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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums.

muß, die häusliche Arbeit wenig oder nichts zu leisten hat. Wo aber dieser
Unterricht die Höhe einnimmt, die er einnehmen kann und soll, da ist er, was
seinen Wert anlangt, nichts Nebensächliches, sondern von der größten Bedeutung.'
Er steht als Bildungsmittel geradezu neben den alten Sprachen. Man weist
vielfach jetzt der Mathematik diese Stellung zu; aber das entspricht nicht dem
innersten Wesen des Gymnasiums. Für dieses sind mir die mathematischen
Grundlagen, weil und soweit sie zur allgemeine" Bildung gehörig sind, zu
geben, mehr nicht. In Prima sollte darum der mathematische Unterricht nicht
mehr "obligatorisch," sondern nur "fakultativ" sein. Denn erstens hat die Be¬
merkung, die der große Geschichtsschreiber Gibbon in seinem I-lig über seiue
mathematischen Studien machte, wenn er sagt: "Ich kann keineswegs beklagen,
daß ich von den mathematischen Studien abstand (etwa im siebzehnten Jahre),
bevor meine Seele durch die Gewohnheit strenger Beweisführung verhärtete,
die so gefährlich für die feineren Gefühle moralischer Evidenz ist, welche doch
die Handlungen und Meinungen unsers Lebens bestimmen müssen" -- diese
Bemerkung hat insofern eine für die Erziehung allgemeine Giltigkeit, als ja
die Mathematik auf dem Gymnasium überhaupt nur eine formal bildende Kraft
hat und haben soll; und sodann sind, wie die Erfahrung lehrt, die meisten von
den Schülern, die das Gymnasium bis zur Prima gefördert hat, gerade nicht
sonderlich mit der Anlage für das mathematische Fach ausgerüstet. Die mathe¬
matisch begabten Schüler suchen meist die Realschule auf. Wegen dieses häufig
vorkommenden Mangels an mathematischen Anlagen bei den sonst tüchtigste"
Schülern tritt oft das manchen verblüffende, aber im Grunde sehr erklärliche
Ergebnis zu Tage, daß, je weiter in der Prima mit der Mathematik fortge¬
schritten wird, desto verwirrter die Köpfe vieler auf diesem Gebiete werden.
Erklärlich ist das. In dem Alter, in welchem die größere Anzahl der Primaner
steht, taugt es nicht mehr, deu Geist mit einer Arbeit zu beladen, die heterogen
mit der Anlage ist. Es wird das aber vielfach verkannt oder nicht zugestanden,,
besonders von den mathematischen Lehrern selbst. Sie empfinden bei diesem
Urteil so, als ob darin für ihre Wissenschaft eine Geringschätzung läge, woran
kein Mensch denkt und denken kann. Denn die Mathematik und die Natur¬
wissenschaften, die ohne sie nichts sind, sind in unsrer heutigen Welt die "iArm-
tnrg, tonixoris. Wer wollte da so thöricht sein und gering von einer Wissen¬
schaft denken, die die Zeit beherrscht! Er spräche sich selbst das Urteil. Aber
etwas andres ist die Frage, ob sie in die oberste Klasse des Gymnasiums als
"obligatorischer" Unterrichtsgegenstand paßt. Das ist zu bestreiten. "Fakul¬
tativ" aber muß sie allerdings gelehrt werde" in der Prima des Gymnasiums.
Denn das Gymnasium muß denen, die dieses Fach und was damit zusammen¬
hängt, das Gebiet der Naturwissenschaften, später zum Bernfsstudium erwähle"
wollen, die für die Universität nötige Vorbereitung bieten, gerade so, wie es sie
dem Theologen mit dein Hebräischen, dem Neuphilologen mit dem Englischen bietet.


Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums.

muß, die häusliche Arbeit wenig oder nichts zu leisten hat. Wo aber dieser
Unterricht die Höhe einnimmt, die er einnehmen kann und soll, da ist er, was
seinen Wert anlangt, nichts Nebensächliches, sondern von der größten Bedeutung.'
Er steht als Bildungsmittel geradezu neben den alten Sprachen. Man weist
vielfach jetzt der Mathematik diese Stellung zu; aber das entspricht nicht dem
innersten Wesen des Gymnasiums. Für dieses sind mir die mathematischen
Grundlagen, weil und soweit sie zur allgemeine» Bildung gehörig sind, zu
geben, mehr nicht. In Prima sollte darum der mathematische Unterricht nicht
mehr „obligatorisch," sondern nur „fakultativ" sein. Denn erstens hat die Be¬
merkung, die der große Geschichtsschreiber Gibbon in seinem I-lig über seiue
mathematischen Studien machte, wenn er sagt: „Ich kann keineswegs beklagen,
daß ich von den mathematischen Studien abstand (etwa im siebzehnten Jahre),
bevor meine Seele durch die Gewohnheit strenger Beweisführung verhärtete,
die so gefährlich für die feineren Gefühle moralischer Evidenz ist, welche doch
die Handlungen und Meinungen unsers Lebens bestimmen müssen" — diese
Bemerkung hat insofern eine für die Erziehung allgemeine Giltigkeit, als ja
die Mathematik auf dem Gymnasium überhaupt nur eine formal bildende Kraft
hat und haben soll; und sodann sind, wie die Erfahrung lehrt, die meisten von
den Schülern, die das Gymnasium bis zur Prima gefördert hat, gerade nicht
sonderlich mit der Anlage für das mathematische Fach ausgerüstet. Die mathe¬
matisch begabten Schüler suchen meist die Realschule auf. Wegen dieses häufig
vorkommenden Mangels an mathematischen Anlagen bei den sonst tüchtigste«
Schülern tritt oft das manchen verblüffende, aber im Grunde sehr erklärliche
Ergebnis zu Tage, daß, je weiter in der Prima mit der Mathematik fortge¬
schritten wird, desto verwirrter die Köpfe vieler auf diesem Gebiete werden.
Erklärlich ist das. In dem Alter, in welchem die größere Anzahl der Primaner
steht, taugt es nicht mehr, deu Geist mit einer Arbeit zu beladen, die heterogen
mit der Anlage ist. Es wird das aber vielfach verkannt oder nicht zugestanden,,
besonders von den mathematischen Lehrern selbst. Sie empfinden bei diesem
Urteil so, als ob darin für ihre Wissenschaft eine Geringschätzung läge, woran
kein Mensch denkt und denken kann. Denn die Mathematik und die Natur¬
wissenschaften, die ohne sie nichts sind, sind in unsrer heutigen Welt die «iArm-
tnrg, tonixoris. Wer wollte da so thöricht sein und gering von einer Wissen¬
schaft denken, die die Zeit beherrscht! Er spräche sich selbst das Urteil. Aber
etwas andres ist die Frage, ob sie in die oberste Klasse des Gymnasiums als
„obligatorischer" Unterrichtsgegenstand paßt. Das ist zu bestreiten. „Fakul¬
tativ" aber muß sie allerdings gelehrt werde» in der Prima des Gymnasiums.
Denn das Gymnasium muß denen, die dieses Fach und was damit zusammen¬
hängt, das Gebiet der Naturwissenschaften, später zum Bernfsstudium erwähle»
wollen, die für die Universität nötige Vorbereitung bieten, gerade so, wie es sie
dem Theologen mit dein Hebräischen, dem Neuphilologen mit dem Englischen bietet.


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[0420] Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klassen des Gymnasiums. muß, die häusliche Arbeit wenig oder nichts zu leisten hat. Wo aber dieser Unterricht die Höhe einnimmt, die er einnehmen kann und soll, da ist er, was seinen Wert anlangt, nichts Nebensächliches, sondern von der größten Bedeutung.' Er steht als Bildungsmittel geradezu neben den alten Sprachen. Man weist vielfach jetzt der Mathematik diese Stellung zu; aber das entspricht nicht dem innersten Wesen des Gymnasiums. Für dieses sind mir die mathematischen Grundlagen, weil und soweit sie zur allgemeine» Bildung gehörig sind, zu geben, mehr nicht. In Prima sollte darum der mathematische Unterricht nicht mehr „obligatorisch," sondern nur „fakultativ" sein. Denn erstens hat die Be¬ merkung, die der große Geschichtsschreiber Gibbon in seinem I-lig über seiue mathematischen Studien machte, wenn er sagt: „Ich kann keineswegs beklagen, daß ich von den mathematischen Studien abstand (etwa im siebzehnten Jahre), bevor meine Seele durch die Gewohnheit strenger Beweisführung verhärtete, die so gefährlich für die feineren Gefühle moralischer Evidenz ist, welche doch die Handlungen und Meinungen unsers Lebens bestimmen müssen" — diese Bemerkung hat insofern eine für die Erziehung allgemeine Giltigkeit, als ja die Mathematik auf dem Gymnasium überhaupt nur eine formal bildende Kraft hat und haben soll; und sodann sind, wie die Erfahrung lehrt, die meisten von den Schülern, die das Gymnasium bis zur Prima gefördert hat, gerade nicht sonderlich mit der Anlage für das mathematische Fach ausgerüstet. Die mathe¬ matisch begabten Schüler suchen meist die Realschule auf. Wegen dieses häufig vorkommenden Mangels an mathematischen Anlagen bei den sonst tüchtigste« Schülern tritt oft das manchen verblüffende, aber im Grunde sehr erklärliche Ergebnis zu Tage, daß, je weiter in der Prima mit der Mathematik fortge¬ schritten wird, desto verwirrter die Köpfe vieler auf diesem Gebiete werden. Erklärlich ist das. In dem Alter, in welchem die größere Anzahl der Primaner steht, taugt es nicht mehr, deu Geist mit einer Arbeit zu beladen, die heterogen mit der Anlage ist. Es wird das aber vielfach verkannt oder nicht zugestanden,, besonders von den mathematischen Lehrern selbst. Sie empfinden bei diesem Urteil so, als ob darin für ihre Wissenschaft eine Geringschätzung läge, woran kein Mensch denkt und denken kann. Denn die Mathematik und die Natur¬ wissenschaften, die ohne sie nichts sind, sind in unsrer heutigen Welt die «iArm- tnrg, tonixoris. Wer wollte da so thöricht sein und gering von einer Wissen¬ schaft denken, die die Zeit beherrscht! Er spräche sich selbst das Urteil. Aber etwas andres ist die Frage, ob sie in die oberste Klasse des Gymnasiums als „obligatorischer" Unterrichtsgegenstand paßt. Das ist zu bestreiten. „Fakul¬ tativ" aber muß sie allerdings gelehrt werde» in der Prima des Gymnasiums. Denn das Gymnasium muß denen, die dieses Fach und was damit zusammen¬ hängt, das Gebiet der Naturwissenschaften, später zum Bernfsstudium erwähle» wollen, die für die Universität nötige Vorbereitung bieten, gerade so, wie es sie dem Theologen mit dein Hebräischen, dem Neuphilologen mit dem Englischen bietet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/420>, abgerufen am 23.07.2024.