sie jetzt gefaßt ist, für den industriellen Betrieb Schwierig¬ keiten und Nachteile, welche durch dringende Maßregeln zur Wahrung der reichs- ländischen und der ganzen deutschen Industrie im allgemeinen ausgeglichen werden müssen." Damit waren Schutzzölle gemeint, und diese wurden ein Jahr später gewährt, ohne daß die gefürchtete deutsche Gewerbeordnung in Elsaß-Lothringen zur Geltung gelangte. Die Untersuchung aber, welche ihr vorausgehen sollte, ist bis heute noch nicht über Vorarbeiten hinausgekommen. Am 1. Oktober 1379 übernahm von Manteuffel als Statthalter die Regierung der Reichslande, und an die Stelle des büreaukratischen Regiments trat das von Notabeln, unter welchem von gedeihlicher Lösung der Frage nicht mehr die Rede sein konnte. Vergleichen wir die altdeutsche Gesetzgebung mit der reichsländischen, so stellt sich folgendes heraus. Nach dem Gesetze vom 17. Juli 1878 und der Bundesratsverordnung vom 20. Mai 1879 dürfen im Reiche Kinder von 12 bis 14 Jahren nur 6, jugendliche Personen von 15 und 16 Jahren im allgemeinen nur 10 Stunden in Fabriken beschäftigt werden, und für die Zeit dieser Be¬ schäftigung (von früh bis abends 8^/z Uhr) ist eine einstündige Mittags-, eine halbstündige Vormittags- und eine ebenso lange Nachmittagspanse vorge¬ schrieben. Im Reichslande dagegen können Kinder 9, jugendliche Personen 12 Stunden arbeiten. Das ergiebt den hochbedeutenden Unterschied zwischen dem Reiche und dem Reichslande, daß in letzterem die Kinder thatsächlich 4^/z bis S'/z, die jugendlichen Personen 2^, in den Spinnereien 1^ Stunden länger arbeiten als in ersterem. Nehmen wir nach Hcrkners Tabellen an, daß die Zahl der in den Spinnereien des Oberelsaß beschäftigten Kinder 960, die der jugend¬ lichen Personen rund 2000 und die der Arbeitstage 300 jährlich beträgt, so ergeben sich zum Vorteile der Spinner im Oberelsaß jährlich 2 240 000 Arbeits¬ stunden mehr, als das deutsche Gesetz gestatten würde. Die Zahl der in den übrigen Zweigen der oberelsässischen Textilindustrie, den Webereien, Druckereien, Bleichereien u. dergl., beschäftigten Kinder beläuft sich auf 666, die der jugend¬ lichen Personen auf ungefähr 2800. In diesen Etablissements betrügt die Arbeitszeit täglich durchschnittlich 11^ Stunden, und da in Altdeutschland für Kinder nur 6, für jugendliche Personen nur 10 Stunden erlaubt sind, so ergiebt sich auch für die in den zuletzt erwähnten Fabrikationszweigen beschäftigten Kinder und jugendlichen Personen des Oberelsaß ein Plus von 3^ bez. 1^ Stunden für den Tag, und in Summa genießen wieder die Oberelsasser Textil-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/218>, abgerufen am 25.08.2024.