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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Stammverwandtschaft und Waffenbrüderschaft mit England.

Entschädigung in einem andern Teile Europas anbieten und diese ihm nicht im
richtigen Verhältnis zu dem, was er verloren hat, zu stehen scheint, so kann
er sich nur beklagen, daß das Anerbieten ungenügend, nicht daß es ungerecht
sei. Es muß endlich bemerkt werden, daß die Sprache, welche der König von
Sachsen führt, um sein Verhalten zu verteidigen, der Art ist, daß der Befehls¬
haber einer Festung, der ähnlich spräche, Gefahr liefe, kriegsrechtlich erschossen
zu werden."

Und der Mann, der im Oktober dies geschrieben hatte, schlug, noch ehe
das Jahr zu Ende gegangen war, ein bewaffnetes Bündnis zwischen England,
Frankreich und Osterreich vor, das auch für Baiern und die andern Rheinbündlcr
offen gehalten werden sollte. Am 3. Januar 1816 wurde der Vertrag zwischen
den drei zuerst genannten im Geheimen unterzeichnet. Er besagt in der Haupt¬
sache, daß jeder der vertragschließenden Teile sich darauf einrichten werde, dem¬
jenigen von ihnen, der etwa angegriffen würde, binnen sechs Wochen 120000
Mann zu Hilfe zu schicken, wobei England sich vorbehält, Soldtruppen zu
stellen oder anstatt eines Jnfanteristen zwanzig Pfund, anstatt eines Reiters
dreißig Pfund zu zahlen. Der Vertrag ist im Eingange motivirt durch
"neuerdings kundgegebene Prätensionen," die nicht näher bezeichnet werden, und
nennt sich defensiv. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß Talleyrand
darauf rechnete, das Bündnis, nachdem ihm so vieles gelungen war, in ein
offensives gegen Preußen zu verwandeln; hatte er doch schon lange vorher in
den König gedrungen, das Heer zu Verstürken und kriegsbereit zu machen, auch
befriedigende Antwort aus Paris erhalten.

Man traut seinen Augen nicht bei dem Anblick, daß der Vertreter Eng¬
lands, das zwanzig Jahre gegen Napoleon Krieg geführt hatte, die Hand dazu
bietet, daß 120 000 Maun französische Truppen zwar mit der weißen Kokarde
am Kopfe, aber, wie sich drei Monate später zeigte, mit Napoleon im Herzen
gegen Preußen zu Felde ziehen sollten. Wie war er dazu gebracht worden?
Zunächst durch eine Einblasung -- eigne Gedanken hatte er nicht --, die ihm
gemacht worden sein muß, unmittelbar, nachdem er den oben auszugsweise mit¬
geteilten Brief an Hardenberg geschrieben hatte. Hardenberg verlangt am
10. Oktober die Zustimmung Castlereaghs dazu, daß Sachsen, was von den
Russen besetzt war, vou Preußen provisorisch in Verwaltung genommen werde.
Der Engländer antwortet am 11.: "Es giebt in Betreff der europäischen Politik
keinen Grundsatz, dem ich mehr Wichtigkeit beilegte als der substanziellen
Wiederherstellung Preußens. Die rühmlichen Dienste, welche es in dem letzten
Kriege geleistet hat, geben ihm die hervorragendsten Rechte auf unsre Dank¬
barkeit ; aber ein noch stärkerer Beweggrund liegt in der Notwendigkeit, Preußen
als die einzige feste Grundlage zu betrachten für jede denkbare Anordnung zur
Sicherung Norddeutschlands gegen die sehr großen Gefahren, die es bedrohen
könnten. In einer solchen Krisis müssen wir über Preußen wachen. Mit


Stammverwandtschaft und Waffenbrüderschaft mit England.

Entschädigung in einem andern Teile Europas anbieten und diese ihm nicht im
richtigen Verhältnis zu dem, was er verloren hat, zu stehen scheint, so kann
er sich nur beklagen, daß das Anerbieten ungenügend, nicht daß es ungerecht
sei. Es muß endlich bemerkt werden, daß die Sprache, welche der König von
Sachsen führt, um sein Verhalten zu verteidigen, der Art ist, daß der Befehls¬
haber einer Festung, der ähnlich spräche, Gefahr liefe, kriegsrechtlich erschossen
zu werden."

Und der Mann, der im Oktober dies geschrieben hatte, schlug, noch ehe
das Jahr zu Ende gegangen war, ein bewaffnetes Bündnis zwischen England,
Frankreich und Osterreich vor, das auch für Baiern und die andern Rheinbündlcr
offen gehalten werden sollte. Am 3. Januar 1816 wurde der Vertrag zwischen
den drei zuerst genannten im Geheimen unterzeichnet. Er besagt in der Haupt¬
sache, daß jeder der vertragschließenden Teile sich darauf einrichten werde, dem¬
jenigen von ihnen, der etwa angegriffen würde, binnen sechs Wochen 120000
Mann zu Hilfe zu schicken, wobei England sich vorbehält, Soldtruppen zu
stellen oder anstatt eines Jnfanteristen zwanzig Pfund, anstatt eines Reiters
dreißig Pfund zu zahlen. Der Vertrag ist im Eingange motivirt durch
„neuerdings kundgegebene Prätensionen," die nicht näher bezeichnet werden, und
nennt sich defensiv. Es kann aber keinem Zweifel unterliegen, daß Talleyrand
darauf rechnete, das Bündnis, nachdem ihm so vieles gelungen war, in ein
offensives gegen Preußen zu verwandeln; hatte er doch schon lange vorher in
den König gedrungen, das Heer zu Verstürken und kriegsbereit zu machen, auch
befriedigende Antwort aus Paris erhalten.

Man traut seinen Augen nicht bei dem Anblick, daß der Vertreter Eng¬
lands, das zwanzig Jahre gegen Napoleon Krieg geführt hatte, die Hand dazu
bietet, daß 120 000 Maun französische Truppen zwar mit der weißen Kokarde
am Kopfe, aber, wie sich drei Monate später zeigte, mit Napoleon im Herzen
gegen Preußen zu Felde ziehen sollten. Wie war er dazu gebracht worden?
Zunächst durch eine Einblasung — eigne Gedanken hatte er nicht —, die ihm
gemacht worden sein muß, unmittelbar, nachdem er den oben auszugsweise mit¬
geteilten Brief an Hardenberg geschrieben hatte. Hardenberg verlangt am
10. Oktober die Zustimmung Castlereaghs dazu, daß Sachsen, was von den
Russen besetzt war, vou Preußen provisorisch in Verwaltung genommen werde.
Der Engländer antwortet am 11.: „Es giebt in Betreff der europäischen Politik
keinen Grundsatz, dem ich mehr Wichtigkeit beilegte als der substanziellen
Wiederherstellung Preußens. Die rühmlichen Dienste, welche es in dem letzten
Kriege geleistet hat, geben ihm die hervorragendsten Rechte auf unsre Dank¬
barkeit ; aber ein noch stärkerer Beweggrund liegt in der Notwendigkeit, Preußen
als die einzige feste Grundlage zu betrachten für jede denkbare Anordnung zur
Sicherung Norddeutschlands gegen die sehr großen Gefahren, die es bedrohen
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/558>, abgerufen am 23.07.2024.