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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

Sklaven der Städte und der ländlichen Etablissements nichts zu entdecken, und
ebenso wenig trifft man hier das muntere, vergnügte Wesen an, welches den
Stamm, wenn er unverdorben durch Überanstrengung und Entbehrung ist, be¬
zeichnet, Bleiche Farbe, magere, eingefallene, verdrossene Gesichter, vorgebeugte
Haltung und schlaffer Gang finden sich häufig schon bei jungen Männern.
Nicht selten zeigen sich die Folgen des langen Stehens bei den Maschinen in
Verkrümmungen der Beine und in Plattfüßen. Die physische Entartung des
Stammes gewinnt einen deutlichen Ausdruck in den Ergebnissen des Ersatz-
geschüfts, welche die auf Seite 325 unsrer Schrift mitgeteilte Tabelle enthält.
Die Unterschiede zwischen den Ausmusterungen in dem ländlichen Kreise Alt-
kirch, in welchem auf 1000 Zivilpersonen nur 28 Fabrikarbeiter kommen, und
dem Kreise Themm, wo deren auf die gleiche Zahl Zivilpersonen 222 fallen,
springen sogleich in die Augen. Die Berichte der Kreis- und Kantonalärzte
sind voll von Klagen über die Entartung der Bevölkerung in den Jndustrie-
gegenden. Nicht nur daß Skrophulose und Lungenschwindsucht unter ihr ver¬
breitet sind und daß diese Leiden geradezu als die "Geißel der Fabrikbevölkerung"
bezeichnet werden, auch die ansteckenden Krankheiten wie Typhus, Scharlach,
Masern und Diphteritis richten unter ihr weit mehr Verheerungen an, als
nnter den übrigen Klassen. Jene Ärzte verdienen wegen ihrer unermüdlichen
und unerschrockenen Darlegung dieser Verhältnisse und ihrer Hauptursachen volle
Anerkennung. Aber obwohl sie immer von neuem auf die gesundheitsschädlichen
Einflüsse der Art und Weise, wie in den Fabriken Verfahren wird, hingewiesen
haben, und der Ruf nach Einführung einer Fabrikinspektion, wie sie im übrigen
Deutschland besieht, wiederholt ergangen ist, hat der Staat bisher in dieser
Richtung noch nichts gethan. Besser als die Mäuner sehen die Mädchen aus,
die in Fabriken beschäftigt werden. Man darf sie sich nicht als häßliche, nach
Maschinenöl duftende, schmutzig und zerlumpt gekleidete Geschöpfe vorstellen.
Sie sind durchweg reinlich angezogen. Besondre Sorgfalt verwenden sie auf
ihre Frisur. Ein kokett aufgestülptes Häubchen schützt die Haare während der
Arbeit vor den herumfliegenden Baumwollcnfascrn. Bei denen, deren Familien
schon jahrelang dem Fabrikarbeiterstande angehören, machen sich allerdings
Zeichen der physischen Entartung bemerkbar, welche zu lange Anspannung in
schlechter Luft und zu geringe Nahrung hervorrufen müssen. Aber weniger ist
dies der Fall bei solchen, die ihre erste Jugend noch draußen auf dem Lande
verlebt haben, als ihre Eltern noch hinter dem Pfluge hergingen und den
Dreschflegel schwangen. Ihnen hat die Hitze und der Dunst der Fabriksäle
noch keine Blässe angekränkelt, sondern nur einen zarteren Teint gegeben, und
das lange Stehen und der Mangel an Schlaf und sonstiger Erholung haben
in Betreff ihrer körperlichen Entwicklung noch nicht zu Schlaffheit lind gebeugter
Haltung geführt, sondern dem ehemaligen Landmädchen nur schlankere und zier¬
lichere Formen gegeben. Einen sehr widerlichen Anblick gewähren die Kinder.


Die soziale Frage im Reichslande.

Sklaven der Städte und der ländlichen Etablissements nichts zu entdecken, und
ebenso wenig trifft man hier das muntere, vergnügte Wesen an, welches den
Stamm, wenn er unverdorben durch Überanstrengung und Entbehrung ist, be¬
zeichnet, Bleiche Farbe, magere, eingefallene, verdrossene Gesichter, vorgebeugte
Haltung und schlaffer Gang finden sich häufig schon bei jungen Männern.
Nicht selten zeigen sich die Folgen des langen Stehens bei den Maschinen in
Verkrümmungen der Beine und in Plattfüßen. Die physische Entartung des
Stammes gewinnt einen deutlichen Ausdruck in den Ergebnissen des Ersatz-
geschüfts, welche die auf Seite 325 unsrer Schrift mitgeteilte Tabelle enthält.
Die Unterschiede zwischen den Ausmusterungen in dem ländlichen Kreise Alt-
kirch, in welchem auf 1000 Zivilpersonen nur 28 Fabrikarbeiter kommen, und
dem Kreise Themm, wo deren auf die gleiche Zahl Zivilpersonen 222 fallen,
springen sogleich in die Augen. Die Berichte der Kreis- und Kantonalärzte
sind voll von Klagen über die Entartung der Bevölkerung in den Jndustrie-
gegenden. Nicht nur daß Skrophulose und Lungenschwindsucht unter ihr ver¬
breitet sind und daß diese Leiden geradezu als die „Geißel der Fabrikbevölkerung"
bezeichnet werden, auch die ansteckenden Krankheiten wie Typhus, Scharlach,
Masern und Diphteritis richten unter ihr weit mehr Verheerungen an, als
nnter den übrigen Klassen. Jene Ärzte verdienen wegen ihrer unermüdlichen
und unerschrockenen Darlegung dieser Verhältnisse und ihrer Hauptursachen volle
Anerkennung. Aber obwohl sie immer von neuem auf die gesundheitsschädlichen
Einflüsse der Art und Weise, wie in den Fabriken Verfahren wird, hingewiesen
haben, und der Ruf nach Einführung einer Fabrikinspektion, wie sie im übrigen
Deutschland besieht, wiederholt ergangen ist, hat der Staat bisher in dieser
Richtung noch nichts gethan. Besser als die Mäuner sehen die Mädchen aus,
die in Fabriken beschäftigt werden. Man darf sie sich nicht als häßliche, nach
Maschinenöl duftende, schmutzig und zerlumpt gekleidete Geschöpfe vorstellen.
Sie sind durchweg reinlich angezogen. Besondre Sorgfalt verwenden sie auf
ihre Frisur. Ein kokett aufgestülptes Häubchen schützt die Haare während der
Arbeit vor den herumfliegenden Baumwollcnfascrn. Bei denen, deren Familien
schon jahrelang dem Fabrikarbeiterstande angehören, machen sich allerdings
Zeichen der physischen Entartung bemerkbar, welche zu lange Anspannung in
schlechter Luft und zu geringe Nahrung hervorrufen müssen. Aber weniger ist
dies der Fall bei solchen, die ihre erste Jugend noch draußen auf dem Lande
verlebt haben, als ihre Eltern noch hinter dem Pfluge hergingen und den
Dreschflegel schwangen. Ihnen hat die Hitze und der Dunst der Fabriksäle
noch keine Blässe angekränkelt, sondern nur einen zarteren Teint gegeben, und
das lange Stehen und der Mangel an Schlaf und sonstiger Erholung haben
in Betreff ihrer körperlichen Entwicklung noch nicht zu Schlaffheit lind gebeugter
Haltung geführt, sondern dem ehemaligen Landmädchen nur schlankere und zier¬
lichere Formen gegeben. Einen sehr widerlichen Anblick gewähren die Kinder.


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[0014] Die soziale Frage im Reichslande. Sklaven der Städte und der ländlichen Etablissements nichts zu entdecken, und ebenso wenig trifft man hier das muntere, vergnügte Wesen an, welches den Stamm, wenn er unverdorben durch Überanstrengung und Entbehrung ist, be¬ zeichnet, Bleiche Farbe, magere, eingefallene, verdrossene Gesichter, vorgebeugte Haltung und schlaffer Gang finden sich häufig schon bei jungen Männern. Nicht selten zeigen sich die Folgen des langen Stehens bei den Maschinen in Verkrümmungen der Beine und in Plattfüßen. Die physische Entartung des Stammes gewinnt einen deutlichen Ausdruck in den Ergebnissen des Ersatz- geschüfts, welche die auf Seite 325 unsrer Schrift mitgeteilte Tabelle enthält. Die Unterschiede zwischen den Ausmusterungen in dem ländlichen Kreise Alt- kirch, in welchem auf 1000 Zivilpersonen nur 28 Fabrikarbeiter kommen, und dem Kreise Themm, wo deren auf die gleiche Zahl Zivilpersonen 222 fallen, springen sogleich in die Augen. Die Berichte der Kreis- und Kantonalärzte sind voll von Klagen über die Entartung der Bevölkerung in den Jndustrie- gegenden. Nicht nur daß Skrophulose und Lungenschwindsucht unter ihr ver¬ breitet sind und daß diese Leiden geradezu als die „Geißel der Fabrikbevölkerung" bezeichnet werden, auch die ansteckenden Krankheiten wie Typhus, Scharlach, Masern und Diphteritis richten unter ihr weit mehr Verheerungen an, als nnter den übrigen Klassen. Jene Ärzte verdienen wegen ihrer unermüdlichen und unerschrockenen Darlegung dieser Verhältnisse und ihrer Hauptursachen volle Anerkennung. Aber obwohl sie immer von neuem auf die gesundheitsschädlichen Einflüsse der Art und Weise, wie in den Fabriken Verfahren wird, hingewiesen haben, und der Ruf nach Einführung einer Fabrikinspektion, wie sie im übrigen Deutschland besieht, wiederholt ergangen ist, hat der Staat bisher in dieser Richtung noch nichts gethan. Besser als die Mäuner sehen die Mädchen aus, die in Fabriken beschäftigt werden. Man darf sie sich nicht als häßliche, nach Maschinenöl duftende, schmutzig und zerlumpt gekleidete Geschöpfe vorstellen. Sie sind durchweg reinlich angezogen. Besondre Sorgfalt verwenden sie auf ihre Frisur. Ein kokett aufgestülptes Häubchen schützt die Haare während der Arbeit vor den herumfliegenden Baumwollcnfascrn. Bei denen, deren Familien schon jahrelang dem Fabrikarbeiterstande angehören, machen sich allerdings Zeichen der physischen Entartung bemerkbar, welche zu lange Anspannung in schlechter Luft und zu geringe Nahrung hervorrufen müssen. Aber weniger ist dies der Fall bei solchen, die ihre erste Jugend noch draußen auf dem Lande verlebt haben, als ihre Eltern noch hinter dem Pfluge hergingen und den Dreschflegel schwangen. Ihnen hat die Hitze und der Dunst der Fabriksäle noch keine Blässe angekränkelt, sondern nur einen zarteren Teint gegeben, und das lange Stehen und der Mangel an Schlaf und sonstiger Erholung haben in Betreff ihrer körperlichen Entwicklung noch nicht zu Schlaffheit lind gebeugter Haltung geführt, sondern dem ehemaligen Landmädchen nur schlankere und zier¬ lichere Formen gegeben. Einen sehr widerlichen Anblick gewähren die Kinder.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/14>, abgerufen am 22.07.2024.