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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums.

Nun ist darüber wohl bei allen Sachkundigen kein Streit, daß es die Auf¬
gabe des Gymnasiums in dieser Zeit ist, das "geistige Band" in der Hand zu
behalten, die Synthese und gegenüber dem mikroskopischen Denken dasjenige
Denken zu Pflegen, das, wie Hermann Lotze sagt, Rechenschaft zu geben sucht
von einer Welt der Werte und des Guten. Nicht als ob damit Abstand ge¬
nommen werden sollte von der Betrachtung der natürlichen Weltordnung, von
dem nachzuweisenden Zusammenhang in ihr und den Gesetzen, nach welchen die
Kette der sich bedingenden Ereignisse sich bildet, aber indem das Gymnasium
die einseitige Kenntnis des Natnrzusammenhanges, selbst wenn sie, was doch die
Schule nicht kann, in umfassender Weise geboten werden könnte, als nur frag¬
mentarisch und darum für eine harmonische Ausbildung als mangelhaft be¬
trachtet, hält es dies vielmehr als sein schönes Erbe fest, die Erkenntnis zu
fördern, daß "der göttliche Gedanke, der die Gestaltungsformen der Welt wirkt,
in unauflöslicher Verkettung mit dem Reiche der Wertbestimmungen und des
Guten steht." Für das humanistische Gymnasium wird die Frage: was die
allgemeinen Gesetze des Naturlaufes sind, immer mit der höheren zugleich zu
stellen sein, wie diese natürlichen Gesetze mit der auch sie wirkenden sittlichen
Weltordnung, dem göttlichen Gedanken, zusammenhängen, und in welcher Be¬
ziehung sie zu dem ewig Wertvollen, dem Guten und Schönen stehen. Die
Gesetze dieses Reiches des ewig Wertvollen, d. h. das Gesetz der Freiheit gegen¬
über dem Gesetze der Notwendigkeit, das Gesetz des Geistes gegenüber dem Gesetze
der Natur in die denkende Betrachtung zu erheben und damit zum freien Besitze
einer edeln, über das Gemeine und den Stumpfsinn alles bloß Irdischen hin¬
ausgehobenen Persönlichkeit zu machen, das ist vorzugsweise die Aufgabe des
humanistischen Gymnasiums, wenn wir diese Aufgabe prinzipiell, also vom philo¬
sophischen Gesichtspunkte aus, erfassen. Ein solches sittliches Denken setzt Goethe
dem mikroskopischen gegenüber und nennt es das plastische.

Dieses plastische Denken nun finden wir zunächst in allen bedeutenden Er¬
zeugnissen des antiken Geistes. Darum lesen wir im Gymnasium die Klassiker
und bestimmen sie zum Hauptmittel aller freien Menschenbildung, aller liberalen
Erziehung, zum Bildner des morio lidsralitoi' säucaiiäus, ganz allein darum,
weil in den Produkten ihrer Bildung die Plastik des sittlichen Geistes in mensch¬
lich vollendeten Formen auftritt. Hier wirkt diese sittliche Plastik, wie sie be¬
sonders bei den Griechen zum Ausdruck kommt, ordnend, müßigend, reinigend,
befreiend. Und zwar ist es nicht der sittliche Gedanke allein, dem die reinigende
und befreiende Macht zukommt, es sind diese bestimmten in klarer Größe und
maßvoller Schönheit sich gebenden Persönlichkeiten, diese schönen, reinen Menschen¬
kunstwerke, deren eigenster Abdruck nur die durch ihren Meißel oder ihr Wort
geschaffenen Kunstwerke sind.

Aber es ist doch nur die eine Seite echten, wahren Menschentums, diese
Ausbildung zu freier Humanität, die den Geist ans seinen eignen Tiefen herauf-


Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums.

Nun ist darüber wohl bei allen Sachkundigen kein Streit, daß es die Auf¬
gabe des Gymnasiums in dieser Zeit ist, das „geistige Band" in der Hand zu
behalten, die Synthese und gegenüber dem mikroskopischen Denken dasjenige
Denken zu Pflegen, das, wie Hermann Lotze sagt, Rechenschaft zu geben sucht
von einer Welt der Werte und des Guten. Nicht als ob damit Abstand ge¬
nommen werden sollte von der Betrachtung der natürlichen Weltordnung, von
dem nachzuweisenden Zusammenhang in ihr und den Gesetzen, nach welchen die
Kette der sich bedingenden Ereignisse sich bildet, aber indem das Gymnasium
die einseitige Kenntnis des Natnrzusammenhanges, selbst wenn sie, was doch die
Schule nicht kann, in umfassender Weise geboten werden könnte, als nur frag¬
mentarisch und darum für eine harmonische Ausbildung als mangelhaft be¬
trachtet, hält es dies vielmehr als sein schönes Erbe fest, die Erkenntnis zu
fördern, daß „der göttliche Gedanke, der die Gestaltungsformen der Welt wirkt,
in unauflöslicher Verkettung mit dem Reiche der Wertbestimmungen und des
Guten steht." Für das humanistische Gymnasium wird die Frage: was die
allgemeinen Gesetze des Naturlaufes sind, immer mit der höheren zugleich zu
stellen sein, wie diese natürlichen Gesetze mit der auch sie wirkenden sittlichen
Weltordnung, dem göttlichen Gedanken, zusammenhängen, und in welcher Be¬
ziehung sie zu dem ewig Wertvollen, dem Guten und Schönen stehen. Die
Gesetze dieses Reiches des ewig Wertvollen, d. h. das Gesetz der Freiheit gegen¬
über dem Gesetze der Notwendigkeit, das Gesetz des Geistes gegenüber dem Gesetze
der Natur in die denkende Betrachtung zu erheben und damit zum freien Besitze
einer edeln, über das Gemeine und den Stumpfsinn alles bloß Irdischen hin¬
ausgehobenen Persönlichkeit zu machen, das ist vorzugsweise die Aufgabe des
humanistischen Gymnasiums, wenn wir diese Aufgabe prinzipiell, also vom philo¬
sophischen Gesichtspunkte aus, erfassen. Ein solches sittliches Denken setzt Goethe
dem mikroskopischen gegenüber und nennt es das plastische.

Dieses plastische Denken nun finden wir zunächst in allen bedeutenden Er¬
zeugnissen des antiken Geistes. Darum lesen wir im Gymnasium die Klassiker
und bestimmen sie zum Hauptmittel aller freien Menschenbildung, aller liberalen
Erziehung, zum Bildner des morio lidsralitoi' säucaiiäus, ganz allein darum,
weil in den Produkten ihrer Bildung die Plastik des sittlichen Geistes in mensch¬
lich vollendeten Formen auftritt. Hier wirkt diese sittliche Plastik, wie sie be¬
sonders bei den Griechen zum Ausdruck kommt, ordnend, müßigend, reinigend,
befreiend. Und zwar ist es nicht der sittliche Gedanke allein, dem die reinigende
und befreiende Macht zukommt, es sind diese bestimmten in klarer Größe und
maßvoller Schönheit sich gebenden Persönlichkeiten, diese schönen, reinen Menschen¬
kunstwerke, deren eigenster Abdruck nur die durch ihren Meißel oder ihr Wort
geschaffenen Kunstwerke sind.

Aber es ist doch nur die eine Seite echten, wahren Menschentums, diese
Ausbildung zu freier Humanität, die den Geist ans seinen eignen Tiefen herauf-


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[0416] Die Bedeutung des Religionsunterrichts in den oberen Klaffen des Gymnasiums. Nun ist darüber wohl bei allen Sachkundigen kein Streit, daß es die Auf¬ gabe des Gymnasiums in dieser Zeit ist, das „geistige Band" in der Hand zu behalten, die Synthese und gegenüber dem mikroskopischen Denken dasjenige Denken zu Pflegen, das, wie Hermann Lotze sagt, Rechenschaft zu geben sucht von einer Welt der Werte und des Guten. Nicht als ob damit Abstand ge¬ nommen werden sollte von der Betrachtung der natürlichen Weltordnung, von dem nachzuweisenden Zusammenhang in ihr und den Gesetzen, nach welchen die Kette der sich bedingenden Ereignisse sich bildet, aber indem das Gymnasium die einseitige Kenntnis des Natnrzusammenhanges, selbst wenn sie, was doch die Schule nicht kann, in umfassender Weise geboten werden könnte, als nur frag¬ mentarisch und darum für eine harmonische Ausbildung als mangelhaft be¬ trachtet, hält es dies vielmehr als sein schönes Erbe fest, die Erkenntnis zu fördern, daß „der göttliche Gedanke, der die Gestaltungsformen der Welt wirkt, in unauflöslicher Verkettung mit dem Reiche der Wertbestimmungen und des Guten steht." Für das humanistische Gymnasium wird die Frage: was die allgemeinen Gesetze des Naturlaufes sind, immer mit der höheren zugleich zu stellen sein, wie diese natürlichen Gesetze mit der auch sie wirkenden sittlichen Weltordnung, dem göttlichen Gedanken, zusammenhängen, und in welcher Be¬ ziehung sie zu dem ewig Wertvollen, dem Guten und Schönen stehen. Die Gesetze dieses Reiches des ewig Wertvollen, d. h. das Gesetz der Freiheit gegen¬ über dem Gesetze der Notwendigkeit, das Gesetz des Geistes gegenüber dem Gesetze der Natur in die denkende Betrachtung zu erheben und damit zum freien Besitze einer edeln, über das Gemeine und den Stumpfsinn alles bloß Irdischen hin¬ ausgehobenen Persönlichkeit zu machen, das ist vorzugsweise die Aufgabe des humanistischen Gymnasiums, wenn wir diese Aufgabe prinzipiell, also vom philo¬ sophischen Gesichtspunkte aus, erfassen. Ein solches sittliches Denken setzt Goethe dem mikroskopischen gegenüber und nennt es das plastische. Dieses plastische Denken nun finden wir zunächst in allen bedeutenden Er¬ zeugnissen des antiken Geistes. Darum lesen wir im Gymnasium die Klassiker und bestimmen sie zum Hauptmittel aller freien Menschenbildung, aller liberalen Erziehung, zum Bildner des morio lidsralitoi' säucaiiäus, ganz allein darum, weil in den Produkten ihrer Bildung die Plastik des sittlichen Geistes in mensch¬ lich vollendeten Formen auftritt. Hier wirkt diese sittliche Plastik, wie sie be¬ sonders bei den Griechen zum Ausdruck kommt, ordnend, müßigend, reinigend, befreiend. Und zwar ist es nicht der sittliche Gedanke allein, dem die reinigende und befreiende Macht zukommt, es sind diese bestimmten in klarer Größe und maßvoller Schönheit sich gebenden Persönlichkeiten, diese schönen, reinen Menschen¬ kunstwerke, deren eigenster Abdruck nur die durch ihren Meißel oder ihr Wort geschaffenen Kunstwerke sind. Aber es ist doch nur die eine Seite echten, wahren Menschentums, diese Ausbildung zu freier Humanität, die den Geist ans seinen eignen Tiefen herauf-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/416>, abgerufen am 23.07.2024.