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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr.

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Die soziale Frage im Reichslande.

Der verderbliche Einfluß der Fabrikarbeit auf den weiblichen Organismus giebt
sich vornehmlich in der Anzahl der Totgeburten kund. In den Kantonen mit
Landwirtschaft treibender Bevölkerung betragen sie drei bis vier, in Mülhausen
fast sechs, in den Jndnstriedörfern des Amarinthales fast sieben und im Kanton
Schmerlach über acht Prozent der Geburten. Vor der Annexion verbesserte
der Arbeiter sein Einkommen vielfach dadurch, daß er seine Kinder schon im
zartesten Alter in die Fabrik schickte. Das deutsche Unterrichtsgesetz verbietet
ihm das jetzt; denn er darf sie nach demselben erst der Schule entziehen, wenn
sie das zwölfte Lebensjahr überschritten haben. Der Speisezettel des Arbeiters
lautet: früh Milchkaffee und Brot, mittags ein wenig Fleisch mit Kartoffeln oder
anderm Gemüse, abends wieder Milchkaffee und Kartoffeln. Die Beschaffenheit dieser
Kost kann kaum verringert werden. Höchstens kann statt Kuhfleisch Pferdefleisch
für das Mittagsmahl in Ansatz gebracht werden. Eine Minderung des Postens
im Budget ist nur hinsichtlich der Menge zu erreichen, und dazu giebt es ein
billiges Mittel: man täuscht sich über das Bedürfnis nach hinlänglicher Nahrung
durch Genuß von Schnaps hinweg, da Bier und Lnndwein zu teuer sind.
Hinsichtlich des Bezuges der Lebensmittel ist der Arbeiter an die Kleinkrämer
gewiesen, die fast alle Bedarfsartikel führen. Alles wird auf ein Buch geholt,
am Zahltage der Fabrik wird ein Teil der Schuld getilgt, der größere bleibt
stehen, und das giebt ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Schuldner in
Bezug auf Maß, Güte und Preis der Waare nicht mäkeln darf. Viel haben
dazu die in Elsässer Fabriken noch üblichen langen Zahlungsfristen beigetragen.
Tritt der Arbeiter ein. so muß er dem Arbeitgeber eine zwei- bis vierwöchent¬
liche Arbeitsleistung vorschießen. Meist mittellos, ist er dazu nur imstande,
wenn ihm der "Epicier" borgt, und so ergiebt sich gleich von Anfang an ein
Schuldverhültuis, das mau schwer wieder los wird. Nun haben sich allerdings
in der letzten Zeit zu Mülhausen und in dessen Umgebung mehrere Konsum¬
vereine gebildet, die gut gediehen sind und die Einlage mit zwölf bis sieb¬
zehn Prozent verzinsen. Diese beträgt aber vierzig Mark, das übersteigt die
Mittel der Fabrikarbeiter, und so beteiligen sich diese nur ausnahmsweise an
solchen Anstalten, ihre Mitglieder gehören viel mehr dem Stande der kleinen
Handwerker an.

Das Aussehen der Fabrikbevölkerung ist nach dem Vorhergehende" selbst¬
verständlich im großen und ganzen kein erfreuliches, und es füllt um so mehr
auf, wenn der Beobachter vor seine", Eintritts in die industriellen Gebiete des
Elsaß in denen gewesen ist, welche Landwirtschaft treiben. Man erkennt dann
deutlich, daß es nicht um dem alemannischen Stamme liegt, wenn die ober-
elsüssischen Arbeiter, namentlich die Spinner, Weber und Drucker, der großen
Mehrzahl nach einen sehr kümmerlichen Eindruck machen. Von der frischen,
gesunden Gesichtsfarbe, dem kräftigen, oft herkulischen Körperbau und der Wohl¬
genährtheit der Landleute, denen man dort begegnete, ist unter den Fabrik-


Die soziale Frage im Reichslande.

Der verderbliche Einfluß der Fabrikarbeit auf den weiblichen Organismus giebt
sich vornehmlich in der Anzahl der Totgeburten kund. In den Kantonen mit
Landwirtschaft treibender Bevölkerung betragen sie drei bis vier, in Mülhausen
fast sechs, in den Jndnstriedörfern des Amarinthales fast sieben und im Kanton
Schmerlach über acht Prozent der Geburten. Vor der Annexion verbesserte
der Arbeiter sein Einkommen vielfach dadurch, daß er seine Kinder schon im
zartesten Alter in die Fabrik schickte. Das deutsche Unterrichtsgesetz verbietet
ihm das jetzt; denn er darf sie nach demselben erst der Schule entziehen, wenn
sie das zwölfte Lebensjahr überschritten haben. Der Speisezettel des Arbeiters
lautet: früh Milchkaffee und Brot, mittags ein wenig Fleisch mit Kartoffeln oder
anderm Gemüse, abends wieder Milchkaffee und Kartoffeln. Die Beschaffenheit dieser
Kost kann kaum verringert werden. Höchstens kann statt Kuhfleisch Pferdefleisch
für das Mittagsmahl in Ansatz gebracht werden. Eine Minderung des Postens
im Budget ist nur hinsichtlich der Menge zu erreichen, und dazu giebt es ein
billiges Mittel: man täuscht sich über das Bedürfnis nach hinlänglicher Nahrung
durch Genuß von Schnaps hinweg, da Bier und Lnndwein zu teuer sind.
Hinsichtlich des Bezuges der Lebensmittel ist der Arbeiter an die Kleinkrämer
gewiesen, die fast alle Bedarfsartikel führen. Alles wird auf ein Buch geholt,
am Zahltage der Fabrik wird ein Teil der Schuld getilgt, der größere bleibt
stehen, und das giebt ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Schuldner in
Bezug auf Maß, Güte und Preis der Waare nicht mäkeln darf. Viel haben
dazu die in Elsässer Fabriken noch üblichen langen Zahlungsfristen beigetragen.
Tritt der Arbeiter ein. so muß er dem Arbeitgeber eine zwei- bis vierwöchent¬
liche Arbeitsleistung vorschießen. Meist mittellos, ist er dazu nur imstande,
wenn ihm der „Epicier" borgt, und so ergiebt sich gleich von Anfang an ein
Schuldverhültuis, das mau schwer wieder los wird. Nun haben sich allerdings
in der letzten Zeit zu Mülhausen und in dessen Umgebung mehrere Konsum¬
vereine gebildet, die gut gediehen sind und die Einlage mit zwölf bis sieb¬
zehn Prozent verzinsen. Diese beträgt aber vierzig Mark, das übersteigt die
Mittel der Fabrikarbeiter, und so beteiligen sich diese nur ausnahmsweise an
solchen Anstalten, ihre Mitglieder gehören viel mehr dem Stande der kleinen
Handwerker an.

Das Aussehen der Fabrikbevölkerung ist nach dem Vorhergehende» selbst¬
verständlich im großen und ganzen kein erfreuliches, und es füllt um so mehr
auf, wenn der Beobachter vor seine», Eintritts in die industriellen Gebiete des
Elsaß in denen gewesen ist, welche Landwirtschaft treiben. Man erkennt dann
deutlich, daß es nicht um dem alemannischen Stamme liegt, wenn die ober-
elsüssischen Arbeiter, namentlich die Spinner, Weber und Drucker, der großen
Mehrzahl nach einen sehr kümmerlichen Eindruck machen. Von der frischen,
gesunden Gesichtsfarbe, dem kräftigen, oft herkulischen Körperbau und der Wohl¬
genährtheit der Landleute, denen man dort begegnete, ist unter den Fabrik-


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[0013] Die soziale Frage im Reichslande. Der verderbliche Einfluß der Fabrikarbeit auf den weiblichen Organismus giebt sich vornehmlich in der Anzahl der Totgeburten kund. In den Kantonen mit Landwirtschaft treibender Bevölkerung betragen sie drei bis vier, in Mülhausen fast sechs, in den Jndnstriedörfern des Amarinthales fast sieben und im Kanton Schmerlach über acht Prozent der Geburten. Vor der Annexion verbesserte der Arbeiter sein Einkommen vielfach dadurch, daß er seine Kinder schon im zartesten Alter in die Fabrik schickte. Das deutsche Unterrichtsgesetz verbietet ihm das jetzt; denn er darf sie nach demselben erst der Schule entziehen, wenn sie das zwölfte Lebensjahr überschritten haben. Der Speisezettel des Arbeiters lautet: früh Milchkaffee und Brot, mittags ein wenig Fleisch mit Kartoffeln oder anderm Gemüse, abends wieder Milchkaffee und Kartoffeln. Die Beschaffenheit dieser Kost kann kaum verringert werden. Höchstens kann statt Kuhfleisch Pferdefleisch für das Mittagsmahl in Ansatz gebracht werden. Eine Minderung des Postens im Budget ist nur hinsichtlich der Menge zu erreichen, und dazu giebt es ein billiges Mittel: man täuscht sich über das Bedürfnis nach hinlänglicher Nahrung durch Genuß von Schnaps hinweg, da Bier und Lnndwein zu teuer sind. Hinsichtlich des Bezuges der Lebensmittel ist der Arbeiter an die Kleinkrämer gewiesen, die fast alle Bedarfsartikel führen. Alles wird auf ein Buch geholt, am Zahltage der Fabrik wird ein Teil der Schuld getilgt, der größere bleibt stehen, und das giebt ein Abhängigkeitsverhältnis, bei dem der Schuldner in Bezug auf Maß, Güte und Preis der Waare nicht mäkeln darf. Viel haben dazu die in Elsässer Fabriken noch üblichen langen Zahlungsfristen beigetragen. Tritt der Arbeiter ein. so muß er dem Arbeitgeber eine zwei- bis vierwöchent¬ liche Arbeitsleistung vorschießen. Meist mittellos, ist er dazu nur imstande, wenn ihm der „Epicier" borgt, und so ergiebt sich gleich von Anfang an ein Schuldverhültuis, das mau schwer wieder los wird. Nun haben sich allerdings in der letzten Zeit zu Mülhausen und in dessen Umgebung mehrere Konsum¬ vereine gebildet, die gut gediehen sind und die Einlage mit zwölf bis sieb¬ zehn Prozent verzinsen. Diese beträgt aber vierzig Mark, das übersteigt die Mittel der Fabrikarbeiter, und so beteiligen sich diese nur ausnahmsweise an solchen Anstalten, ihre Mitglieder gehören viel mehr dem Stande der kleinen Handwerker an. Das Aussehen der Fabrikbevölkerung ist nach dem Vorhergehende» selbst¬ verständlich im großen und ganzen kein erfreuliches, und es füllt um so mehr auf, wenn der Beobachter vor seine», Eintritts in die industriellen Gebiete des Elsaß in denen gewesen ist, welche Landwirtschaft treiben. Man erkennt dann deutlich, daß es nicht um dem alemannischen Stamme liegt, wenn die ober- elsüssischen Arbeiter, namentlich die Spinner, Weber und Drucker, der großen Mehrzahl nach einen sehr kümmerlichen Eindruck machen. Von der frischen, gesunden Gesichtsfarbe, dem kräftigen, oft herkulischen Körperbau und der Wohl¬ genährtheit der Landleute, denen man dort begegnete, ist unter den Fabrik-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_201428/13>, abgerufen am 22.07.2024.