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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Gine Fahrt in den Grient.

alles verfallen und wurmstichig. Dort europäische Gesellschaft, europäischer
Komfort, hier ein Gewühl von Trachten, ein Schreien und Lärmen und ein
Pflaster, zu dessen Beschreibung auch die Phantasie des Dichters des Inferno
nicht ausreichen würde. Hätte Dante die Straßen Peras und Stambuls ge¬
sehen, er würde sie zum Vorbild seiner Malebolgen genommen haben, und
wenn in einer derselben der glühende Weg die Sünder rastlos jagt, so sind
ihm die Straßen Konstantinopels insofern ähnlich, als die spitzen und scharfen
Steine, Löcher und Untiefen den Wanderer fortwährend vorwärts treiben in
der Hoffnung, endlich einmal eine Stelle zu finden, auf die er seinen Fuß ohne
Schmerz setzen kann -- eine Hoffnung, die freilich ganz vergeblich ist. Glück¬
licherweise haben die Engländer den Berg von Per" durch eine Drahtseilbahn
mit einem Tunnel durchbrochen und sich dadurch den Dank aller erworben,
welche wenigstens auf zwei Minuten hier einen Ruhepunkt und zugleich eine
Beförderung finden. Dahin wurde ich von meinen Freunden gebracht und bald
in eines der europäischen Gasthäuser einquartiert, die in ihren Preisen zwar mit
den ersten Schweizer Hotels wetteifern, in Bezug auf Komfort und Reinlichkeit
aber noch unter den unsrigen dritten Ranges stehen. Bis ich dahin gelangte,
hatte ich nur immer auf meine Füße zu scheu, und so kam es, daß von den
Bewohnern des goldnen Horns meine Blicke zuerst die Hunde auf sich zogen.
Von den Hunden des Orients hat jeder gehört, und da ich im allgemeinen kein
allzugroßer Freund von allem "was da kreucht" bin, so hatte mich schon vorher
der Gedanke an diese Tiere mit Grausen erfüllt. Meine Erwartungen sind
hierbei zwiefach getäuscht worden; was das Ansehen betrifft, so ist es noch
ekelhafter, als ich mir dachte; es sind braune, verwahrlost aussehende Wolfs¬
hunde, die abgemagert, zerschunden, oft mit offenen Wunden und zerstümmelten
Gliedmaßen in Haufen auf den Straßen liegen und laufen. Wiewohl sie in
dem Geruch der Heiligkeit bei den Türken stehen -- einem Geruch, der übrigens
bei den vielen andern Gerüchen, von denen die Straße" erfüllt sind, nicht be¬
sonders bemerkbar ist --, so haben diese doch kein Mitleid für die Tiere, und
ich glaube, daß das Wort, daß sich der Gerechte auch seines Viehes erbarmt,
wenn es überhaupt im Koran stehen sollte, jedenfalls nicht zu den Geboten des
praktischen Mohamedanismns gehört. Anderseits aber sind diese Hunde auch
nicht zu fürchten; sie sind harmlos und lassen sich ohne Widersetzlichkeit treten
und stoßen und sind so weder dem Einheimischen noch dem Europäer gefährlich.
Wie aber im Orient Raffen und Konfessionen nach Quartieren geteilt sind, die
ihre eigne Organisation haben und eifersüchtig ihre Privilegien behüten, so
bilden auch die Hunde der verschiednen Viertel eigne Körperschaften und Zunft¬
verbünde, in welche der Eintritt jedem andern Hunde aufs strengste versagt
bleibt. Für jeden fremden Hund heißt es: I^seiÄtv "Am 8p6ra,u?Ä voi ob'gn-
träte; er würde einem sicher unvermeidlichen Tode verfallen und durch Bisse
in das Jenseits befördert werden, wenn er sich in diese fremde Region wagte.


Gine Fahrt in den Grient.

alles verfallen und wurmstichig. Dort europäische Gesellschaft, europäischer
Komfort, hier ein Gewühl von Trachten, ein Schreien und Lärmen und ein
Pflaster, zu dessen Beschreibung auch die Phantasie des Dichters des Inferno
nicht ausreichen würde. Hätte Dante die Straßen Peras und Stambuls ge¬
sehen, er würde sie zum Vorbild seiner Malebolgen genommen haben, und
wenn in einer derselben der glühende Weg die Sünder rastlos jagt, so sind
ihm die Straßen Konstantinopels insofern ähnlich, als die spitzen und scharfen
Steine, Löcher und Untiefen den Wanderer fortwährend vorwärts treiben in
der Hoffnung, endlich einmal eine Stelle zu finden, auf die er seinen Fuß ohne
Schmerz setzen kann — eine Hoffnung, die freilich ganz vergeblich ist. Glück¬
licherweise haben die Engländer den Berg von Per« durch eine Drahtseilbahn
mit einem Tunnel durchbrochen und sich dadurch den Dank aller erworben,
welche wenigstens auf zwei Minuten hier einen Ruhepunkt und zugleich eine
Beförderung finden. Dahin wurde ich von meinen Freunden gebracht und bald
in eines der europäischen Gasthäuser einquartiert, die in ihren Preisen zwar mit
den ersten Schweizer Hotels wetteifern, in Bezug auf Komfort und Reinlichkeit
aber noch unter den unsrigen dritten Ranges stehen. Bis ich dahin gelangte,
hatte ich nur immer auf meine Füße zu scheu, und so kam es, daß von den
Bewohnern des goldnen Horns meine Blicke zuerst die Hunde auf sich zogen.
Von den Hunden des Orients hat jeder gehört, und da ich im allgemeinen kein
allzugroßer Freund von allem „was da kreucht" bin, so hatte mich schon vorher
der Gedanke an diese Tiere mit Grausen erfüllt. Meine Erwartungen sind
hierbei zwiefach getäuscht worden; was das Ansehen betrifft, so ist es noch
ekelhafter, als ich mir dachte; es sind braune, verwahrlost aussehende Wolfs¬
hunde, die abgemagert, zerschunden, oft mit offenen Wunden und zerstümmelten
Gliedmaßen in Haufen auf den Straßen liegen und laufen. Wiewohl sie in
dem Geruch der Heiligkeit bei den Türken stehen — einem Geruch, der übrigens
bei den vielen andern Gerüchen, von denen die Straße» erfüllt sind, nicht be¬
sonders bemerkbar ist —, so haben diese doch kein Mitleid für die Tiere, und
ich glaube, daß das Wort, daß sich der Gerechte auch seines Viehes erbarmt,
wenn es überhaupt im Koran stehen sollte, jedenfalls nicht zu den Geboten des
praktischen Mohamedanismns gehört. Anderseits aber sind diese Hunde auch
nicht zu fürchten; sie sind harmlos und lassen sich ohne Widersetzlichkeit treten
und stoßen und sind so weder dem Einheimischen noch dem Europäer gefährlich.
Wie aber im Orient Raffen und Konfessionen nach Quartieren geteilt sind, die
ihre eigne Organisation haben und eifersüchtig ihre Privilegien behüten, so
bilden auch die Hunde der verschiednen Viertel eigne Körperschaften und Zunft¬
verbünde, in welche der Eintritt jedem andern Hunde aufs strengste versagt
bleibt. Für jeden fremden Hund heißt es: I^seiÄtv «Am 8p6ra,u?Ä voi ob'gn-
träte; er würde einem sicher unvermeidlichen Tode verfallen und durch Bisse
in das Jenseits befördert werden, wenn er sich in diese fremde Region wagte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/149>, abgerufen am 29.06.2024.