Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Hans Pöhnls Volksbühnenspiele.

faßte zuerst den Begriff von Volkspoesie und von Volk als geistiger Einheit
überhaupt; nach ihm kamen die Romantiker mit ihrer schwärmerischen Liebe der
deutschen Vergangenheit, und aus ihren Kreisen erwuchs die Germanistik: un¬
mittelbar eine Schöpfung Jakob Grimms, die seitdem auf allen deutschen Hoch¬
schulen gepflegt wird.

Man kann also jetzt sagen, die Deutschen sind eine Nation, sie haben ein
Nationalgefühl, sie haben ein Nationalbewußtsein. Wohl darf man mit der
Sicherheit dieses Gefühls noch nicht allzugroß thun, wohl wird es noch Arbeit
genug kosten, es zu befestigen, es zu läutern, auf daß es das Volk so warm
und belebend wie das gesunde Blut den Leib des Einzelnen durchströme. Aber
Gottlob, es ist da, der Deutsche fühlt sich überall klar als Deutscher und be¬
harrt darauf.

Haben wir Deutsche aber auch ein Nattonaltheater? Diese Frage wirst
Hans Pöhnl in seinem sehr kuriosen Vorwort zu den Volksbühnenspielen auf,
die er kürzlich herausgegeben hat.*)

Es ist in der letzten Zeit sehr viel vom Theater die Rede gewesen. In
den hervorragendsten Theaterstädten, in Wien und Berlin, sind wichtige Ver¬
änderungen vorgegangen: alte Theater sind verschwunden, neue sind erstanden,
alte Direktoren sind abgetreten, neue sind aufgetreten. Da regt sich die Theater¬
lust, dort ist sie im Schwinden, hier gedeihen die Bühnen, dort vegetiren sie.
Auch im Geschmack sind Veränderungen vorgegangen: die niedere Gattung von
Bühnenwerken gewinnt das Oberwasser, Operette und Ausstattungsstück herrschen,
und die Produktion der edleren Werke, des feinen Lustspiels, des ernsten Dramas
ist ins Stocken geraten. Nur um die alltäglichen Bedürfnisse des Publikums
zu befriedigen, holte man wieder die Werke der klassischen Literaturen hervor.
In Berlin wurde Schiller neu inszenirt, in Wien wurden Sophokles und Cal-
deron zu Hilfe gerufen, und man machte gute Geschäfte dabei. Überall ein
reges Leben, ein unablässiges Grübeln und Trachten, die Forderungen der Zeit
zu befriedigen, und überall daher lebhafte Debatten, in welche Berufene und
Unberufene eingreifen, Streber, die bei solchen Gelegenheiten sich durch ein recht
ungewaschenes Maul "ohne Schminke" bemerkbar zu machen suchen, ideale
Schwärmer, welchen die Not der Zeit die seltsamsten Einfälle eingiebt, für die
sie, ohne zu überzeugen, Propaganda machen. So ist die Frage des deutschen
Theaters wieder auf der literarischen Tagesordnung, und es wird niemand
behaupten können, daß in Deutschland kein Interesse fürs Theater vorhanden sei.

Die Frage jedoch, welche Pöhnl auswirft: "Haben wir ein National¬
theater?" -- diese Frage hat die andern nicht beschäftigt. Allen ist es zunächst
um die Befriedigung praktischer Bedürfntsfe zu thun: es fehlt uns an guten



*) Deutsche Volksbühnenspiele von Hans Pöhnl. Zwei Bände. Wien, Karl
Konegen, 1337.
Hans Pöhnls Volksbühnenspiele.

faßte zuerst den Begriff von Volkspoesie und von Volk als geistiger Einheit
überhaupt; nach ihm kamen die Romantiker mit ihrer schwärmerischen Liebe der
deutschen Vergangenheit, und aus ihren Kreisen erwuchs die Germanistik: un¬
mittelbar eine Schöpfung Jakob Grimms, die seitdem auf allen deutschen Hoch¬
schulen gepflegt wird.

Man kann also jetzt sagen, die Deutschen sind eine Nation, sie haben ein
Nationalgefühl, sie haben ein Nationalbewußtsein. Wohl darf man mit der
Sicherheit dieses Gefühls noch nicht allzugroß thun, wohl wird es noch Arbeit
genug kosten, es zu befestigen, es zu läutern, auf daß es das Volk so warm
und belebend wie das gesunde Blut den Leib des Einzelnen durchströme. Aber
Gottlob, es ist da, der Deutsche fühlt sich überall klar als Deutscher und be¬
harrt darauf.

Haben wir Deutsche aber auch ein Nattonaltheater? Diese Frage wirst
Hans Pöhnl in seinem sehr kuriosen Vorwort zu den Volksbühnenspielen auf,
die er kürzlich herausgegeben hat.*)

Es ist in der letzten Zeit sehr viel vom Theater die Rede gewesen. In
den hervorragendsten Theaterstädten, in Wien und Berlin, sind wichtige Ver¬
änderungen vorgegangen: alte Theater sind verschwunden, neue sind erstanden,
alte Direktoren sind abgetreten, neue sind aufgetreten. Da regt sich die Theater¬
lust, dort ist sie im Schwinden, hier gedeihen die Bühnen, dort vegetiren sie.
Auch im Geschmack sind Veränderungen vorgegangen: die niedere Gattung von
Bühnenwerken gewinnt das Oberwasser, Operette und Ausstattungsstück herrschen,
und die Produktion der edleren Werke, des feinen Lustspiels, des ernsten Dramas
ist ins Stocken geraten. Nur um die alltäglichen Bedürfnisse des Publikums
zu befriedigen, holte man wieder die Werke der klassischen Literaturen hervor.
In Berlin wurde Schiller neu inszenirt, in Wien wurden Sophokles und Cal-
deron zu Hilfe gerufen, und man machte gute Geschäfte dabei. Überall ein
reges Leben, ein unablässiges Grübeln und Trachten, die Forderungen der Zeit
zu befriedigen, und überall daher lebhafte Debatten, in welche Berufene und
Unberufene eingreifen, Streber, die bei solchen Gelegenheiten sich durch ein recht
ungewaschenes Maul „ohne Schminke" bemerkbar zu machen suchen, ideale
Schwärmer, welchen die Not der Zeit die seltsamsten Einfälle eingiebt, für die
sie, ohne zu überzeugen, Propaganda machen. So ist die Frage des deutschen
Theaters wieder auf der literarischen Tagesordnung, und es wird niemand
behaupten können, daß in Deutschland kein Interesse fürs Theater vorhanden sei.

Die Frage jedoch, welche Pöhnl auswirft: „Haben wir ein National¬
theater?" — diese Frage hat die andern nicht beschäftigt. Allen ist es zunächst
um die Befriedigung praktischer Bedürfntsfe zu thun: es fehlt uns an guten



*) Deutsche Volksbühnenspiele von Hans Pöhnl. Zwei Bände. Wien, Karl
Konegen, 1337.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0540" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/201319"/>
          <fw type="header" place="top"> Hans Pöhnls Volksbühnenspiele.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1788" prev="#ID_1787"> faßte zuerst den Begriff von Volkspoesie und von Volk als geistiger Einheit<lb/>
überhaupt; nach ihm kamen die Romantiker mit ihrer schwärmerischen Liebe der<lb/>
deutschen Vergangenheit, und aus ihren Kreisen erwuchs die Germanistik: un¬<lb/>
mittelbar eine Schöpfung Jakob Grimms, die seitdem auf allen deutschen Hoch¬<lb/>
schulen gepflegt wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1789"> Man kann also jetzt sagen, die Deutschen sind eine Nation, sie haben ein<lb/>
Nationalgefühl, sie haben ein Nationalbewußtsein. Wohl darf man mit der<lb/>
Sicherheit dieses Gefühls noch nicht allzugroß thun, wohl wird es noch Arbeit<lb/>
genug kosten, es zu befestigen, es zu läutern, auf daß es das Volk so warm<lb/>
und belebend wie das gesunde Blut den Leib des Einzelnen durchströme. Aber<lb/>
Gottlob, es ist da, der Deutsche fühlt sich überall klar als Deutscher und be¬<lb/>
harrt darauf.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1790"> Haben wir Deutsche aber auch ein Nattonaltheater? Diese Frage wirst<lb/>
Hans Pöhnl in seinem sehr kuriosen Vorwort zu den Volksbühnenspielen auf,<lb/>
die er kürzlich herausgegeben hat.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1791"> Es ist in der letzten Zeit sehr viel vom Theater die Rede gewesen. In<lb/>
den hervorragendsten Theaterstädten, in Wien und Berlin, sind wichtige Ver¬<lb/>
änderungen vorgegangen: alte Theater sind verschwunden, neue sind erstanden,<lb/>
alte Direktoren sind abgetreten, neue sind aufgetreten. Da regt sich die Theater¬<lb/>
lust, dort ist sie im Schwinden, hier gedeihen die Bühnen, dort vegetiren sie.<lb/>
Auch im Geschmack sind Veränderungen vorgegangen: die niedere Gattung von<lb/>
Bühnenwerken gewinnt das Oberwasser, Operette und Ausstattungsstück herrschen,<lb/>
und die Produktion der edleren Werke, des feinen Lustspiels, des ernsten Dramas<lb/>
ist ins Stocken geraten. Nur um die alltäglichen Bedürfnisse des Publikums<lb/>
zu befriedigen, holte man wieder die Werke der klassischen Literaturen hervor.<lb/>
In Berlin wurde Schiller neu inszenirt, in Wien wurden Sophokles und Cal-<lb/>
deron zu Hilfe gerufen, und man machte gute Geschäfte dabei. Überall ein<lb/>
reges Leben, ein unablässiges Grübeln und Trachten, die Forderungen der Zeit<lb/>
zu befriedigen, und überall daher lebhafte Debatten, in welche Berufene und<lb/>
Unberufene eingreifen, Streber, die bei solchen Gelegenheiten sich durch ein recht<lb/>
ungewaschenes Maul &#x201E;ohne Schminke" bemerkbar zu machen suchen, ideale<lb/>
Schwärmer, welchen die Not der Zeit die seltsamsten Einfälle eingiebt, für die<lb/>
sie, ohne zu überzeugen, Propaganda machen. So ist die Frage des deutschen<lb/>
Theaters wieder auf der literarischen Tagesordnung, und es wird niemand<lb/>
behaupten können, daß in Deutschland kein Interesse fürs Theater vorhanden sei.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1792" next="#ID_1793"> Die Frage jedoch, welche Pöhnl auswirft: &#x201E;Haben wir ein National¬<lb/>
theater?" &#x2014; diese Frage hat die andern nicht beschäftigt. Allen ist es zunächst<lb/>
um die Befriedigung praktischer Bedürfntsfe zu thun: es fehlt uns an guten</p><lb/>
          <note xml:id="FID_51" place="foot"> *) Deutsche Volksbühnenspiele von Hans Pöhnl. Zwei Bände. Wien, Karl<lb/>
Konegen, 1337.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0540] Hans Pöhnls Volksbühnenspiele. faßte zuerst den Begriff von Volkspoesie und von Volk als geistiger Einheit überhaupt; nach ihm kamen die Romantiker mit ihrer schwärmerischen Liebe der deutschen Vergangenheit, und aus ihren Kreisen erwuchs die Germanistik: un¬ mittelbar eine Schöpfung Jakob Grimms, die seitdem auf allen deutschen Hoch¬ schulen gepflegt wird. Man kann also jetzt sagen, die Deutschen sind eine Nation, sie haben ein Nationalgefühl, sie haben ein Nationalbewußtsein. Wohl darf man mit der Sicherheit dieses Gefühls noch nicht allzugroß thun, wohl wird es noch Arbeit genug kosten, es zu befestigen, es zu läutern, auf daß es das Volk so warm und belebend wie das gesunde Blut den Leib des Einzelnen durchströme. Aber Gottlob, es ist da, der Deutsche fühlt sich überall klar als Deutscher und be¬ harrt darauf. Haben wir Deutsche aber auch ein Nattonaltheater? Diese Frage wirst Hans Pöhnl in seinem sehr kuriosen Vorwort zu den Volksbühnenspielen auf, die er kürzlich herausgegeben hat.*) Es ist in der letzten Zeit sehr viel vom Theater die Rede gewesen. In den hervorragendsten Theaterstädten, in Wien und Berlin, sind wichtige Ver¬ änderungen vorgegangen: alte Theater sind verschwunden, neue sind erstanden, alte Direktoren sind abgetreten, neue sind aufgetreten. Da regt sich die Theater¬ lust, dort ist sie im Schwinden, hier gedeihen die Bühnen, dort vegetiren sie. Auch im Geschmack sind Veränderungen vorgegangen: die niedere Gattung von Bühnenwerken gewinnt das Oberwasser, Operette und Ausstattungsstück herrschen, und die Produktion der edleren Werke, des feinen Lustspiels, des ernsten Dramas ist ins Stocken geraten. Nur um die alltäglichen Bedürfnisse des Publikums zu befriedigen, holte man wieder die Werke der klassischen Literaturen hervor. In Berlin wurde Schiller neu inszenirt, in Wien wurden Sophokles und Cal- deron zu Hilfe gerufen, und man machte gute Geschäfte dabei. Überall ein reges Leben, ein unablässiges Grübeln und Trachten, die Forderungen der Zeit zu befriedigen, und überall daher lebhafte Debatten, in welche Berufene und Unberufene eingreifen, Streber, die bei solchen Gelegenheiten sich durch ein recht ungewaschenes Maul „ohne Schminke" bemerkbar zu machen suchen, ideale Schwärmer, welchen die Not der Zeit die seltsamsten Einfälle eingiebt, für die sie, ohne zu überzeugen, Propaganda machen. So ist die Frage des deutschen Theaters wieder auf der literarischen Tagesordnung, und es wird niemand behaupten können, daß in Deutschland kein Interesse fürs Theater vorhanden sei. Die Frage jedoch, welche Pöhnl auswirft: „Haben wir ein National¬ theater?" — diese Frage hat die andern nicht beschäftigt. Allen ist es zunächst um die Befriedigung praktischer Bedürfntsfe zu thun: es fehlt uns an guten *) Deutsche Volksbühnenspiele von Hans Pöhnl. Zwei Bände. Wien, Karl Konegen, 1337.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/540
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/540>, abgerufen am 25.08.2024.