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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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malen Charakter aufgegeben zu haben, alle Formen der Darstellung mit der¬
selben Leichtigkeit und sprechenden Lebendigkeit, wie die Künstler romanischer
Rasse. Was ihr daneben an Ernst und Tiefe oder, wie die Fremden sagen, an
Schwerfälligkeit und Pedanterie geblieben ist, ist eben das Nationale. Während
noch vor zehn Jahren auf unsern öffentlichen Ausstellungen das Verhältnis
von dilettantischen oder doch technisch ungeschickten und reizlosen Arbeiten zu
einwandsfreien, nicht am Stoffe klebenden Schöpfungen wie 10:1 war, sind
diese Zahlen jetzt umzukehren. Das setzt eine gewaltige Summe von Energie
und Thätigkeit voraus, die umso höher zu schätzen ist, als die Sicherheit der
formalen Darstellung auf jedem Gebiete der Kunst die notwendige Grund¬
bedingung zu einer neuen geistigen Erhebung ist. In einem Jahrzehnt ist er¬
rungen worden, was man fünfzig Jahre lang -- meist geflissentlich -- vernach¬
lässigt und als nebensächlich betrachtet hatte.

Die Berliner Ausstellung von 1887 legt für diese günstige Wendung ein
sehr umfassendes Zeugnis ab, und sie hat nach dieser Richtung in der Geschichte
der neueren deutschen Kunst, soweit diese aus dem von Ausstellungen gelieferten
Material aufgebaut werden kann, eine erheblich größere Bedeutung als die
äußerlich glänzendere Generalversammlung des vorigen Jahres. Ob es nur
Zufall oder Absicht Vonseiten der deutschen Künstler war, daß der Schwerpunkt
auf die Schöpfungen der Vergangenheit siel, wird sich schwerlich feststellen
lassen. Soviel ist aber sicher, daß die deutsche Kunst im allgemeinen durch die
mit größerer oder geringerer Sorgfalt, aber doch meist mit feiner Über¬
legung zusammengebrachten Einzelausstellungen fremder Nationen verdunkelt
oder doch stark beeinträchtigt worden ist, und daß die neueste deutsche
Kunst im besondern nicht so vertreten war, daß ihre Bedeutung und ihr
wirkliches Aussehen nach dem vorhandenen Material hätte erkannt werden
können. Diejenigen, welche sich durch das äußere Gepräge der Jubiläums¬
ausstellung und durch die für deutsche Verhältnisse ungeheure Masse des Ge¬
botenen nicht haben blenden lassen, sind nicht im Unrecht, wenn sie sagen, daß
sich von 3500 Kunstwerken etwa ein Dutzend dauernd ihrer Erinnerung ein¬
geprägt habe.

Wir wollen nun keineswegs behaupten, daß der bleibende Kunstgewinn aus
dieser Ausstellung ein größerer sei. Aber in ihrer Beschränkung auf die deutsche
Künstlerschaft bietet sie nicht nur eine Reihe von Charakterzügen, aus denen
sich ein ziemlich treues Bild der gegenwärtigen deutschen Kunst herstellen läßt,
sondern sie giebt auch die Ziele zu erkennen, aus die unsre Kunst losstrebt.
Der Weg, der zu diesen Zielen führt, ist mit Steinen bestreut und mit Dornen
besetzt. Er hat auch Seitenpfade, welche in die Irre führen, und selbst die
Tapfersten werden sich noch oft den Fuß verstauchen und das Kleid zerreißen,
ehe sie zum Ziele gelangen. Auch die unbefangenen Zuschauer, die Unbeteiligten
an dem Wettkampfe wissen nicht, ob dieses Ziel das richtige, ob es der auf-


Grenzboten III. 1837. 61

malen Charakter aufgegeben zu haben, alle Formen der Darstellung mit der¬
selben Leichtigkeit und sprechenden Lebendigkeit, wie die Künstler romanischer
Rasse. Was ihr daneben an Ernst und Tiefe oder, wie die Fremden sagen, an
Schwerfälligkeit und Pedanterie geblieben ist, ist eben das Nationale. Während
noch vor zehn Jahren auf unsern öffentlichen Ausstellungen das Verhältnis
von dilettantischen oder doch technisch ungeschickten und reizlosen Arbeiten zu
einwandsfreien, nicht am Stoffe klebenden Schöpfungen wie 10:1 war, sind
diese Zahlen jetzt umzukehren. Das setzt eine gewaltige Summe von Energie
und Thätigkeit voraus, die umso höher zu schätzen ist, als die Sicherheit der
formalen Darstellung auf jedem Gebiete der Kunst die notwendige Grund¬
bedingung zu einer neuen geistigen Erhebung ist. In einem Jahrzehnt ist er¬
rungen worden, was man fünfzig Jahre lang — meist geflissentlich — vernach¬
lässigt und als nebensächlich betrachtet hatte.

Die Berliner Ausstellung von 1887 legt für diese günstige Wendung ein
sehr umfassendes Zeugnis ab, und sie hat nach dieser Richtung in der Geschichte
der neueren deutschen Kunst, soweit diese aus dem von Ausstellungen gelieferten
Material aufgebaut werden kann, eine erheblich größere Bedeutung als die
äußerlich glänzendere Generalversammlung des vorigen Jahres. Ob es nur
Zufall oder Absicht Vonseiten der deutschen Künstler war, daß der Schwerpunkt
auf die Schöpfungen der Vergangenheit siel, wird sich schwerlich feststellen
lassen. Soviel ist aber sicher, daß die deutsche Kunst im allgemeinen durch die
mit größerer oder geringerer Sorgfalt, aber doch meist mit feiner Über¬
legung zusammengebrachten Einzelausstellungen fremder Nationen verdunkelt
oder doch stark beeinträchtigt worden ist, und daß die neueste deutsche
Kunst im besondern nicht so vertreten war, daß ihre Bedeutung und ihr
wirkliches Aussehen nach dem vorhandenen Material hätte erkannt werden
können. Diejenigen, welche sich durch das äußere Gepräge der Jubiläums¬
ausstellung und durch die für deutsche Verhältnisse ungeheure Masse des Ge¬
botenen nicht haben blenden lassen, sind nicht im Unrecht, wenn sie sagen, daß
sich von 3500 Kunstwerken etwa ein Dutzend dauernd ihrer Erinnerung ein¬
geprägt habe.

Wir wollen nun keineswegs behaupten, daß der bleibende Kunstgewinn aus
dieser Ausstellung ein größerer sei. Aber in ihrer Beschränkung auf die deutsche
Künstlerschaft bietet sie nicht nur eine Reihe von Charakterzügen, aus denen
sich ein ziemlich treues Bild der gegenwärtigen deutschen Kunst herstellen läßt,
sondern sie giebt auch die Ziele zu erkennen, aus die unsre Kunst losstrebt.
Der Weg, der zu diesen Zielen führt, ist mit Steinen bestreut und mit Dornen
besetzt. Er hat auch Seitenpfade, welche in die Irre führen, und selbst die
Tapfersten werden sich noch oft den Fuß verstauchen und das Kleid zerreißen,
ehe sie zum Ziele gelangen. Auch die unbefangenen Zuschauer, die Unbeteiligten
an dem Wettkampfe wissen nicht, ob dieses Ziel das richtige, ob es der auf-


Grenzboten III. 1837. 61
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[0489] malen Charakter aufgegeben zu haben, alle Formen der Darstellung mit der¬ selben Leichtigkeit und sprechenden Lebendigkeit, wie die Künstler romanischer Rasse. Was ihr daneben an Ernst und Tiefe oder, wie die Fremden sagen, an Schwerfälligkeit und Pedanterie geblieben ist, ist eben das Nationale. Während noch vor zehn Jahren auf unsern öffentlichen Ausstellungen das Verhältnis von dilettantischen oder doch technisch ungeschickten und reizlosen Arbeiten zu einwandsfreien, nicht am Stoffe klebenden Schöpfungen wie 10:1 war, sind diese Zahlen jetzt umzukehren. Das setzt eine gewaltige Summe von Energie und Thätigkeit voraus, die umso höher zu schätzen ist, als die Sicherheit der formalen Darstellung auf jedem Gebiete der Kunst die notwendige Grund¬ bedingung zu einer neuen geistigen Erhebung ist. In einem Jahrzehnt ist er¬ rungen worden, was man fünfzig Jahre lang — meist geflissentlich — vernach¬ lässigt und als nebensächlich betrachtet hatte. Die Berliner Ausstellung von 1887 legt für diese günstige Wendung ein sehr umfassendes Zeugnis ab, und sie hat nach dieser Richtung in der Geschichte der neueren deutschen Kunst, soweit diese aus dem von Ausstellungen gelieferten Material aufgebaut werden kann, eine erheblich größere Bedeutung als die äußerlich glänzendere Generalversammlung des vorigen Jahres. Ob es nur Zufall oder Absicht Vonseiten der deutschen Künstler war, daß der Schwerpunkt auf die Schöpfungen der Vergangenheit siel, wird sich schwerlich feststellen lassen. Soviel ist aber sicher, daß die deutsche Kunst im allgemeinen durch die mit größerer oder geringerer Sorgfalt, aber doch meist mit feiner Über¬ legung zusammengebrachten Einzelausstellungen fremder Nationen verdunkelt oder doch stark beeinträchtigt worden ist, und daß die neueste deutsche Kunst im besondern nicht so vertreten war, daß ihre Bedeutung und ihr wirkliches Aussehen nach dem vorhandenen Material hätte erkannt werden können. Diejenigen, welche sich durch das äußere Gepräge der Jubiläums¬ ausstellung und durch die für deutsche Verhältnisse ungeheure Masse des Ge¬ botenen nicht haben blenden lassen, sind nicht im Unrecht, wenn sie sagen, daß sich von 3500 Kunstwerken etwa ein Dutzend dauernd ihrer Erinnerung ein¬ geprägt habe. Wir wollen nun keineswegs behaupten, daß der bleibende Kunstgewinn aus dieser Ausstellung ein größerer sei. Aber in ihrer Beschränkung auf die deutsche Künstlerschaft bietet sie nicht nur eine Reihe von Charakterzügen, aus denen sich ein ziemlich treues Bild der gegenwärtigen deutschen Kunst herstellen läßt, sondern sie giebt auch die Ziele zu erkennen, aus die unsre Kunst losstrebt. Der Weg, der zu diesen Zielen führt, ist mit Steinen bestreut und mit Dornen besetzt. Er hat auch Seitenpfade, welche in die Irre führen, und selbst die Tapfersten werden sich noch oft den Fuß verstauchen und das Kleid zerreißen, ehe sie zum Ziele gelangen. Auch die unbefangenen Zuschauer, die Unbeteiligten an dem Wettkampfe wissen nicht, ob dieses Ziel das richtige, ob es der auf- Grenzboten III. 1837. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/489>, abgerufen am 03.07.2024.